Dem Deutschen Volke

Dem Deutschen Volke
Die Inschrift am Giebel des Reichstags

Dem deutschen Volke (Originalschreibweise: „DEM DEUTSCHEN VOLKE“) lautet seit 1916 die Inschrift über dem Westportal des Berliner Reichstagsgebäudes.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte der Inschrift

Der Reichstag um 1900 – noch ohne Widmung
Der beschädigte Reichstag 1945
„Dem deutschen Volke“ – Inschrift im Fries des Giebels vom Reichstagsportikus unter gläserner Kuppel nach Umbau 1999

Von der Idee bis zur Umsetzung

Der Architekt des Reichstagsgebäudes Paul Wallot hatte die Widmung für den 1894 fertiggestellten Neorenaissance-Bau festgelegt. Daraufhin entzündete sich ein Streit um diese Inschrift. Der Berliner Lokal-Anzeiger nannte den Plan „naiv, beinahe komisch“, denn der Besitzer des Hauses sei „das deutsche Volk, welches der Bauherr war“: „Daß der Baumeister dem Bauherrn widmet, ist nicht üblich“.[1] Als Gegenvorschläge brachten u. a. die Reichstagsbaukommission „Dem Deutschen Reiche“ und Kaiser Wilhelm II. „Der Deutschen Einigkeit“ vor.[2]

Wahrscheinlich hat Wilhelm II. den Schriftzug zunächst verhindert. Gleich nach seinem Amtsantritt 1888 hatte er eine „Reichstagsausschmückungskommission“ ernannt, die Wallot gegenüber weisungsbefugt und ihrerseits dem Kaiser treu ergeben war.[3] Für die ablehnende Haltung des Deutschen Kaisers liefert Hans Haacke (s. u.) folgende Erklärung:

Der Begriff des Volkes hat eine zwiespältige Geschichte. 1789 war es das peuple français, das die Bastille stürmte und die Republik ausrief. Eben diese revolutionäre Anmutung war es, die Wilhelm II. bewog, die von Wallot vorgesehene Widmung am Reichstagsportal 21 Jahre lang zu verhindern. Erst als 1915 der Enthusiamus für das Kriegspielen zu erlahmen drohte, ließ er sich umstimmen. Er stellte dann sogar zwei in den napoleonischen Kriegen erbeutete Kanonen zum Einschmelzen für die ungeliebte Inschrift zur Verfügung. Die erhoffte Stärkung der Heimatfront war ihm das wert. Wallots projektierte Huldigung an die Nutzer seines Gründerzeitmonstrums hatte sich im großen Krieg der Nationen am Anfang des Jahrhunderts in eine martialische Parole verwandelt.[4]

Die von Wallot für den Spruch vorgesehene Stelle blieb mehr als 20 Jahre lang leer. Innerhalb dieser Zeit gab es immer wieder Vorschläge, die jedoch alle abgelehnt wurden, bis ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges der Unterstaatssekretär im Reichskanzleramt, Wahnschaffe, seine Sorge in einem Brief an den Chef des Zivilkabinetts, Valentini, zum Ausdruck brachte, dass der Kaiser mit jedem weiteren Kriegstag die Unterstützung des Volkes verlöre, und es begrüßenswert sei, wenn der Kaiser etwas gegen diesen Treueverlust unternehmen würde durch die Anbringung der Inschrift. Wilhelm II. ließ antworten, dass er keineswegs eine ausdrückliche Genehmigung für die Inschrift erteilen werde, aber sollte die Reichstagsausschmückungskommission beschließen, die Inschrift anzubringen, würde er dagegen keine Bedenken mehr erheben.[5] Die Inschrift wurde im Dezember 1916 angebracht.

Auch über die Schriftart, in der die Widmung auszuführen sei, gab es Streit: Während einige für eine klassische Capitalis plädierten, wollten andere am deutschen Reichstag die „deutsche Schrift“ Fraktur sehen.[6] Als Kompromiss gestaltete der Architekt und Typograph Peter Behrens den Schriftzug zusammen mit Anna Simons in „nicht weniger als eine[r] alldeutsche[n] Nationalschrift […], eine[r] Kapital-Unzial-Fraktur-Bastarda“:[7]

Mit einem zwischen schräggestellter Breitfeder und Flachpinsel lavierenden Duktus modifiziert sie die Grundformen der klassischen Unziale (E, U, T) durch Sporen der linken Schaftfüße in M, H, N und K und Brechung der rechten in M, U, H, N, Knickung des oberen Bogenprofils von E, M, S, C und Serifierung der Schaftansätze in U, H, K und L, indem sie die Rundungen streckt (D) und die Geraden rundet (V) und die Aufschrift in einen vitalistisch-flammenden Kontrapunkt zur geometrischen Architektur verwandelt.[8]

Zwei erbeutete Kanonen aus den Befreiungskriegen gegen Frankreich 1813–1815 wurden für die Herstellung der 60 cm hohen Buchstaben eingeschmolzen. Die Ausführung der Arbeit wurde von der Bronzegießerei Loevy, einem jüdischen Familienunternehmen, übernommen.

Die im Zweiten Weltkrieg beschädigte Inschrift wurde nach dem Krieg wiederhergestellt und beim Umbau des Gebäudes 1994–1999 erneuert.

Gegenentwurf: Der Bevölkerung

Im Jahr 2000 wurde vom Künstler Hans Haacke im Lichthof des Reichtags das umstrittene Kunstwerk Der Bevölkerung errichtet.

