Das neue Leben (Pamuk)

Das neue Leben (Pamuk)

Das neue Leben (türkischer Originaltitel: Yeni Hayat) ist ein Roman von Orhan Pamuk, dessen Titel auf Dantes gleichnamiges Werk (Vita Nova) anspielt. Das bei Yeni Hayat in Istanbul 1994 erschienene Werk gilt als Pamuks literarisch bedeutendster Roman.

Inhaltsverzeichnis

Ein Buch, das das Leben verändert

Der Roman beginnt mit dem Satz "Eines Tages las ich ein Buch, und mein ganzes Leben veränderte sich." Der 22 Jahre alte Osman, Bauingenieurstudent aus Istanbul, verspürt die lebensverändernde Kraft des geheimnisvollen Buches wie Dante die erste Begegnung mit Beatrice, der Liebe seines Lebens. Ein Licht strömt Osman aus dem Buch entgegen, das ihn "neu und anders" werden lässt.

Wie in Novalis' Heinrich von Ofterdingen sind es die Erzählungen eines rätselhaften Fremden, die im Helden der Geschichte Visionen eines neuen Lebens, den Traum von der blauen Blume entstehen lassen.

"Unterdessen lag das Buch auf dem Tisch und sprühte mir sein Licht ins Gesicht..." Das Licht ist eines der zentralen Symbole des Romans, das Licht der Fernseher in ihrer verschiedenen Farbigkeit, das kalte, strahlende Licht des Winters, das Leuchten Canans, der Geliebten, die Lampe, die das Buch bescheint, die Lichter Istanbuls, das "Todeslicht" der entgegenkommenden Lastwagen, das den Erzähler am Ende in den Tod reißt.

Während sich die Eindeutigkeit des Gemeinten immer mehr auflöst, beginnen die verschiedenen Lichter aufeinander zu verweisen. Das strahlend weiße, kalte Licht des Winters, der das Sehen fast unmöglich macht, verweist auf das Licht des Buches, das blendet und erleuchtet zugleich. Der Fernseher ist zugleich eine magische Lampe, ein Gott. Es entsteht eine eigene Welt der Zeichen, deren Bedeutung weniger durch die Bezeichnungsfunktion als durch die Beziehung zueinander und die jeweilige Interpretation bestimmt ist.

Pamuk ist zugleich fasziniert von diesem Spiel, kennt aber auch seine Gefahren und Abgründe. "Die Türkei ... ist ein Land, in dem sich allgemeine, fertige Theorien, paranoide Ideen sowie die Wahnvorstellung, dass alles mit allem zusammenhänge, eingenistet haben." (Schreibheft 52)

Die Dinge werden zu Zeichen, das Rasierwasser wird zum Symbol einer Geheimorganisation, das Bonbon steht für die traditionelle Variante des neuen Lebens. Pamuk knüpft hier an Vorstellungen der deutschen Romantik an, die in der Natur, den Gegenständen Zeichen für die wahre, poetische Welt entdecken wollten. So liegt in der romantischen Vorstellung der Weg zur Überschreitung des Alltags in diesem selbst verborgen, erweisen sich die Gegenstände dem Erleuchteten als Verweise auf die universelle Transzendenz. Die blaue Blume, die große Liebe, das andere Leben, die Poesie, leuchten im Alltag auf, wenn man den Weg zu ihnen findet.

"Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Tiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mir ist gerade so, als wollten sie augenblicklich anfangen, und als könnte ich ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten." (Novalis, Heinrich von Ofterdingen)

"Also schienen auch die Dinge eine Sprache zu besitzen, und dank der vorübergehenden Lautlosigkeit, in die mich das Buch hineingezogen hatte, begann ich jetzt, diese Sprache zumindest ein wenig zu verstehen." (Orhan Pamuk, Das neue Leben)

Die Grenze zu einem anderen, neuen Leben zu überschreiten erweist sich jedoch als schwer, geht mit Todesgefahr und Realitätsverlust einher, Osman spürt sie von Anfang an bei der Lektüre des Buches, die "Begegnung mit seinem eigenen unausweichlichen Tod". Erscheint die Faszination Osmans für das geheimnisvolle Buch zunächst als mystische Romantik, koppelt Pamuk die Erlebnisse seines Helden an die Realität der Türkei. Ob Grundsätze marxistischer Philosophie, esoterische Texte oder islamistische Erbauungsliteratur, die Zahl der jungen Menschen, die glauben, in einer Idee, einem Buch den Schlüssel zu einem neuen Leben gefunden zu haben, ist groß.

