Demographischer Übergang

Demographischer Übergang
Dieser Artikel beschreibt den Demografischen Übergang, der seit der Zeit der Industrialisierung stattgefunden hat. Für den neueren Demografischen Wandel siehe dort.
Empirischer Beleg: Schweden

Unter dem Begriff Demografischer Übergang wird in der Demografie der Versuch zur Erklärung von Veränderungen in der Bevölkerungsentwicklung von Staaten bzw. Gesellschaften verstanden. Das Modell des demografischen Übergangs (auch Theorie des demografischen Übergangs oder aus dem Englischen Demografische Transformation) ist im wissenschaftlichen Sinn keine Theorie, sondern eine modellhafte Beschreibung des Übergangs von hohen zu niedrigen Sterbe- und Geburtenraten und dem daraus resultierenden veränderten natürlichen Bevölkerungswachstum.

Das Modell geht auf erste Ansätze von Warren S. Thompson (1929) und Frank W. Notestein (1945) zurück und wurde später von unterschiedlichen Autoren aufgegriffen und verfeinert. Das Modell hat Anwendung gefunden:

  • zur idealtypischen Beschreibung der Veränderungen von Mortalität und Fertilität in den westlichen Industrieländern (v.a. England und Schweden)
  • zur Typisierung verschiedener Länder hinsichtlich ihres Standes in der demografischen Entwicklung und
  • um nach den Ursachen des Transformationsprozesses zu fragen.

Inhaltsverzeichnis

4-Phasen-Modell

4-phasiges Modell des demografischen Übergangs

Das ursprüngliche Modell wird in vier Phasen unterteilt:

  • PHASE I (high stationary)
    • stark schwankende Geburten- und Sterberate, die auf hohem Niveau dicht nebeneinander liegen.
    • Kein wesentliches Bevölkerungswachstum bei hohem demografischem Umsatz.
  • PHASE II (early expanding)
    • Schere öffnet sich durch Sinken der Sterberate bei etwa gleich bleibender Geburtenrate.
    • Es entsteht ein Geburtenüberschuss, der sich laufend vergrößert (Babyboom).
  • PHASE III (late expanding)
    • Schließen der Schere: Die Geburtenrate sinkt, und zwar sehr bald rascher als die Sterberate.
    • Der Geburtenüberschuss nimmt laufend ab.
  • PHASE IV (low stationary)
    • Geburten- und Sterberate liegen auf tiefem Niveau eng beieinander.
    • Kein wesentliches Bevölkerungswachstum bei niedrigem demografischem Umsatz.
  • Sonderform:
    • Geburtenrate überlappt Sterberate und die Bevölkerung nimmt ab.

Für die Staaten der westlichen Welt (u.a. Westeuropa, Nordamerika) kann etwa folgende chronologische Einteilung angenommen werden: Phase I: vorindustrielle Zeit bis etwa 1840; Phase II: 1840-1910; Phase III: 1910-1980/90 (mit starken Schwankungen aufgrund der beiden Weltkriege, der Weltwirtschaftskrise und des Babybooms); Phase IV: seit den 1980er Jahren bis heute; aufgrund der niedrigen Fruchtbarkeitsraten (zwischen 1,2 in Spanien und Singapur und 2,0 in Irland und den USA) und kann nur noch durch Einwanderung ein geringes Bevölkerungswachstum erhalten werden.

5-Phasen-Modell

neueres 5-phasiges Modell des demografischen Übergangs

In neueren Arbeiten (ca. 1970er Jahre) wird vielfach nicht zwischen vier, sondern fünf Phasen des demografischen Transformationsprozesses unterschieden:

  • PHASE I Prätransformative- oder Vorbereitungsphase:
    • hohe, kaum voneinander abweichende Geburten- und Sterberaten
    • Sterberate kann größere Schwankungen aufweisen und zeitweilig (durch Krankheiten, Seuchen, Hungersnöte, Kriege) die Geburtenrate übertreffen
    • sehr geringes Bevölkerungswachstum.
  • PHASE II Frühtransformative- oder Einleitungsphase:
    • die Geburtenrate bleibt konstant hoch, kann sogar aufgrund des verbesserten Gesundheitszustandes der Frauen leicht ansteigen
    • langsames, meist nicht gleichmäßiges Absinken der Sterberate.
    • die Bevölkerungsschere öffnet sich
  • PHASE III Mitteltransformative- oder Umschwungphase
    • aufgrund besserer medizinischer Versorgung und verbesserter Hygiene fällt die Sterberate auf ein sehr niedriges Niveau; die Geburtenrate geht langsam zurück, aufgrund des veränderten "generativen Verhaltens". Früher brauchte man für die Altersversorgung mehr Kinder, da man durch die hohe Sterberate davon ausging, dass ca. 50% sterben. Durch die bessere medizinische Versorgung setzt jetzt ein Umdenken ein und es ist ausreichend, wenn man weniger Kinder hat, da diese durch die verbesserte medizinische Versorgung auch mit hoher Wahrscheinlichkeit überleben werden. Des Weiteren spart man Kosten, da Kinder von ca. 0-15 Jahren ein großer Kostenfaktor sind.
    • das Bevölkerungswachstum erreicht seinen höchsten Stand
    • meistens "öffnet" sich in dieser Phase das "demografische Fenster", das bedeutet, dass der Großteil der Bevölkerung im Alter von ca. 15-65 ist, also im arbeitsfähigen Alter. Dieser Anteil ist größer als der Jugendsockel (Bevölkerung im Alter von ca. 0-15) und der Rentensockel (Bevölkerung im Alter ab ca. 65). Somit gibt es mehr Menschen, die etwas erwirtschaften, als Menschen, die versorgt werden müssen. Als Folge erlebt das Land meist einen wirtschaftlichen Aufschwung.
  • PHASE IV Spättransformative- oder Einlenkungsphase:
    • die Sterberate sinkt kaum noch; die Geburtenrate nimmt dagegen sehr stark ab (durch bekannte Methoden und Mittel der Empfängnisverhütung)
    • das Bevölkerungswachstum geht zurück, die Bevölkerungsschere schließt sich
  • PHASE V Posttransformative- oder ausklingende Phase
    • Geburten- und Sterberate sind stabil und niedrig
    • Bevölkerungswachstum ist gering und unterliegt kaum Schwankungen

