Die Jungfrau von Orleans

Die Jungfrau von Orleans
Theaterzettel der Uraufführung am 11. September 1801

Die Jungfrau von Orleans ist ein Drama von Friedrich von Schiller, dem der Autor die Gattungsbezeichnung „romantische Tragödie“ gegeben hat. Das Stück wurde am 11. September 1801 in Leipzig uraufgeführt. Es war zu Lebzeiten Schillers eines seiner am häufigsten gespielten Stücke. Seine Entstehungszeit und die Veröffentlichung fallen in das „Klassische Jahrzehnt“, auch die „Weimarer Epoche“ oder die „Weimarer Klassik“ genannt. Demzufolge handelt es sich bei dem Stück um ein klassisches Drama, das im Hinblick auf seine Form keine Gemeinsamkeiten mit Werken der Romantik aufweist. Die Epoche der „Weimarer Klassik“ ist wesentlich gekennzeichnet durch die Zusammenarbeit und Freundschaft von Schiller und Goethe.

Inhaltsverzeichnis

Die wichtigsten Personen des Stückes

Handlungsverlauf des Dramas

Prolog: Das Drama spielt im Frankreich des 15. Jahrhunderts. Im Prolog wird über den näher rückenden Krieg gesprochen sowie über die Auswirkungen des Kriegs auf die Lage in Frankreich und in der Familie d’Arc. Die Figur Johanna wird eingeführt. Es wird gezeigt, dass Johanna in vielerlei Hinsicht anders ist als andere Menschen. Sie sucht die Einsamkeit, hat kein Interesse am Heiraten, hält aber eine flammende Rede zum Krieg. In einem Monolog nennt Johanna ihre Sendung: Sie erzählt von einem Auftrag „des Geistes“, d.h. Gottes bzw. des Heiligen Geistes, gegen die Engländer in den Krieg zu ziehen. Johannas Vater hingegen sieht ihre Entwicklung kritisch: Die Geister an ihrem Aufenthaltsort unter dem „Druidenbaum“ verführten sie vermutlich zum Bösen, und sie selbst lasse es an christlicher Demut mangeln; sie wolle hoch hinaus, weil sie besonders schön sei.

1. Aufzug: König Karl, der Dauphin von Frankreich, will aufgeben und fasst erst neue Hoffnung, als Johanna durch ihren ersten Sieg angekündigt wird. Durch ihr bloßes Auftreten habe sie im Lager der Kriegsgegner für Panik gesorgt. Vor dem König beweist Johanna ihre seherischen Fähigkeiten und gibt weitere Details ihrer Sendung preis. Sie erklärt, sie habe ihren Auftrag von der Mutter Gottes erhalten. Zwei Bedingungen sind mit dem Auftrag verknüpft: Sie muss alle Feinde töten, die sich ihr in der Schlacht entgegen stellen, und sie darf sich in keinen Mann verlieben. Am Königshof wird Johanna von allen spontan verehrt.

2. Aufzug: Die englische Heerseite wird vorgestellt. Auch die Engländer bewerten das Geschehene als ungewöhnlich, wenn auch als Ausdruck schwarzer Magie. Schon zu Beginn des Aufzugs ist die Uneinigkeit im Lager der Gegner Frankreichs erkennbar. In der anschließenden Schlacht tötet Johanna, die zuvor ein flammendes Bekenntnis zu ihrem Vaterland Frankreich und gegen die englischen Invasoren abgelegt hat, ohne jedes Erbarmen einen englischen Soldaten namens Montgomery, obwohl dieser schon vor Johannas Auftritt seine Anwesenheit in Frankreich bereut. Ihre „kindliche“ (Burgunds Wertung), von Pragmatismus freie Art zeigt sich auch in der Begegnung mit Philipp von Burgund, den Johanna dennoch durch ihre ergreifende und überzeugende Rhetorik letztlich für die französische Seite gewinnt (Burgund ist im Krieg von Frankreich abgefallen und hat mit den Engländern gekämpft).

