Einzelfallstudie

Einzelfallstudie

Von Fallstudie wird in zweierlei Zusammenhängen gesprochen, einerseits im Rahmen der empirischen/qualitativen Sozialforschung, anderseits im Zusammenhang mit handlungs- und entscheidungsorientiertem Unterricht.

Inhaltsverzeichnis

Sozialforschung

Hier dient die Fallstudie der Erforschung von Einzelpersonen oder Gruppen. Durch die Fallstudie versucht der Forscher explorativ und beschreibend Aussagen über den Untersuchungsgegenstand zu erlangen.

Durch die Methode der Dichten Beschreibung wird versucht ein holistisches Verständnis des Untersuchungsgegenstandes unter der Einbeziehung von so vielen als relevant erkannten Variablen wie möglich zu erreichen. Fallstudien werden mit Methoden der Ethnographie, Feldstudie und teilnehmenden Beobachtung in Verbindung gebracht.

Ob die dabei gewonnenen Erkenntnisse übertragbar sind bzw. zur Gewinnung repräsentativer Daten dienen können, hängt u. a. davon ab, welches Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem zugrunde gelegt wird. Wird das Allgemeine dem Besonderen gegenübergestellt, dann liegt der Stellenwert der Fallanalyse der der Beschaffung von Hypothesen zu Beginn einer Forschung, die auf Generalisierung auf der Basis statistischer Repräsentativität angelegt ist (Hypothesengenerierungs-Modell). Umgekehrt zu dieser Position lassen sich Fallanalysen finden, in denen von allgemeinen Aussagen abgesehen wird. Es wird stattdessen die Auffassung vertreten, dass der Einzelfall sich selbst genüge (Sozialreportage-Modell).

Handlungs- und Entscheidungstheorie

Um den Unterricht der Jugendlichen- wie der Erwachsenenbildung zu bereichern, werden häufig Fallstudien eingesetzt. Die Lösung wird dabei in der Regel offen gelassen, die Lernenden sollen selbst ein plausibles Ergebnis erarbeiten. Auch gibt es Fallstudien, welche die Lösung mitliefern und die Lernenden zur Diskussion darüber und zur Suche nach Alternativen ermuntern sollen. Eine Fallstudie (Fall, case, case study) ist daher eine für Unterrichtszwecke erstellte Schilderung einer Situation und ihrer Einflussfaktoren, welche sowohl die aktive Auseinandersetzung mit dem Inhalt als auch konkretes Handeln des Lernenden bezweckt. Eine solche Fallstudie ist daher nicht Synonym für Beispiel.

Fallarten

  • Problemfindungsfall (case study method)
  • Entscheidungsfall (case method)
  • Beurteilungsfall (case problem method, stated problem method)
  • Informationsfall (case incident method)
  • Untersuchungsfall (stated problem method)

Die Fallarten unterscheiden sich durch folgende Lerneffekte:

  • Information: Die für die Falllösung relevanten Daten können vollständig, lückenhaft oder auch gar nicht gegeben sein.
  • Problem: Das der Fallstudie zugrunde liegende Problem bzw. die zugrunde liegenden Probleme können ausdrücklich benannt werden. Im Gegensatz dazu kann aber auch der Lernende gefordert sein, die Probleme eigenständig zu erkennen und ihre Relevanz abzuwägen.
  • Lösung: Lösungsalternativen sind vom Lernenden zu suchen, er kann aufgefordert sein, sich für eine zu entscheiden. Ebenso kann aber die Lösung vorweggenommen und zum Diskussionsgegenstand gemacht werden.

Ursprung der Fallmethode

Die „Case Study Method“, also direkt übersetzt die Fallstudienmethode, hat ihren Ursprung in der Ausbildung von Studenten der Rechtswissenschaften an der Harvard Graduate School of Business Administration (vgl. Schönfeld, Hanns-Martin in: Die Führungsausbildung im betrieblichen Funktionsgefüge, 1967). Nach einem Bericht des Harvard Magazine aus dem Jahre 2003 von Davis A. Garvin, wurde die Fallstudie bereits im Jahre 1870 durch einen neuen Dozenten an der Law School eingeführt. Dieser war der Überzeugung, dass in den Rechtswissenschaften Gesetzmäßigkeiten herrschen, die durch praktische Gerichtssituationen an Beispielen induktiv vermittelt werden konnten. Er ersetzte die ursprüngliche Vortrags- und Drillmethode durch eine berufungsfähige, exemplarische Unterrichtsmethode, der Case Study Method. Der Dozent setzte zudem die sokratische Frage-Antwort Technik ein, um sicherzustellen, dass die Unterrichtszeit effizient genutzt wurde (vgl. Harvard Magazin, September/Oktober 2003, S.56).