Variables Modell

Variables Modell des demografischen Übergangs

Der in der Empirie festgestellte demografische Übergang ist nicht in allen europäischen Ländern gleich verlaufen. Begonnen hat er in England und dauerte dort ca. 200 Jahre, während er in Ländern wie den Niederlanden oder Deutschland nur 90 bzw. 70 Jahre dauerte. Entsprechend schneller wurde auch der demografische Übergang abgeschlossen.

Nicht nur die Dauer, sondern auch die Ausprägung der Bevölkerungsschere ist in den europäischen Ländern unterschiedlich. Eine Ausnahme stellt z.B. Frankreich dar: Der Rückgang von Sterbe- und Geburtenrate erfolgte fast gleichzeitig. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern kam es also zu keinem starken Bevölkerungszuwachs durch eine große Scherenöffnung.

Um solche Abweichungen mit einzubeziehen, wurde in den 1980er Jahren das variable Modell des demografischen Übergangs entwickelt. Indem es verschiedene Kurven der Geburtenrate (g1, g2, und g3) sowie der Sterberate (s1, s2 und s3) gibt und diese unterschiedliche Neigungen aufweisen, können unterschiedliche Transformationsprozesse im Modell abgebildet werden. Z.B.:

  • Der Verlauf des französischen Übergangs wird durch die Kurven, die eng beieinander liegen, dargestellt (s1 und g1); in Deutschland liegen die Kurven entsprechend weiter auseinander (s2 und g2).
  • In Staaten der Dritten Welt kann deren Verlauf durch die Kurven, die weit auseinander liegen, dargestellt werden (s3 und g3).

Damit ist das Modell des demografischen Übergangs flexibel genug, um eine Klassifizierung und Typisierung von Staaten hinsichtlich ihres Standes im Prozess des demografischen Übergangs und in der Art, wie dieser abläuft, zu erlauben.

Kritik

Das oben beschriebene Modell kann a priori nicht weiter kritisiert werden, da es unter dem modellhaften Charakter lediglich eine Beschreibung vorgefundener Entwicklungen darstellt und diese eben bestätigt oder nicht.

Versteht man das oben beschriebene Modell allerdings als eine wissenschaftliche Theorie, muss das sukzessive Durchlaufen der einzelnen Phasen als zwingende Hypothese interpretiert werden und das Modell kann weiterhin zur Prognose der Bevölkerungsentwicklung in Staaten dienen. Dabei hat sich das variable Modell als am besten geeignet gezeigt. An der Theoriekonzeption sind jedoch folgende Kritikpunkte geübt worden:

  • kulturspezifisch (da auf westlichen generativen Verhaltensmustern aufbauend)
  • bestimmende Faktoren nicht hinreichend erklärt (generatives Verhalten als Ergebnis des Modernisierungsprozess korreliert nur bedingt)
  • geringer Prognosewert (nur qualitative Aussage, dass Geburtenrate irgendwann nach der Sterberate absinkt)
  • Entwicklung nicht abgeschlossen (keine Stabilisation der Bevölkerungsentwicklung in den Industrieländern, sog. Zweiter Demografischer Übergang)

Literatur

  • Thompson, Warren S. (1929): "Population". American Journal of Sociology 34(6): 959-975
  • Landry, Adolphe, 1982 [1934], La révolution démographique. Études et essais sur les problèmes de la population, Paris, INED-Presses Universitaires de France
  • Notestein, Frank W. (1945): "Population — The Long View," in Theodore W. Schultz, Ed., Food for the World. Chicago: University of Chicago Press
  • Hummel, Diana: Der Bevölkerungsdiskurs, Demographisches Wissen und politische Macht. Opladen: Leske + Budrich 2000, ISBN 3-8100-2963-7.(insb. Kapitel 8.3)
  • Dinkel, Reiner: Demographie, Band 1: Bevölkerungsdynamik. München: Vahlen 1989, ISBN 3-8006-1310-7
  • Bähr, Jürgen: Bevölkerungsgeographie.Stuttgart: Ulmer 1997, ISBN 3-8252-1249-1

Siehe auch

Weblinks


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