3. Aufzug: Im Verlauf des Aufzugs wird über die Zukunft Frankreichs und Johannas gesprochen. Die bisherigen Kriegsgegner versöhnen sich. Mehrere „Große Männer“ streiten sich in Johannas Abwesenheit, wen Johanna heiraten soll. Nach ihrem Eintreffen versöhnt Johanna Burgund mit Du Chatel, dem französischen Ritter, der Burgunds Vater getötet hat. Dunois und La Hire machen Johanna nacheinander einen Heiratsantrag. Johanna weist sie unter Hinweis auf das Liebesverbot ab. Talbot stirbt in der sich anschließenden Schlacht. Johanna begegnet einem mysteriösen „schwarzen Ritter“, der sie zum Abbruch ihrer Sendung bewegen will. Gleich darauf trifft sie auf Lionel. Johanna besiegt Lionel im Kampf, doch als sie ihm ins Gesicht sieht, verliebt sie sich sofort in ihn und Lionel sich auch in sie. Johanna ist sehr verwirrt. Schließlich muss Lionel flüchten, weil Graf Dunois und La Hire herankommen.

Szene aus dem 5. Akt, 3. Aufzug. Stich von Eberhard Wächter nach Johann Heinrich Lips, 1804

4. Aufzug: Johanna schämt sich dafür, dass sie durch ihre Liebe zu Lionel und nicht etwa aus Mitleid ihren Auftrag verraten habe. Es gebe keine Rechtfertigung dafür, Montgomery und andere Briten getötet zu haben, Lionel aber nicht. Nur widerwillig und mit schlechtem Gewissen nimmt Johanna die Fahne der Jungfrau Maria an und nimmt an der Krönung Karls teil. Den Kontrapunkt zu dieser deprimierten Stimmung bildet zunächst die Verehrung, mit der die Umwelt auf Johannas Erfolge reagiert; König Karl deutet sogar an, dass Johanna auf sein Betreiben heiliggesprochen werde. Nach der Krönungszeremonie trifft Johanna ihre Schwestern und will mit ihnen nach Hause, doch ihr Vater Thibaut kommt dazwischen und klagt sie öffentlich an, mit dem Teufel im Bund zu sein. Mehrere Donnerschläge begleiten dieses „Gottesurteil“. Johanna schweigt zu den Vorwürfen ihres Vaters; daraufhin wird sie verbannt. Raimond begleitet sie in die Verbannung.

5. Aufzug: Johanna ist bei schwerem Gewitter mit Raimond im Wald unterwegs. Die Köhler, auf die sie trifft, halten sie für eine „Hexe“. Tatsächlich hat sich das Kriegsglück zu Gunsten der Engländer gewendet. Johanna jedoch beteuert Raimond gegenüber, nie schwarze Magie betrieben zu haben. Sie habe während des „Gottesurteils“ nur aus Gehorsam gegenüber dem himmlischen und dem leiblichen Vater und deshalb geschwiegen, weil sie Strafe verdient habe. Jetzt aber sei sie mit sich „im Reinen“ und werde alles akzeptieren, was Gott mit ihr vorhabe. Kurz darauf wird sie von Engländern gefangen, die von Königin Isabeau angeführt werden. Raimond benachrichtigt die Franzosen davon. Lionel will Johanna vor den eigenen Leuten schützen, die sie hängen sehen wollen. Johanna zeigt keine Liebe mehr zu Lionel. Dieser wird in die Schlacht gerufen und lässt Johanna bei Isabeau in einem Turm zurück. Die Engländer, so berichtet ein Beobachter, gewinnen an Boden. Daraufhin reißt Johanna sich auf wundersame Weise von ihren Ketten los, nachdem sie Gott kniefällig um Beistand gebeten hat, und wendet die Schlacht zugunsten der Franzosen. Dabei wird sie tödlich verwundet. Bevor sie stirbt, wird sie verklärt (rosa Licht wird erzeugt, und sie sieht einen Regenbogen, der sie in ihre „neue Heimat“ im Jenseits geleiten soll). Am Schluss wird die tote Johanna mit Fahnen zugedeckt, die die Umstehenden auf sie legen.

