Demokratisierung

Demokratisierung

Demokratisierung bezeichnet den Prozess des Wandels von autoritären oder totalitären zu demokratischen Staatsformen.[1]

Inhaltsverzeichnis

Demokratisierung von unten oder von oben

Ein Beispiel für die Demokratisierung von unten ist der Zerfall des Ostblocks. Versuche, Deutschland (vgl. Entnazifizierung), Afghanistan oder den Irak zu demokratisieren, gelten als Demokratisierungen von oben. Otfried Höffe behauptet, dass „bei beiden Falltypen […] die Demokratisierung nur [gelingt], wenn sich außer den staatlichen Institutionen eine facettenreiche Bürgerschaft ausbildet.“[2]

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit unterscheidet drei Phasen um ein Land nach einem Konflikt zu demokratisieren: den unmittelbaren Aufbau, Dialog und Rekonstruktion und Institutionalisierung und Konsolidierung.[3] Beispiele einer solchen Demokratisierung nach einem Konflikt sind: Bosnien-Herzegowina, Libanon, Ruanda und Südafrika. Länder nach einem Konflikt zu einer Demokratie zu transformieren erweist sich als schwierig. „In den achtzehn Nachkriegsgesellschaften, in denen die Vereinten Nationen zwischen 1988 und 2002 Demokratisierungsprozesse unterstützten, haben allein dreizehn trotz vielfach unbestreitbarer Verbesserungen nicht den Sprung in eine demokratische Staats- und Gesellschaftsform geschafft.“[4] Buckley-Zistel folgert aus diesen Erfahrungen, dass „der Anstoß für eine Demokratisierung aus der Gesellschaft selbst kommen“ muss und die „Interessen der verschiedenen Akteure und mögliche Konflikte müssen sensibel vorausgesehen und berücksichtigt werden“.[5]. Eine Reihe von Institutionen unterstützen den Prozess der Demokratisierung durch Demokratieförderung.

Demokratisierungswellen

Huntington unterscheidet drei Demokratisierungswellen:[6] Die erste von 1828 bis 1926, die zweite von 1943 bis 1962 und die dritte nach der Nelkenrevolution. Die dritte Demokratisierungswelle, „die mit dem Ende der letzten Rechtsdiktaturen in Westeuropa (Portugal, Griechenland, Spanien) Mitte der 70er Jahre begann, sich in Lateinamerika in der 80er Jahren fortsetzte, Ostasien erreichte, die kommunistischen Regime Osteuropas und der Sowjetunion erfasste und selbst einige Länder Afrikas berührte, sind beispiellos in der Geschichte.“[7] In der Regel werden die sozioökonomischen Modernisierungsprozesse als Auslöser der Demokratisierungswellen angesehen. Ihre Wellendynamik hängt dagegen von kulturellen Rahmenbedingungen und herrschenden Machtzentren in den politischen Eliten ab.

Klaus von Beyme bezeichnete die Umstürze infolge des Falls des Eisernen Vorhangs und des Zusammenbruchs der Sowjetunion als vierte Demokratisierungswelle. Diese umfasste insgesamt 47 Staaten, darunter neben dem ehemaligen Ostblock auch einige Staaten Afrikas und Asiens wie Benin und Bangladesh.[8]

Angesichts des Arabischen Frühlings spricht Kenan Engin von einer fünften Welle. Seine These beruht auf den Parallelitäten der politischen Entwicklungen zwischen der dritten Demokratisierungswelle in Latin Amerika in 70er und 80er Jahren und dem Arabischen Frühling. In 70er und 80er Jahren wurden viele lateinamerikanischen Diktatoren durch eine Welle von Protesten gestürzt und durch die gewählten Regierungen ersetzt.[9] [10] [11]