Auf die Frage, was ihn an der Giebelinschrift störe, antwortete Haacke:

Die alte Reichstagsinschrift ist unglücklicherweise historisch belastet. Vergessen wir nicht, dass die Nazis mehr als 100 Reichstagsabgeordneten die Zugehörigkeit zum deutschen Volk aberkannt hatten. 79 von ihnen sind umgekommen. Auch die Söhne der Bronzegießer, die die Inschrift im kaiserlichen Auftrag aus napoleonischen Beutekanonen gegossen hatten, sind ermordet worden. Heute sind fast zehn Prozent der Bewohner der Bundesrepublik nicht deutsche Staatsbürger. Wie andere zahlen sie Steuern. Ohne sie wäre es um die Exportkapazität der deutschen Wirtschaft schlecht bestellt. Aber seit Jahren sind sie Opfer vom Hass auf „Andere“, ihre Wohnungen werden niedergebrannt, sie werden wieder auf der Straße angerempelt und niedergetrampelt, weil sie nicht deutsch genug erscheinen, und es gibt Bundestagsparteien, die mit Fremdenhass auf Stimmenfang gehen. Die vom Bundestag verabschiedeten Gesetze und natürlich auch das Grundgesetz, das die Gleichheit aller proklamiert, gelten auch für die Bewohner, die keinen deutschen Pass haben. Die Abgeordneten sind deshalb auch ihnen gegenüber moralisch verantwortlich.[9]

An anderer Stelle sagte Haacke:

Der Volksbegriff […] – insbesondere in der Wortkombination „deutsches Volk“, die eine mythische, ausgrenzende Stammeseinheit impliziert – [ist] mit einem radikal undemokratischen Verständnis der res publica assoziiert. Es ist dieses spätestens seit der Invasion der Römer dubiose Ahnenpassdenken, das den Verbrechen der „Volksgenossen“ den Weg bereitet hat. Und es ist dieser eine Blutsgemeinschaft suggerierende Volksbegriff, der immer noch Unheil stiftet […].[10]

Interpretation

Syntaktisch betrachtet ist die Inschrift „Dem deutschen Volke“ eine Nominalgruppe im Dativ. Solche Nominalgruppen ohne Bezugssatz finden sich häufig am Beginn eines Buches, wobei man sich dort beispielsweise das Verb „widmen“ hinzudenken kann. Wenn man die Widmung verstehen will, muss man allerdings zwei Ergänzungen vornehmen – man muss die Frage beantworten, wer etwas widmet (Subjekt) und was gewidmet wird (Akkusativ-Objekt).

Wenn man davon ausgeht, dass mit der Inschrift das Gebäude dem deutschen Volk selbst gewidmet (also geschenkt bzw. übereignet) werden soll, so ergibt das wenig Sinn, wie schon die Berliner Zeitung festgestellt hatte (siehe oben). Allerdings ist das Gebäude ja auch ein Symbol für das Parlament als Volksvertretung und im weiteren Sinne für die Regierung. Eine sinnvollere Interpretation der Inschrift ist also: „(Dieses Parlament ist) dem deutschen Volk (gewidmet)“ oder so: „(Die Arbeit der Reichspolitiker ist) dem deutschen Volk (gewidmet)“. Auch ohne Ergänzung von „widmen“ lässt sich diese Bedeutung als Ausdruck eines Parlaments für das deutsche Volk nachvollziehen.

Auch wenn diese Interpretation nur eine von vielen möglichen Interpretationen ist, so hat sie doch den Vorteil, dass sie durch die tatsächlichen Ereignisse bestätigt wird. In der konkreten historischen Situation erlaubte der Kaiser, die Inschrift anzubringen, um verlorenes Vertrauen in seine Politik und die Politik der Regierung wiederherzustellen.

Einzelnachweise

  1. Rainer Haubrich: Dem deutschen Volke. Das Reichstagsgebäude und andere Hauptstadt-Architekturen. In: Die Welt vom 24. Juli 1999 (online)
  2. Peter Rück: Die Sprache der Schrift – Zur Geschichte des Frakturverbots von 1941. In: homo scribens: Perspektiven der Schriftlichkeitsforschung. Hg. Jürgen Baurmann, Hartmut Günther, Ulrich Knoop. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 231–272, hier S. 245.
  3. Weltkulturerbe. Der Reichstag in Berlin (online)
  4. Wem gehört das Volk? Ein Gespräch mit Hans Haacke von Matthias Flügge und Michael Freitag in neue bildende kunst, Berlin, Nr. 7, Dezember l999 (online)
  5. Michael S. Cullen: Das Reichstagsgebäude. Ein Baugeschichtlicher Überblick. Zentral- und Landesbibliothek Berlin 1995 (online)
  6. Rück, Die Sprache der Schrift, S. 245.
  7. Rück, Die Sprache der Schrift, S. 246.
  8. Rück, Die Sprache der Schrift, S. 246.
  9. Vera Stahl: Hans Haacke – „Der Reichstag ist ein imperialer Palast“. Spiegel online vom 12. September 2000 (online)
  10. Matthias Flügge und Michael Freitag: Wem gehört das Volk?. Ein Gespräch mit Hans Haacke. In: neue bildende kunst, Berlin, Nr. 7, Dezember 1999 (online)

Weblinks


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