Interpretationsansätze

Dichtung und historische Wirklichkeit

Schillers Drama weist eine Vielzahl von Abweichungen von der historischen Realität auf:

  • Agnes Sorel (geboren 1422) wurde erst nach Jeanne d'Arcs Tod die Geliebte Karls VII.
  • Jeanne d'Arc stieß bei ihren ersten Kontakten mit den Adeligen auf Skepsis, die überwunden werden musste. In Schillers Drama erhält Johanna, noch bevor sie sich am Königshof vorgestellt hat, das Image der Heiligen; alle am Hof, einschließlich des Erzbischofs, sind bei ihrem ersten Auftritt spontan von ihrer „Heiligkeit“ überzeugt. In Schillers Drama wird nicht deutlich, dass die von der Oberschicht ihrer Zeit als „naiv“ empfundene Jeanne d'Arc von ihrer nach wie vor in Kategorien der Dynastie denkenden Umwelt instrumentalisiert wurde.
  • Jeanne d'Arc wurde von Burgundern gefangen genommen. Davon, dass sie Philipp von Burgund mit Karl VII. versöhnt habe, kann also keine Rede sein.
  • Jeanne d'Arc wurde nicht in den Adelsstand erhoben.
  • Völlig abwegig ist die von Schiller erzeugte Vorstellung[1], ein König könne eine verehrte Person zur Schutzpatronin seines Landes ernennen.
  • Jeanne d'Arc verblieb nach ihrer Gefangennahme außerhalb des Machtbereichs Karls VII. und wurde auf Betreiben der Engländer als Ketzerin verbrannt, und zwar mit dem Segen kirchlicher Institutionen. Ihre Rehabilitation erfolgte erst nach ihrem Tod.

Da Friedrich Schiller von 1789 bis zu seinem Tode das Amt eines Professors für Geschichte an der Universität Jena ausübte und demzufolge die wichtigsten der um 1800 bekannten historischen Quellen über den Komplex Hundertjähriger Krieg/Jeanne d'Arc kannte, warf man ihm vor, bewusst „Geschichtsklitterung“ betrieben zu haben.

Die entsprechende Kritik greift aber zu kurz, weil es nicht Schillers Absicht war, über diesen Komplex ein Historiendrama in dem Sinne zu schreiben, dass er, späteren Realismus-Konzeptionen folgend, die „historische Realität“ in eine dramatische Handlung umgesetzt hätte. Schillers Hinwendung zu dem historischen Stoff erfolgte unter der Voraussetzung seiner poetischen Maxime, „immer nur die allgemeine Situation, die Zeit und die Personen aus der Geschichte zu nehmen und alles übrige poetisch frei zu erfinden“ [2].

Schiller projiziert bewusst aktuelle Problematiken der Zeit um 1800 in die Geschichte Frankreichs im 15. Jahrhundert hinein. Vor allem geht es Schiller darum, die Idee des Nationalstaats zu fördern (vgl. auch das „geflügelte Wort“ aus dem 1804 abgeschlossenen Drama Wilhelm Tell: „Ans Vaterland, ans teure schließ dich an!“), wobei er an die Verteidigung der deutschen Staaten gegen das expandierende Frankreich Napoleons dachte.

Schillers Johanna ist eine fanatische Patriotin, die den ihrer Ansicht nach einzigen legitimen König Frankreichs an die Macht bringen und die Engländer aus Frankreich vertreiben will. Historisch richtig an dieser Sichtweise ist, dass Jeanne d'Arc zu ihrer Rechtfertigung Argumentationsmuster benutzte, die das „Nationale“ betonen, und dass der Nationalstaat im 15. Jahrhundert im Entstehen begriffen war, eine Entwicklung, bei der die historische Jeanne d'Arc durchaus als Katalysator wirkte.