Entstanden sind nicht immer ideale Demokratien, sondern viele „defekte Demokratien“. Diese, von Juan Linz und Alfred Stephan auch als "hybride Regime" bezeichneten Staaten, nehmen eine Stellung zwischen Demokratie und Autokratie ein. Nach Wolfgang Merkel gibt es dafür keine primäre Ursache, sondern ein Ursachenbündel, welches den Modernisierungspfad, das Modernisierungsniveau, die Wirtschaftskonjunktur, das Sozialkapital, die Zivilgesellschaft, die Staats- und Nationalbildung sowie den Typ des autoritären Vorgängerregimes, die Art des Transitionsmodus, die politischen Institutionen und die internationalen Rahmenbedingungen berücksichtigen muss.[12] „Liberale Demokratien“ sind entstanden im Umkreis der Europäischen Union. „Die Kombination von marktwirtschaftlichen Interessen- und demokratischer Wertegemeinschaft macht die EU zu einem Modell, das bisher einzigartig in der Welt ist.“[13] Alle anderen Organisation wie NATO, ASEAN, Mercosur oder die Vereinten Nationen hatten keine vergleichbare Wirkung. Die „defekten Demokratien“ können nach Merkel relativ stabile Regime sein. „Dies ist vor allem in Gesellschaften mit niedrigen Bildungsniveau, klientelistischen und patrimonialen Strukturen der Fall.“[14]

Siehe auch: Transformation (Politikwissenschaft)

Demokratisierung der Demokratie

Claus Offe weist darauf hin, dass keine Demokratie einer anderen gleicht und dass die Ansprüche an eine Demokratie, die Qualität einer Demokratie, unterschiedlich sind.[15] Zum einen unterscheidet man weiter reife Demokratien (USA, Großbritannien) von unreifen. Andererseits verfallen reife Demokratien. Offe bezeichnet dies als „Dekonsolidierung der liberalen Demokratie“.[16]

Wenn der unstrittige Kern einer Demokratie sich zusammensetzt „aus den Grundsätzen der bürgerlichen Freiheit, der politischen Gleichheit und der zugleich effektiven und verantwortlichen Regierung“,[17] dann muss man laut Offe überlegen, wie „sich die Demokratie demokratisieren lässt“.[16]

Der erste Grundsatz, bürgerliche Freiheit, steht heute unter der Herausforderung, dass die Bürger das politische System als unübersichtlich empfinden. „Es ist die notorische kognitive Überforderung der Bürger durch die Komplexität und oft die Neuartigkeit der zur Entscheidung anstehenden öffentlichen Angelegenheiten […].“[18] Potenziert wird dies durch eine fehlende Motivation der Bürger.

Politische Gleichheit, der zweite Grundsatz, empfinden die Bürger nicht, da ihre soziale Macht beschränkt ist im Gegensatz zu politischen Akteuren, die die politische Tagesordnung bestimmen können (Lobbyismus usw.).

Inwieweit Regierungen heute noch effektiv regieren können, der dritte Grundsatz, ist fraglich. Kritisiert wird hier von Offe, dass nationale Regierungen ihre Macht an internationale Institutionen abgeben. Des Weiteren werden politische Entscheidungen in nicht institutionalisierten Gremien, hinter verschlossenen Türen getroffen. Eine Regierung kann sich somit der politischen Verantwortung („blame avoidance“[19]) entziehen.

Offe fordert zusätzlich eine „Verantwortlichkeit“ von Regierungen. „Unter dieser Verantwortlichkeit sind zwei Modi der Kommunikation zwischen Politik und Gesellschaft zu verstehen, die in der feinkörnigeren englischen Terminologie als »accountability« und »responsibility«, als passiver und aktiver Aspekt von Verantwortlichkeit unterschieden werden.“[19]

Unter »accountability«[20] versteht Offe die Befähigung der Bürger politische Entscheidungen „kognitiv zu erfassen, sie Akteuren zuzurechnen und im Falle abweichender Präferenzen diese Akteure zur Verantwortung zu ziehen“.[21] Das Gegenteil ist die Dominanz einer Elite.

Unter »responsibility«[22] versteht Offe, dass die Regierenden die Verantwortung übernehmen für ihre Politik, also auch unpopuläre Lösungen durchzusetzen. Das Gegenteil wäre »responsiveness«, ein verantwortungsloses, populistisches Regierungshandeln.

