Die Unbekannte aus der Seine

Die Unbekannte aus der Seine
Die Unbekannte aus der Seine.

Die Unbekannte aus der Seine (frz. l'Inconnue de la Seine) war eine unbekannte junge Frau, deren Totenmaske nach 1900 an den Wänden vieler Künstlerwohnungen zu finden war. Sie inspirierte zahlreiche literarische Werke nicht nur der französischen Literatur.

Der Legende nach handelt es sich bei ihr um eine Selbstmörderin, deren Leiche um 1900 in Paris aus der Seine geborgen wurde. Ein Mitarbeiter der Pariser Leichenschauhalle war von ihrer Schönheit so angetan, dass er einen Gipsabdruck ihres Gesichts nahm. Er ließ eine Totenmaske anfertigen, von der in den folgenden Jahren zahlreiche Abdrücke gemacht wurden, die in der Pariser Bohème bald als morbides Einrichtungsaccessoire in Mode kamen. Ähnlich wie das Lächeln der Mona Lisa war der rätselhaft friedvolle Gesichtsausdruck der Toten Anlass für zahllose Spekulationen über ihr Leben, ihre Todesumstände und ihre Befindlichkeit im Jenseits.

Mediengeschichtlich interessant ist die damalige Popularität dieser Abbildungen. Sie hängt mit der Mehrfachreproduktion zusammen: Dass die Abdrücke der Totenmaske fotografiert und von den Negativen wiederum reproduziert wurden, schien ihre Authentizität zu verstärken. Das Wasser schien den letzten Gesichtsausdruck ihres Lebens wie ein Foto gebannt zu haben, was bei Wasserleichen eigentlich nicht der Fall ist.

Inhaltsverzeichnis

Die Unbekannte in der deutschen Literatur

So sinniert etwa der Protagonist von Rainer Maria Rilkes einzigem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910):

Der Mouleur, an dem ich jeden Tag vorüberkomme, hat zwei Masken neben seiner Tür ausgehängt. Das Gesicht der jungen Ertränkten, das man in der Morgue abnahm, weil es schön war, weil es lächelte, weil es so täuschend lächelte, als es wüßte.

1926 veröffentlichte Ernst Benkard Das letzte Antlitz, einen in mehrere Sprachen übersetzten Band über Totenmasken, in dem es über die Unbekannte heißt, sie sei „uns jedoch ein zarter Schmetterling, der, sorglos beschwingt, an der Leuchte des Lebens seine feinen Flügel vor der Zeit verflattert und versengt hat.“

Ein fester Bestandteil des Mythos ist auch Reinhold Conrad Muschlers Roman Die Unbekannte (1934), in der in ausgesprochen rührseliger Weise das Schicksal der Provinzwaise Madeleine Lavin geschildert wird, die sich in den britischen Diplomaten Lord Thomas Vernon Bentick verliebt. Als dieser nach einigen sehr romantischen Tändeleien jedoch wieder zu seiner Verlobten aufbricht, geht sie ins Wasser, und „ihr Antlitz lächelte verklärt, als man sie fand“. Der Roman wurde Grundlage der deutschen Verfilmung Die Unbekannte von Frank Wisbar (in Österreich: Die Unbekannte aus der Seine) 1936 mit Sybille Schmitz (Madeleine) und Jean Galland (Thomas) in den Hauptrollen.

Im selben Jahr, in dem Muschlers Roman erschien, schrieb auch Vladimir Nabokov, damals noch in Berlin wohnhaft, das Gedicht L'Inconnue de la Seine.

Hertha Pauli, die Gattin Wolfgang Paulis, hatte bereits am 4. November 1931 im Berliner Tageblatt die Geschichte L'Inconnue de la Seine veröffentlicht. 1934 verarbeitete ihr enger Freund Ödön von Horváth diese Geschichte zu dem Drama Eine Unbekannte aus der Seine.

In Claire Golls Kurzgeschichte Die Unbekannte aus der Seine (1936) stirbt der Protagonist Armandier an einem Herzinfarkt, als er der Totenmaske angesichtig wird, da er in einer Mischung aus Wahn und Schuldgefühl darin das Gesicht seiner Tochter zu erkennen glaubt.

In Max Frischs Farce Die Chinesische Mauer tritt die Unbekannte als Figur auf.

Französische Literatur

Maurice Blanchot, der ebenfalls eine solche Maske besaß, beschrieb sie als „une adolescente aux yeux clos, mais vivante par un sourire si délié, si fortuné, [...] qu'on eût pu croire qu'elle s'était noyée dans un instant d'extrême bonheur“ (dt. „ein junges Mädchen mit geschlossenen Augen, das jedoch belebt war durch ein so entspanntes, beglücktes Lächeln [...], dass man hätte glauben können, sie sei in einem Moment großer Glückseligkeit ins Wasser gegangen.“).

1931 veröffentlichte der Autor Jules Supervielle eine Erzählung, die sich aus der Perspektive der Lebensmüden als Ich-Erzählerin über Sinn und Unsinn des Selbstmordes verbreitet.

In Louis Aragons Roman Aurélien (1944) spielt die Unbekannte ebenfalls eine große Rolle. Man Ray versuchte in mehreren raffiniert ausgeleuchteten Fotografien, der Maske „Leben einzuhauchen“.

Sonstiges

Das Antlitz der Unbekannten aus der Seine ziert auch den Kopf der Resusci-Anne, der Erste-Hilfe-Puppe, die seit 1958 von Peter Safar und Asmund Laerdal entwickelt und seit 1960 für Erste-Hilfe-Kurse serienmäßig hergestellt wird (siehe Herz-Lungen-Wiederbelebung).

Literatur

  • Christian Adam: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Galiani, Berlin 2010, ISBN 978-3-86971-027-3, S. 178–180 (behandelt Muschlers Roman und dessen Rezeption in der NS-Zeit).

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