Neigung und Pflicht bei Immanuel Kant und bei Friedrich Schiller

Die „romantische Tragödie“ „Die Jungfrau von Orléans“ ist stark von Gedankengut Immanuel Kants beeinflusst, und zwar insbesondere von Kants Idee des Kategorischen Imperativs, welcher lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Dieser Maxime zufolge muss der Mensch seine Neigung zugunsten der Pflicht zurückstellen. Diesen Gedanken hat Friedrich Schiller in seiner ästhetischen Theorie, insbesondere in seiner Schrift Über Anmut und Würde aufgegriffen. Der Zusammenhang der verwendeten Begriffe bei Schiller ist dem folgenden Schema zu entnehmen:

Neigung Pflicht Erfährt von der Gesellschaft Erlangt
+ + Liebe Anmut
- + Achtung Würde
+ - (Ungnade) (Ungleichgewicht)
- + Mitleid Erhabenheit

Bezogen auf Johannas Entwicklung bedeutet das Folgendes:

  • Am Anfang ist Johanna mit sich selbst im Reinen, dadurch wirkt sie anmutig.
  • Durch die Appelle des „Geistes“ wird Johanna mit der Pflicht, d.h. dem „Willen Gottes“ konfrontiert. Solange sie diesen erfüllt, und zwar unabhängig von ihrer Neigung, erfährt sie Achtung und erscheint als würdig.
  • Allerdings ist Johanna, wie jeder Mensch, der Versuchung ausgesetzt, ihre Pflichten nicht zu erfüllen. Insbesondere fällt es ihr schwer, sich nicht in einen Mann zu verlieben, obwohl ihre Position mit ihrer „rituellen Reinheit“, d.h. ihrer Jungfräulichkeit „in Gedanken, Worten und Werken“ steht und fällt. Indem sich Johanna in Lionel verliebt und ihre „Pflicht“ (wie sie selbst und mit ihr Schiller sie sieht), Lionel, den Engländer, zu töten, verletzt, macht sie nicht nur einen Fehler, sondern verliert auch ihr Gottesgnadentum.
  • Dieser Vorgang erzeugt, ganz wie es Aristoteles in seiner Dramentheorie fordert, Mitleid (bei den übrigen Figuren auf der Bühne, aber auch im Publikum), vielleicht auch Furcht; auf jeden Fall stört er das Gleichgewicht der göttlichen Ordnung.
  • Nur durch einen tragischen Ausgang des Dramas lässt sich die Ordnung wiederherstellen. Indem Johanna sich opfert, erzeugt sie ein Gefühl der Erhabenheit.

Problematisch an dieser Auffassung ist vor allem Schillers Verständnis von Pflicht: Anders als bei Kant geht es in der „romantischen Tragödie“ Die Jungfrau von Orléans nicht darum, das auszuführen, was die Vernunft gebietet; die Impulse, denen Johanna folgt, sind vielmehr durch und durch irrational, was schon die Form deutlich macht, in der sie begründet werden: Alle Begründungen Johannas lassen sich letztlich auf den einen Satz zurückführen: „Gott und die Heilige Jungfrau Maria wollen es.“

Für einen Aufklärer wie Kant wäre eine derartige Legitimation des eigenen Handelns völlig unakzeptabel, da Johanna sich auf ihr Charisma als hinreichenden Grund dafür beruft, dass die Franzosen ihr Gefolgschaft leisten sollen, ein Appell, der im 15. Jahrhundert eigentlich nur einem traditionell legitimierten Herrscher zugestanden hätte. Eben dieser Bruch mit Kant und dem Primat der Vernunft macht das „Romantische“ der „romantischen Tragödie“ aus.

Schillers Dramenkonzeption

In seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen macht Friedrich Schiller deutlich, worauf es ihm in seiner Arbeit ankommt: nämlich darauf, „Herzensbildung“ zu vermitteln. Im 8. Brief fragt Schiller: „Das Zeitalter ist aufgeklärt [...] – woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind?“

Seine Antwort lautet: „Es muß [...] in den Gemüthern der Menschen etwas vorhanden sein, was der Aufnahme der Wahrheit, auch wenn sie noch so hell leuchtete, und der Annahme derselben, auch wenn sie noch so lebendig überzeugte, im Wege steht. [...] Energie des Muths gehört dazu, die Hindernisse zu bekämpfen, welche sowohl die Trägheit der Natur als die Feigheit des Herzens der Belehrung entgegen setzen. [...] Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfniß der Zeit.“