Die Harvard Business School folgte im Jahre 1920 mit ersten Fallstudien. Der stellvertretende Dekan, ein Absolvent der Law School, setzte sich für die Einführung der Fallstudienmethode ein. Nachdem ein Professor überzeugt wurde, eine erste Sammlung von Fällen anzulegen, wurde die Sammlung durch zusätzliche Mittel des Dekans erweitert (ebd.). Heute zählt die Sammlung an Fallstudien an der Harvard Business School mehr als 1000 erprobte Exemplare (vgl. Kaiser, 1983, S.12).

Im Jahre 1985 folgte die Harvard Medical School der Case Study Tradition. Auch hier war die Überzeugung, dass ganz typische und repräsentative Beispiele aus der Praxis sich gut eigenen, um Studenten für die Praxis zu wappnen.

Typen von Fallstudien

Man kann verschiedene Arten von Fallbeispielen unterscheiden:

  • Illustrative Fallbeispiele
  • Explorative Fallbeispiele
  • Kumulative Fallbeispiele
  • Fallbeispiele kritischer Ereignisse
  • Individuelle Theorien
  • Organisationale Theorien
  • Soziale Theorien

Daten in Fallstudien

Bei Yin (2003, S. 85 ff.) werden sechs verschiedene Arten nutzbarer und zu triangulierender Datenquellen im Rahmen von Fallstudien unterschieden:

  1. Dokumente
  2. Archiveinträge
  3. Interviews
  4. Direkte Beobachtung
  5. Teilnehmende Beobachtung
  6. Artefakte

Literatur

  • Andreas Borchardt und Stephan E. Göthlich: Erkenntnisgewinnung durch Fallstudien. In: Sönke Albers, Daniel Klapper, Udo Konradt, Achim Walter und Joachim Wolf (Hrsg.): Methodik der empirischen Forschung. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Gabler, Wiesbaden 2007, S. 33–48, ISBN 978-3-8349-0469-0.
  • Thomas Brüsemeister: Qualitative Forschung: Ein Überblick. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2000.
  • Kathleen M. Eisenhardt: Building Theories from Case Study Research. In: Academy of Management Review. Band 14, 1989, Nr. 4, S. 532–550.
  • John Gerring: Single-Outcome Studies. In: International Sociology. 2006, Heft 5, S. 707–734.
  • Roland W. Scholz und Olaf Tietje: Embedded Case Study Methods. Integrating Quantitative and Qualitative Knowledge. Sage, Thousand Oaks [u. a.] 2002: ISBN 0761925538.
  • Robert E. Stake: The Art of Case Study Research. Sage, Thousand Oaks [u. a.] 1995, ISBN 0803957661.
  • Robert K. Yin: Case Study Research. Design and Methods (Applied Social Research Methods Series, Band 5). 3. Auflage, Sage, Thousand Oaks u. a. 2003, ISBN 0761919465.

Fallstudien im Unterricht

  • Franz-Josef Kaiser: Grundlagen der Fallstudiendidaktik – Historische Entwicklung – Theoretische Grundlagen – Unterrichtliche Praxis. In: Franz-Josef Kaiser (Hrsg.): Die Fallstudie – Theorie und Praxis der Fallstudiendidaktik. Band 6, Bad Heilbrunn, 1983, S. 9–34
  • Franz-Josef Kaiser und H. Kaminski: Methodik des Ökonomie-Unterrichts. Grundlagen eines handlungsorientierten Lernkonzepts. Bad Heilbrunn 1999
  • Davis A. Garvin: Making The Case. In: Harvard Magazine. Heft 106, 2003, S. 56 ff., im Internet unter: http://www.harvardmagazine.com/on-line/090322.html 1. Oktober 2006
  • Peter Heimerl und Oliver Loisel: Lernen mit Fallstudien in der Organisations- und Personalentwicklung. Anwendungen, Fälle und Lösungshinweise. Linde, Wien 2005.
  • Michael Bannach: Selbstbestimmtes Lernen. Baltmannsweiler 2002, S. 141ff.
  • R. W. Scholz, D. J. Lang, A. Wiek, A. I. Walter und M. Stauffacher: Transdisciplinary Case Studies as a Means of Sustainability Learning. Historical Framework and Theory. In: International Journal of Sustainability in Higher Education. Band 7, Nr. 3, 2006, S. 226–251.

Weblinks


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