Die Lösung der obigen Probleme, und somit eine Demokratisierung der Demokratie, sieht Offe in einer „»bottom-up«-Kommunikation des Wählens und Abstimmens, die »laterale« Kommunikation zwischen repräsentativen Akteuren und die »top-down«-Kommunikation des verbindlichen, in die Form von Regierungsentscheidungen, Rechtsbefehlen und Verwaltungsanordnungen gekleideten hierarchischen Entscheidens.“[23]

Bei der »bottom-up«-Kommunikation setzt Offe auf eine Stärkung der Zivilgesellschaft und des bürgerlichen Engagements. Die »laterale« Kommunikation soll das Verhältnis zwischen Institutionen und den Kollektivakteuren (z. B. Parteimitgliedern) verbessern. Zum Beispiel durch eine Reform des Föderalismus oder einer Reform der Parteiensysteme. Die »top-down«-Kommunikation soll »an der Spitze von Entscheidungshierarchien« ansetzen und »die Stärkung autonomer, sachverständiger, langfristig amtierender und unparteiischer, zumindest für eine längere Zeitstrecke dem Parteienkonflikt enthobener Gremien«[24] vorsehen.

Demokratisierung des Wissens

Wissen ist im 21. Jahrhundert fast jedem in westlichen Kulturkreisen sehr schnell zugänglich[25] und muss nicht mehr mühsam aus Bibliotheken zusammengesucht werden, deren Zugang auch nicht immer gegeben ist. Dank dem Internet, Web 2.0-Angeboten wie Wikipedia kann sich jeder Wissen aneignen. Hans-Ulrich Wehler merkt kritisch an, dass „die Bürger mit der Informationsflut nichts anfangen, wenn sie nicht gelernt haben, damit umzugehen. Sie müssen eine Auswahl treffen, interpretieren. Das setzt intellektuelle Fertigkeiten voraus, die mit dem technischen Zugang zu den Informationen nichts zu tun haben.“[26]

Siehe auch: Buchdruck, Informationskompetenz

Siehe auch

Literatur

  • Claus Offe (Hrsg.): Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, ISBN 3-593-37286-X.
  • Gert Pickel, Susanne Pickel (Hrsg.): Demokratisierung im internationalen Vergleich. Neue Erkenntnisse und Perspektiven. Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-15113-4.
  • Willy Strzelewicz: Industrialisierung und Demokratisierung in der modernen Gesellschaft. 1958.
  • Helmut Schelsky: Systemüberwindung, Demokratisierung und Gewaltenteilung. 1973.
  • Fritz Vilmar: Strategien der Demokratisierung. 2 Bände, 1973.
  • Christian Haerpfer, Patrick Bernhagen, Ronald Inglehart, Christian Welzel: Democratization. Oxford University Press, 2009, ISBN 0-199-23302-0

Weblinks

Fußnoten

  1. Geoffrey Pridham: The dynamics of democratization: a comparative approach. 2000, S. 16.
  2. Vgl. Otfried Höffe: Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung. C. H. Beck, München 2004, S. 10; vgl. auch S. 93.
  3. Susanne Buckley-Zistel: Demokratisierung.
  4. Susanne Buckley-Zistel: Demokratisierung.; siehe auch: en:Regime change
  5. Susanne Buckley-Zistel: Demokratisierung.
  6. Samuel Phillips Huntington: The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century. University of Oklahoma Press, 1991, ISBN 0-8061-2516-0; siehe auch: en:The Third Wave of Democratization
  7. Wolfgang Merkel In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 43.
  8. Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. 5. Auflage. Bonn 2010, ISBN 978-3-8389-0059-9, S. 434.
  9. http://www.hurriyetdailynews.com/n.php?n=the-arab-spring-the-5.0-democracy-wave-2011-08-19
  10. Kenan Engin: Die fünfte Welle der Demokratisierung im islamisch-arabischen Raum? 27. April 2011, abgerufen am 31. Juli 2011
  11. http://www.turkishweekly.net/op-ed/2881/the-arab-spring-and-the-waves-of-democracy.html
  12. Vgl. Wolfgang Merkel In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 67 f.
  13. Wolfgang Merkel In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 62.
  14. Wolfgang Merkel In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 71.
  15. Vgl. Claus Offe In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 9.
  16. a b Claus Offe In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 11.
  17. Claus Offe In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 12.
  18. Claus Offe In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 13.
  19. a b Claus Offe In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 15.
  20. en:/Accountability
  21. Claus Offe In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 16.
  22. en:Social responsibility
  23. Claus Offe In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 18
  24. Claus Offe In: Claus Offe, Heidrun Abromeit, Arthur Benz, Klaus von Beyme: Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt 2003, S. 19.
  25. Digitale Demokratisierung des Wissens in der NZZ vom 19. November 2007
  26. Keine echte Revolution Interview mit dem Handelsblatt vom 27. August 2001

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