Wie sich Friedrich Schiller diese „Ausbildung des Empfindungsvermögens“ vorstellt, verdeutlicht er in seiner Schrift Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet: Die Zuschauer sollen im Theater mit der „Wahrheit“ konfrontiert werden, und zwar auf eine Weise, die ihr Herz erreicht. Insbesondere für Fürsten sei das Theater oft das einzige Medium, durch das sie von der „Wahrheit“ erreicht würden: „Hier nur hören die Großen der Welt, was sie nie oder selten hören – Wahrheit; was sie nie oder selten sehen, sehen sie hier – den Menschen.“

Gelinge die „Herzensbildung“ im Sinne Schillers, so würden aus verblendeten Fürsten „gute Fürsten“, und auch ihre Untertanen würden zu besseren Menschen.

Der Bezug zum Drama Die Jungfrau von Orléans liegt auf der Hand: Johanna verwandelt erst Karl in einen „guten König“, der seine Resignation überwindet, und dann Philipp von Burgund in einen „guten Fürsten“, der einsieht, „auf welche Seite er gehört“, nämlich auf die der blutsverwandten Franzosen, und der sich mit dem Mörder seines Vaters versöhnt. Diese Wirkung erzielt Johanna, indem sie die Haltung vorlebt, die sie von anderen erwartet, nämlich die Haltung unbedingter Treue zu ihren Idealen. Deswegen sind die „Großen der Welt“ auch bereit, Johanna zuzuhören, ihre Sicht der Dinge zu teilen und ihren Appellen zu folgen.

In dieser Konzeption wird deutlich, dass Schiller den Optimismus der Aufklärer teilt, die glauben, ihre Zeitgenossen würden sich zum Besseren bekehren, wenn vorbildliche Menschen auf sie mit „guten, vernünftigen Argumenten“ einwirken.

Schillers Konzeption steht und fällt damit, dass Johanna wirklich als Vorbild betrachtet werden kann. Die Schwachstelle des Dramas ist die Unerbittlichkeit, mit der Johanna für „die Sache Frankreichs“ kämpft. So muss ihrer Ansicht nach jeder englische Soldat, der ihr begegnet, sterben. Diese Haltung als Ausdruck eines „Ideals“ zu bewerten dürfte vielen (zu Recht) schwer fallen.

Schiller und die Frauen - ein Politikum

Schillers Frauenbild im Allgemeinen

„Da werden Weiber zu Hyänen und treiben mit Entsetzen Scherz“, heißt es in Friedrich Schillers Lied von der Glocke. In dem Gedicht, das 1799 verfasst wurde, ist Schillers Entsetzen zu spüren über die Auswüchse der Französischen Revolution.

Wie Schiller sich politische Veränderungen vorstellt, wird an anderer Stelle des „Liedes“ deutlich: „Der Meister kann die Form zerbrechen | Mit weiser Hand, zur rechten Zeit, Doch wehe, wenn in Flammenbächen | Das glühnde Erz sich selbst befreit!“. Nicht demokratische Verhältnisse seien also anzustreben, sondern die Herrschaft des „guten Fürsten“ (hier: Karls VII., von dem Johanna - wie auch ihr Vater - a priori annimmt, dass er der erhoffte „gute Fürst“ sei). So und nicht anders ist das Motto „In Tyrannos!“ („Gegen die Tyrannen!“) zu verstehen, das Schillers Drama Die Räuber voransteht.

Friedrich Schiller hat nämlich um 1800 eine Abneigung gegen die Selbstbefreiung des Volkes und schon gar der „Weiber“, deren Wirken in der Politik er besonders abstoßend findet (jedenfalls im Prinzip). Schon seinen Fiesco[3] lässt Schiller andeuten, dass Demokratie die „Herrschaft der Feigen und der Dummen“ sei, da es mehr Feige als Mutige und mehr Dumme als Kluge gebe und da Demokratie die „Herrschaft der Mehrheit“ bedeute.

