Dieter Kunzelmann

Dieter Kunzelmann

Dieter Kunzelmann (* 14. Juli 1939 in Bamberg) ist politischer Aktivist, Happening-Künstler und Verfasser von kunst- und gesellschaftstheoretischen Manifesten und Artikeln. Besondere Bekanntheit erlangte er als Aktivist der 68er-Bewegung. Später begann er eine politische Karriere in der Berliner Landespolitik, 1975 als Kandidat der erfolglos kandidierenden KPD-AO und 1983 als Abgeordneter der Alternativen Liste im Abgeordnetenhaus von Berlin.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Kunzelmann wurde Anfang der 1960er Jahre Mitglied der Münchener Künstlergruppe SPUR und der Situationistischen Internationale. Nach Auflösung der Gruppe wurde er unter anderem Gründer diverser subversiver Gruppen, wie der Münchner „subversiven Aktion“, und wurde in diesem Zusammenhang vor allem durch von ihm mitorganisierte Happenings und Flugblatt-Aktionen bekannt. Er wurde nach seinem Weggang aus München stadtbekannter Berliner Aktivist der 68er-Bewegung und war kurzzeitig – bis zu seinem Ausschluss – Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), obwohl er kein Student war. Er war Mitgründer der Kommune I (K1), des Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen und der Untergrundorganisation Tupamaros West-Berlin.

Am 1. Januar 1967 zog er neben Fritz Teufel und Ulrich Enzensberger als einer der ersten in die Kommune I. Sie wurde zunächst in der Atelierwohnung des Schriftstellers Uwe Johnson in Berlin-Friedenau gegründet, zog dann in eine Altbauwohnung an der Kaiser-Friedrich-Straße am Stuttgarter Platz in Berlin-Charlottenburg und später nach Berlin-Moabit. Dort erprobte er neue Lebensweisen und übernahm die öffentliche Rolle als Chef-Provokateur.[1]

Der Historiker Wolfgang Kraushaar warf Kunzelmann im Jahr 2005 vor (siehe Literatur), eine führende Rolle beim Anschlagsversuch auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin zum Jahrestag der Novemberpogrome am 9. November 1969 durch die Tupamaros West-Berlin gespielt zu haben. Dies stützte er auf Aussagen des Haupttäters Albert Fichter[2] und eines weiteren ehemaligen Gruppenmitglieds.[3] Die Bombe stammte von Peter Urbach, einem V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes, der mit Kunzelmann befreundet und regelmäßig in der Kommune I anzutreffen war.[4] In einem offenen Brief hatte Dieter Kunzelmann, angeblich aus dem jordanischen Amman, den von vielen Linken heftig kritisierten Anschlagsversuch gerechtfertigt: Die deutsche Öffentlichkeit sei von einem „Judenknacks“ zu befreien;[5][6][7] um revolutionär zu werden, komme es vor allem darauf an, die „Vorherrschaft des Judenkomplexes“ in der Linken zu brechen.[8] In seiner 1998 erschienenen Autobiographie distanzierte Kunzelmann sich von dem Anschlag halbherzig: „Jedem Linken hätte eigentlich klar sein müssen, dass eine derartige Aktion keinerlei Sympathien für die (legitimen) Anliegen der Palästinenser zu wecken vermochte“.

Gegen Ende der 1960er-Jahre war er mehrmals in Haft. 1970 wurde er wegen versuchter Brandstiftung an der Villa des damaligen BZ-Chefredakteurs verhaftet. Kunzelmann saß über drei Jahre in Untersuchungshaft. Nach seiner Verurteilung wurde er während der Haft als Freigänger "Kandidat", aber nicht Mitglied der studentischen KPD in Berlin (vorm. KPD/AO). Nach der Haftentlassung 1975 machte er eine Ausbildung zum Drucker.

1983 bis 1985 wurde er für knapp zwei Jahre Abgeordneter der Alternativen Liste im Berliner Abgeordnetenhaus. Kunzelmann hatte auch seine technokratisch-eitle Seite: so sammelte er akribisch ordnerweise alle Pressemeldungen, in denen er eine Rolle spielte. Anschließend arbeitete er als Archivar in der Anwaltskanzlei von Hans-Christian Ströbele.

In den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren machte er durch politische Stör-Aktionen und Eierwürfe von sich reden und erlangte in den Medien den Ruf eines „Polit-Clowns“. So bewarf Kunzelmann am 11. Oktober 1993 den Dienstwagen des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Eberhard Diepgen, beim Spatenstich am Potsdamer Platz mit einem Ei, was die Beschädigung der Windschutzscheibe nach sich zog. Hierfür wurde er zu einer fünfmonatigen Haftstrafe verurteilt. Die Berufungsverhandlung zu dieser Verurteilung fand im Dezember 1995 statt, zu welcher Eberhard Diepgen auch als Zeuge geladen war. Mit den Worten „Frohe Ostern, du Weihnachtsmann“[9] zerdrückte er während der Verhandlung am 20. Dezember 1995 auf dem Kopf Eberhard Diepgens ein Ei. Aufgrund dessen erhielt Kunzelmann zwei Wochen Ordnungshaft. Des Weiteren wurde er zu einer fünfmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Für den zweiten Eierangriff wurde Kunzelmann zu einer weiteren Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt; beide Verurteilungen wurden zu einer Gesamtstrafe zusammengezogen.[10]Dem Haftantritt entzog er sich durch Flucht. Am 3. April 1998 fingierte Kunzelmann durch eine Zeitungsanzeige seinen Freitod.[11] Im Juli 1999 tauchte er offiziell wieder auf, um seine Haftstrafe abzusitzen.

