Diskurstheorie

Diskurstheorie

Diskurstheorien versuchen zu beschreiben, wie Folgen von Äußerungen konstituiert werden. Die Form der Untersuchung kann philosophisch, linguistisch oder auch literaturwissenschaftlich sein.

Inhaltsverzeichnis

Philosophie

Der Begriff Diskurs wird heute vielfach als philosophischer Terminus verwendet. Allerdings stehen hier mehrere Verwendungsweisen unverbunden nebeneinander:

  • Jürgen Habermas sah als Vertreter einer linguistischen Wende in der Philosophie die Sprachfähigkeit als das entscheidende Kennzeichen des Menschen. Er entwickelte in diesem Kontext in Zusammenarbeit mit Karl-Otto Apel eine Diskursethik. Diskurs ist bei ihm der „Schauplatz kommunikativer Rationalität“. Was jeweils als vernünftig gilt, ist die intersubjektive, von allen Teilnehmern einer Gemeinschaft anerkannte Wahrheit. Habermas’ Diskurstheorie hat auch einen gesellschaftstheoretischen Anspruch (→Diskurstheorie des Rechts).
  • Michel Foucault hingegen untersucht als Poststrukturalist den Wandel der Denksysteme. Als Diskurs bezeichnet er viel grundsätzlicher den Vorgang der Herausbildung jener Wahrheiten, „in denen wir uns unser Sein zu denken geben“. Was jeweils als „vernünftig“ gilt, ist die Wirkung von „unpersönlichen und kontingenten Machtwirkungen“.
  • Jean-François Lyotard betrachtet Diskurse als eine Vielheit verschiedener Diskursformen, die als solche anzuerkennen sind und nicht durch eine universelle Urteilsregel hierarchisiert werden können.

Jürgen Habermas

Grundlegend für die Diskurstheorie im Sinne von Habermas ist ein bestimmtes Verständnis von Sprache und Verständigung, wie es Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt hat. Danach wird unterschieden zwischen

  • kommunikativem Handeln, in Form regelmäßig verständigungsorientierter Äußerungen, sogenannten Sprechakten, und
  • strikt eigeninteressiertem „strategischem Handeln“.

Nach diesem Verständnis verhält sich das strategische Handeln zum kommunikativen Handeln, das den Originalmodus des Sprechens darstellt, parasitär.

Im kommunikativen Handeln erhebt ein Sprecher regelmäßig Geltungsansprüche, die je nach Aussage als solche der (propositionalen) Wahrheit, der (normativen) Richtigkeit und der (subjektiven) Wahrhaftigkeit erscheinen und auf das Einverständnis seines Gegenübers abzielen. Wird dieses Ziel verfehlt, wird also kein Einverständnis erreicht, so ist dies Ausgangspunkt für den Diskurs, der die einerseits erhobenen und andererseits kritisierten Geltungsansprüche problematisiert und „als Berufungsinstanz des kommunikativen Handelns“ fungiert.

Der Diskurs gewährleistet die Möglichkeit eines Konsenses durch die ihn konstituierenden Bedingungen, die unausweichlich, sprachnotwendig von jedem der Teilnehmer anerkannt werden. Sie wurden versuchsweise in „Diskursregeln“ formuliert und zielen auf die Herstellung einer „idealen Sprechsituation“ ab, in der nichts weiter herrscht als „der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments und das Motiv der kooperativen Wahrheitssuche“.

„Unter dem Stichwort ‚Diskurs‘ führe ich die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation ein, in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden.“

Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien[1]

Jürgen Habermas bezeichnet in seiner Theorie des kommunikativen Handelns den Diskurs als Prozess einer Aushandlung von individuellen Geltungsansprüchen der einzelnen Akteure (bei Habermas auch als „Aktoren“ bezeichnet). Ein Merkmal der Sprache ist dabei nach Habermas die ihr innewohnende Rationalität. Die Ergebnisse einer Kommunikation – wenn sie frei ist von Verzerrungen durch Macht oder Hierarchien – sind ihm zufolge zwangsläufig rational. Als Ideal, als beste Versicherung für wahrhaftige Erkenntnisse, sieht er somit den „herrschaftsfreien Diskurs“ – aufgebaut auf Diskursnormen (Prinzipielle Gleichheit der Teilnehmer, Prinzipielle Problematisierbarkeit aller Themen und Meinungen, Prinzipielle Unausgeschlossenheit des Publikums) und authentischen Gefühlen. Die dadurch erreichte kommunikative Realität soll das beste Argument zum Gewinn bringen – auf welches weiter aufgebaut werden kann.

Habermas’ Diskursbegriff besteht dabei in Teilen aus der psychoanalytischen Tradition der US-amerikanischen discourse analysis (Gesprächsanalyse). Jürgen Link sieht dabei als ein zweites Element den aufklärerischen „Begriff der Rationalität von Interventionen in öffentlichen Debatten“. Somit zielte Habermas mit diesen dialogischen und interaktionistischen Elementen zunächst auf „eine rationale, auf ungezwungenen Konsens zielende Debatte“. Später nähert sich Habermas mit seinem Diskursbegriff Michel Foucault an und spricht von speziellen bzw. spezialisierten Diskursen. Im Gegensatz zu Foucault „beharrt er […] auf der Priorität einer letztlich souveränen Intersubjektivität gegenüber dem jeweiligen Diskurs. Vereinfacht könnte man sagen: Bei Habermas konstituiert die Intersubjektivität den Diskurs, bei Foucault wird sie als je spezifisch-historische allererst von Diskursen konstituiert“.