Johanna als „Ausnahme-Frau“?

Umso erstaunlicher ist es, dass Schiller um Sympathie für eine junge Frau, nämlich seine Johanna, wirbt, die, einer „Hyäne“ durchaus nicht unähnlich[4], das Gesetz des politischen Handelns im Frankreich des 15. Jahrhunderts an sich reißt.

Johanna ist eine Ausnahme, und sie ist es auch wieder nicht: Als legitimiert erscheint sie nur, solange sie die Bedingungen einhält, die ihr die Jungfrau Maria gestellt hat: Sie muss in einem erweiterten Sinn (nicht nur körperlich, sondern auch geistig) Jungfrau bleiben und darf keinen Mann lieben. Die historische Jeanne d'Arc wurde übrigens sowohl am französischen Königshof als auch in englischer Gefangenschaft gynäkologisch untersucht, um festzustellen, ob sie die Grundbedingung „ritueller Reinheit“ erfüllt.

Trotzdem erfüllt Johanna durch ihren „Dienst als Amazone“, wenn auch auf andere als die herkömmliche Art, die Erwartungen an die Frauenrolle. Die Jungfrau Maria habe ihr[5] gesagt: „Gehorsam ist des Weibes Pflicht auf Erden, | Das harte Dulden ist ihr schweres Los, | Durch strengen Dienst muß sie geläutert werden, | Die hier gedienet, ist dort oben groß.“

Auf diesen Appell, der Jungfrau Maria nachzufolgen, die auch nicht um ihr Einverständnis dafür gebeten worden sei, Mutter des Sohnes Gottes zu werden, habe die zunächst zögernde Johanna ihr Leben als Hirtin aufgegeben, um ihrer „Berufung“ zu folgen.

Letztlich verschmilzt bei Schiller das Bild Johannas mit dem der „Gottesmutter Maria“, was besonders an den Stellen deutlich wird, an denen sie zum Kampf aufruft. In dem Schlachtruf: „Gott und die heil'ge Jungfrau führt euch an“ bleibt offen, ob Johanna etwa auch sich selbst oder nur die Jungfrau Maria meint.

Johanna gehört nach Schillers Verständnis insofern nicht zu den „Hyänen des Schlachtfelds“ (Bertolt Brechts Formulierung in Mutter Courage und ihre Kinder), als sie nicht selbstbestimmt, sondern in „höherem Auftrag“ handelt. Wie fremd ihr ein selbstbewusstes Auftreten in eigener Sache ist, kann man dem 4. Auftritt des 5. Aufzugs entnehmen: Sie habe sich nie für eine Zauberin gehalten, zu entsprechenden Vorwürfen ihres Vater aber geschwiegen; denn: „Weil es [das Urteil] vom Vater kam, so kam's von Gott, | Und väterlich wird auch die Prüfung sein“. Klarer kann ein Bekenntnis zum Patriarchat nicht ausfallen als dadurch, dass eine „gute Tochter“ (ihres Vaters wie der Kirche) zu unberechtigten Vorwürfen schweigt.

Isabeau als Gegenmodell zu Johanna

Johanna als Verkörperung des Archetyps „Jungfräuliche Mutter“ vermag es auch deshalb, Dauphin Karl zu motivieren, weil sie das Gegenbild zu seiner leiblichen Mutter Isabeau darstellt. Diese führte und führt immer noch („Die schönsten Frankenknaben, | Die wir erbeuten, schicken wir nach Melun“[6], verspricht Lionel der Königsmutter) einen lockeren Lebenswandel, wofür sie von Karl verbannt worden ist. Um sich zu rächen, hat sie sich auf die Seite der Feinde ihres Sohnes geschlagen und verbreitet üble Nachrede über ihn.

Im 5. Aufzug kommt es zum „Showdown“: Johanna begegnet Isabeau, die Johanna gefangennehmen lässt. Zunächst scheint die „böse Mutter“ zu siegen, aber letztlich gewinnen doch „die Guten“, indem Johanna sich opfert.