Zitat

„Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis: Der Spruch „Was geht mich der Vietnamkrieg an, wenn ich Orgasmusschwierigkeiten habe“ ist nicht von mir. Er fiel mal während einer Pressekonferenz im April 1967. Ich glaube, er stammt von Rainer Langhans – ich kann es aber nicht beschwören. Er wurde aber mir zugeschrieben, und ich habe es nie dementiert. Mir gefiel, daß sich dadurch viele Frauen aufgefordert fühlten, meine angeblichen Schwierigkeiten genauer zu überprüfen.“ (Stern 21/1999)

Schriften

  • Leisten Sie keinen Widerstand. Bilder aus meinem Leben. Transit Buchverlag, Berlin 1998, ISBN 3-88747-132-6

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. ZDF-heute: Nackte Hintern und Puddingbombe (Archivversion) (Archivversion vom 13. Oktober 2007)
  2. Philipp Gessler, Stefan Reinecke: „Wir haben das nicht ernst genommen.“ Interview mit Tilman Fichter. In: taz, 25. Oktober 2005, S.15–17
  3. Stefan Reinecke: Das abgespaltene Attentat. In: taz, 1. Juli 2005. Zitat: „[Kraushaar] … stützt dies auf plausibel klingende Aussagen von Albert Fichter und Annekatrin Brunn, die damals zu Kunzelmanns Gruppe gehörten.“
  4. Steffen Mayer und Susanne Opalka: Bombenterror gegen jüdische Gemeinde – nach 30 Jahren packt der Täter aus. rbb-online, 10. November 2005
  5. Shalom und Napalm, Benedict Maria Mülder, Kulturzeit/3sat, 29. Juni 2005
  6. Das abgespaltene Attentat, Stefan Reinecke, taz, 1. Juli 2005
  7. Tjark Kunstreich: Befreiung vom „Judenknacks“. In: konkret, August 2005
  8. Gerd Koenen: Arafats Macht schwindet. In: Die Zeit, Nr. 10/2002
  9. tagesspiegel.de
  10. STERN 21/1999, vom 19. Mai 1999, S. 60, ausführliches Interview
  11. Kiezspaziergang am 11.9.2004 vom Stuttgarter Platz bis zum Schloss Charlottenburg, berlin,de
  12. Vgl. Uwe Sonnenberg: Rezension zu: Reimann, Aribert: Dieter Kunzelmann. Avantgardist, Protestler, Radikaler. Göttingen 2009. In: H-Soz-u-Kult, 4. März 2010.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно решить контрольную?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Dieter Kunzelmann — (b. 1939[1]) is a German left wing activist. In the early 1960s he was a member of the Situationist inspired artists group Gruppe SPUR.[2] He was one of the founders of Kommune 1 in 1967.[3] At the end of the 1960s he was one of the leaders of… …   Wikipedia

  • Kunzelmann — Dieter Kunzelmann (* 14. Juli 1939 in Bamberg) ist politischer Aktivist, Happening Künstler und Verfasser von kunst und gesellschaftstheoretischen Manifesten und Artikeln. Besondere Bekanntheit erlangte er als Aktivist der 68er Bewegung. Später… …   Deutsch Wikipedia

  • Haschrebellen — Zentralrat der umherschweifenden (zuweilen fälschlich: herumschweifenden) Haschrebellen, auch kurz: Haschrebellen oder umherschweifende Haschrebellen, war eine hauptsächlich im Jahr 1969 verwendete Eigenbezeichnung für die erste Entwicklungsphase …   Deutsch Wikipedia

  • Umherschweifende Haschrebellen — Zentralrat der umherschweifenden (zuweilen fälschlich: herumschweifenden) Haschrebellen, auch kurz: Haschrebellen oder umherschweifende Haschrebellen, war eine hauptsächlich im Jahr 1969 verwendete Eigenbezeichnung für die erste Entwicklungsphase …   Deutsch Wikipedia

  • Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen — Zentralrat der umherschweifenden (zuweilen fälschlich: herumschweifenden) Haschrebellen, auch kurz: Haschrebellen oder umherschweifende Haschrebellen, war eine hauptsächlich im Jahr 1969 verwendete Eigenbezeichnung für die erste Entwicklungsphase …   Deutsch Wikipedia

  • Kommune1 — Die Kommune I (K1) war nicht die erste politisch motivierte Wohngemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland, aber die spektakulärste. Sie wurde am 1. Januar 1967 in Berlin gegründet und löste sich im November 1969 endgültig auf. Die Kommune I… …   Deutsch Wikipedia

  • Kommune 1 — Die Kommune I (K1) war nicht die erste politisch motivierte Wohngemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland, aber die spektakulärste. Sie wurde am 1. Januar 1967 in Berlin gegründet und löste sich im November 1969 endgültig auf. Die Kommune I… …   Deutsch Wikipedia

  • Pudding-Attentat — Die Kommune I (K1) war nicht die erste politisch motivierte Wohngemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland, aber die spektakulärste. Sie wurde am 1. Januar 1967 in Berlin gegründet und löste sich im November 1969 endgültig auf. Die Kommune I… …   Deutsch Wikipedia

  • Kommune 1 — or K1 was the first politically motivated commune in Germany. It was created on January 12, 1967, in West Berlin and finally dissolved in November 1969.Kommune 1 developed from the extraparliamentary opposition of the German student movement of… …   Wikipedia

  • Kommune I — Die Kommune I (K1) war eine politisch motivierte Wohngemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Sie wurde am 1. Januar 1967 in West Berlin gegründet und löste sich im November 1969 endgültig auf. Die Kommune I entstand aus der… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”