Michel Foucault

Der aktuell populäre Begriff „Diskurs“ bezieht sich jedoch nicht auf Habermas oder etwa die Theorien der Gesprächs- und Konversationsanalyse der 1970er Jahre. Im Sinne einer Diskurstheorie wird der Begriff heute meist in Anlehnung an das Konzept der Diskursanalyse von Michel Foucault verwendet. Grob vereinfacht meint Foucault mit Diskurs das in der Sprache aufscheinende Verständnis von Wirklichkeit einer jeweiligen Epoche. Die Regeln des Diskurses definieren für einen bestimmten Zusammenhang oder ein bestimmtes Wissensgebiet, was sagbar ist, was gesagt werden soll, was nicht gesagt werden darf und von wem es wann in welcher Form gesagt werden darf (z.B. nur in Form einer wissenschaftlichen Aussage).

Die sogenannte „diskursive Praxis“ setzt sich zusammen aus

Beispiel: An einem Beispiel soll die Möglichkeit zur konstruktiven Verwendung des Diskursbegriffs deutlich gemacht werden: Der Begriff „Ausländerflut“ ist eine Konstante im „Immigrations-Diskurs“ in Deutschland, ein Begriff, der impliziert, Immigranten träten in „Fluten“ und damit z. B. als Naturphänomen und Naturkatastrophe auf. In der Analyse des Diskurses zeigt sich, in welcher Weise wir über die Welt nachdenken – in diesem Fall über das als Immigration problematisierte Phänomen der Überschreitung (eigentlich auch nur gedachter) Grenzen. Wenn Einwanderung häufig in Verbindung mit Flut in unserem Denken und Reden auftaucht, so hat das tiefergehende Bedeutung.

In diesem Zusammenhang heißt dann „Diskurs“ nicht mehr nur „Diskussion“, sondern eher so etwas wie „sprachlich produzierter Sinnzusammenhang, der eine bestimmte Vorstellung forciert, die wiederum bestimmte Machtstrukturen und Interessen gleichzeitig zur Grundlage hat und erzeugt“.

Soweit „Diskurs“ in der öffentlichen Diskussion mit „Diskussion“ gleichgesetzt wird, geht ein entscheidender Bedeutungsaspekt verloren: die Eigenschaft des Diskurses, Realität zu erzeugen und zu strukturieren.[2]

Jean-François Lyotard

Lyotard unterscheidet verschiedene Diskursarten (genres de discourse): die kognitive (oder wissenschaftliche), die ökonomische, die philosophische und die narrative Art des Diskurses. Zugleich hält es fest: „Es existiert keine Diskursart, deren Hegemonie über die andere gerecht wäre.“ Beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Diskursarten entspinnt sich unvermeidlich ein Widerstreit. Den Widerstreit (différend) unterscheidet Lyotard vom Rechtsstreit (litige). Derart strebt Lyotard eine Philosophie des Dissens an, die den „Widerstreit“ unterschiedlicher Diskurs- und Wissensformen nicht unter einer allumfassenden Idee zu versöhnen sucht. Lyotard diagnostiziert den Niedergang der universalistischen Diskurse, d. h. derjenigen Argumentationssysteme, die eine Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Es gibt keine übergeordnete Urteilsregel.

Zugleich behandelt Lyotard die Frage der Legitimierung. Im Diskurs sieht er ein Mittel, Legitimierung zu schaffen, doch dürfe dieser Diskurs nicht durch Erzählen geführt werden. Lyotard spricht vom „Ende der Großen Erzählungen“, die sich – nicht zuletzt nach Auschwitz – selbst diskreditiert hätten. Den Diskurs begreift Lyotard zugleich nicht als das Ende des Legitimierungsprozesses. Auf solche Weise käme der Dialog an kein Ende. Das postmoderne Wissen „findet seinen Grund nicht in der Übereinstimmung der Experten, sondern in der Paralogie der Erfinder“. Paralogie bedeutet wörtlich übersetzt „Widervernünftigkeit“. Aussagen lassen sich nach Lyotard nicht dadurch legitimieren, dass sie einen Konsens ermöglichen. Damit widerspricht er Habermas. Den Konsens als Ziel der Diskussion anzusehen, sei blanke Aggression. Allein die grundsätzliche Heteromorphie der wissenskonstituierenden Aussagen und die Vielzahl von Lebensformen anzuerkennen führt zur Herausstellung der Nichtübereinstimmung als gemeinsames Wissen. Dies ermöglicht zugleich die Hervorbringung von bisher Unbekanntem, worüber im Diskurs geschwiegen, was noch nicht in Sprachform gebracht worden ist.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. In: Helmut Fahrenbach (Hrsg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Neske, Pfullingen 1973, ISBN 3-7885-0037-9, S. 211–265, hier S. 214.
  2. Diskurs. In: Fabian Schmidt: Handbuch der Globalisierung. Berlin 2002, zuletzt abgerufen am 23. Juni 2008.

Literatur

  • Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses [1970], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991
  • Michel Foucault: Archäologie des Wissens [1969], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981
  • Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, Fink, München 1989, ISBN 3-77052-599-X
  • Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, (Hg. von Peter Engelmann), Wien 2006 (Passagen Verlag) - 5. unveränderte Auflage, frz. Originalausgabe von 1979 La condition postmoderne, ISBN 3-85165-683-0
  • Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung; Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft), Frankfurt a.M. 1981, ISBN 3-518-28775-3.

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