Schiller und die deutsche Romantik

Die „romantische Tragödie“ „Die Jungfrau von Orléans“ wird der Weimarer Klassik zugeordnet. Unproblematisch ist diese Zuordnung, was den formalen Aufbau des Dramas anbelangt, das weitgehend die Regelmäßigkeiten erfüllt, die v.a. Gustav Freytag für ein Regeldrama aufstellte:

  • geschlossene Form
  • fünf Akte mit vorgegebener Funktion (Exposition, Komplikation, Peripetie, Retardation und Katastrophe)
  • Blankvers (reimloser fünffüßiger Jambus) als vorherrschendes Stilmittel (gelegentlich gibt es aber auch gereimte Passagen, die teilweise auf vier Versfüße verkürzt sind, teilweise sogar in Strophenform, und manche ungereimte Passagen sind sechsfüßig)
  • gehobener, oft pathetischer Redestil

Auch verwendet Schiller in seinem Drama das Mittel der Katharsis: Ein Mitleid und Furcht erregendes „Donnerwetter“ setzt am Ende des 4. Aufzugs ein, dem im 5. Aufzug erst die „Reinigung“ der Natur (die Sonne scheint wieder), dann die innere „Reinigung“ Johannas sowie die Bereinigung der verfahrenen Situation (die Engländer drängen zunächst voran, werden dann aber wieder durch Johannas Opfer zurückgedrängt) und schließlich - so hofft Schiller in der Tradition des Aristoteles - die „Reinigung“ des Publikums folgt.

Der andere herausragende Vertreter der Weimarer Klassik, Johann Wolfgang Goethe, hat die Werke der Klassik scharf von denen der Romantik abgegrenzt, die zeitgleich mit denen der Weimarer Klassik entstanden. Im Gespräch mit Eckermann soll Goethe gesagt haben: „Die Poeten [der Romantik] schreiben alle als wären sie krank [...] ich will ihre Poesie Lazarettpoesie nennen“.

Das historisch erste Drama in Deutschland, das im Blankvers geschrieben wurde, insofern also die Weimarer Klassik einleitet, ist Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing, einem Hauptvertreter der deutschen Aufklärung. Nathan, die Hauptfigur, warnt in diesem Drama, typisch für einen Aufklärer, eindringlich vor dem Wunderglauben. Schillers „Jungfrau von Orléans“ hingegen ist voll von mysteriösen, rational nicht nachvollziehbaren Vorgängen, die man wohl als „Wunder“ bewerten muss (Johannas Wissen, ihre übermenschlichen Kräfte, ihre quasi-hypnotische Wirkung auf andere, „Gottesurteile“). Das erklärt, warum der „Klassiker“ Schiller in der Gattungsbezeichnung für sein Werk das Attribut „romantisch“ benutzt. Als „romantisch“ gelten neben den „wundersamen“ Aspekten insbesondere der Auftritt des mysteriösen „schwarzen Ritters“, die Verwendung des Mittels der Seelenlandschaft (die Parallelität von Vorgängen in der Natur und in der Menschenwelt) sowie Johannas Schwärmerei in Verbindung mit ihrem Marienkult.

Katholizismus und Protestantismus

Der in der „romantischen Tragödie“ zu findende Marienkult ist ein typisches Merkmal des Katholizismus.

Auch deshalb gehörte der „Flirt“ des Protestanten Friedrich Schiller „mit der Romantik“ zu den Aspekten, die Schillers Zeitgenossen, bei aller sonstigen Bewunderung für „Die Jungfrau von Orléans“, eher befremdete.

Zugleich bestätigt allerdings Schiller vorwegnehmend George Bernard Shaws Urteil, wonach Jeanne d'Arc „die erste Protestantin“ gewesen sei: Vor dem König und dem Erzbischof lehnt sie es ab, „nach getaner Arbeit“ zur angestammten Frauenrolle zurückzukehren und zu heiraten, obwohl auch alle anderen Anwesenden das von ihr erwarten. Am Beginn des vierten Aufzugs betreibt sie auf typisch pietistische Weise Gewissensprüfung, indem sie in einem 95 Verse umfassenden, ununterbrochenen Monolog über ihre „Untat“ und deren Folgen nachdenkt und dabei keinen „mildernden Umstand“ gelten lässt. Diese starke Betonung des persönlichen Gewissens ist typisch für den Protestantismus.

Peter Demetz [7] kritisiert „das merkwürdige Schwanken, wenn sie [d.h. Johanna] von ihren religiösen Erlebnissen spricht; bald bekennt sie sich zum ‚höchsten Gotte‘, bald, antikisch, zu den ‚Göttern‘, bald zur ‚Madonna‘, bald zur ‚heiligen Natur‘; nur Christus scheint in ihrem Christentum gar keinen Ort zu haben. Es ist, als wollte sie jeder Bindung an die historische Religion entsagen und ihre Religiosität, wie man es in Weimar tat, ins Philosophische verallgemeinern.“

Rezeption

Noch zu Schillers Lebzeiten war Die Jungfrau von Orléans sehr erfolgreich, vor allem in Weimar. Eine Statistik[8] weist nach, dass kein Drama zwischen 1786 und 1885 an Berliner Bühnen häufiger gespielt wurde als Schillers romantische Tragödie. In der Spielzeit 2004/2005 sahen 53.636 Zuschauer im deutschsprachigen Raum bei 152 Aufführungen in 12 Inszenierungen das Stück.[9] Damit lag es auf Platz 19 aller aufgeführten Stücke.

Allerdings wird Schillers „romantische Tragödie“ im 21. Jahrhundert überwiegend negativ bewertet, vor allem von Regisseuren und Theaterkritikern. Beispielhaft hierfür ist Shirin Sojitrawallas Kritik der Mainzer Aufführung vom 7. Dezember 2007 mit dem bezeichnenden Titel „Die unerträgliche Leichtigkeit des Heilig-Seins“: Sojitrawalla bewertet Johanna als „naive Gotteskriegerin, die nichts vom Leben und alles vom Himmel weiß. Mal klingt das Mädchen wie eine verbohrte Sektenanhängerin, mal wie ein altkluges Gör“, das „gottesfürchtiges Geschwätz“ von sich gebe.[10] Generell werden in Rezensionen des 21. Jahrhunderts oft Johannas Nationalismus und ihr Bellizismus kritisiert.

Aktuelle Inszenierungen

Literatur

  • Kiermeier-Debre, Joseph (Hrsg.): Friedrich Schiller - Die Jungfrau von Orleans, Originaltext mit Anhang zu Verfasser, Werk und Textgestalt, incl. Zeittafel und Glossar, erschienen in der Bibliothek der Erstausgaben, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2009. ISBN 978-3-423-02682-6
  • Wolfgang Pfister: Friedrich Schiller: „Die Jungfrau von Orléans“. C. Bange Verlag, Hollfeld 2003, ISBN 978-3-8044-1763-2 (Königs Erläuterungen und Materialien, Band 2)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. vgl. V.2959
  2. Brief an Goethe, 20.8.1799, zitiert nach Jan Roloff: Schiller: Jungfrau von Orleans. Zur Literaturgeschichte der Jeanne d’Arc (http://aufklaerung-sturm-und-drang-weimarer-klassik.suite101.de/article.cfm/schillers_jungfrau_von_orleans)
  3. Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, II/8
  4. Im Augenblick des Kennenlernens sagt sie zu Montgomery: „Du bist des Todes! Eine brit'sche Mutter zeugte dich.“ (V.1580)
  5. V.1102-1105
  6. V.1457f.
  7. Peter Demetz: Vorwort zu: George Bernard Shaw: Die heilige Johanna. München. 1965. S.17
  8. Albert Ludwig: Schiller und die deutsche Nachwelt. Berlin. Weidmannsche Buchhandlung 1909. S.646ff.
  9. http://www.buehnenverein.de/presse/presse_details.php?art=brief&id=166&qry=&start=0
  10. http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_alphacontent&section=55&cat=171&task=view&id=781&Itemid=92

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