Die Liebe

Antonello da Messina, Pietà mit drei Engeln (Detail)

"Am nächsten Tag verliebte ich mich", beginnt der Ich-Erzähler das zweite Kapitel. Die scheinbar zufällige Begegnung mit der schönen Architekturstudentin Canan, in deren Hand Osman das geheimnisvolle Buch zuerst gesehen hatte, erweist sich erst viel später als geplante Verführung. Canans Freund Mehmet eröffnet Osman, dass man die Leser des Buches systematisch verfolge und zu ermorden versuche. All das kann Osmans Entschlossenheit nicht mehr stoppen: "Ich ließ mich selbst zurück und lief ihr nach."

So folgen denn Osmans faszinierte Blicke der schönen Canan, jetzt wie Dantes Beatrice bei der ersten Begegnung im purpurnen Gewand, um Zeuge eines Mordanschlages auf Mehmet zu werden.

Das eisige Fenster der Universität, durch das Osman die Ereignisse beobachtet, wird für ihn zum Symbol für die Grenze zwischen altem und neuem Leben, hinter dem Fenster des Busses im Moment des Unfalls sucht er das Gesicht eines Engels. Halbdurchsichtige Spiegel sind die Übergangsstellen zwischen Transzendenz und Alltag, die "Schwellen", die es zu überschreiten gilt.

Spiegel

Porträt von Rainer Maria Rilke

Das von Rilke übernommene Symbol des Spiegels verarbeitet Pamuk mehrfach: Als Gegenstand, wenn je nach Beleuchtung hinter und auf den Scheiben der Busse das eigene Gesicht, die Bilder der Außenwelt, die Engelserscheinung zu sehen sind. Gleichzeitig aber auch, wenn die Berichte anderer dem Erzähler die eigenen Erlebnisse aus anderer Perspektive schildern, den Besuch bei Tante Ratibe ebenso wie die erste Begegnung mit Canan. Wie im Spiegel tauchen die Ereignisse mehrfach auf. Die Spiegel erweisen sich aber als Zerrspiegel, jeder wirft ein anderes Bild der Wirklichkeit zurück.

Dabei ist die Realität der Alltagswelt von vornherein ebenfalls angekränkelt, einmal durch das Fernsehen, dem Lebenslicht der Welt, durch das die Realität in die Wohnungen Istanbuls strömt. Die wirklichen Fenster und die Fernsehfenster sind dem Alltagsmenschen gleich real: So wie die Vorhänge nie ganz zugezogen werden, um nichts zu verpassen, was auf der Straße vor sich geht, so bleiben auch die Fernseher immer geöffnete Fenster, um den Kontakt zur durch sie hereinströmenden Realität und Lebensspannung niemals abreißen zu lassen, um nicht vor Langeweile zu platzen.

Die Reise

Die Reise, die Osman antritt, um in die Welt Canans und die des Buches zu gelangen, gilt der Flucht vor beiden Realitäten: Sowohl der "falschen" Realität des Fernsehens als offiziellem Wegweiser durch die gleichzeitig immer erst produzierte gesellschaftliche Realität, als auch der Welt der Mütter, der Frauen, die zu Hause eine gemütliche Welt als Fluchtpunkt für die in Vorrat halten, die sich der als bedrohlich erfahrenen Berufsrealität aussetzen. Stabilisiert der Fernseher diese soziale Funktion der Frauen/Mütter, macht seine unfassbare Langeweile erst erträglich, so stabilisiert die Welt der Mütter/häuslichen Frauen wiederum die irreale Welt der "draußen" Lebenden, die wiederum, verzerrt, durch die Fernsehgeräte an den häuslichen Alltag angekoppelt wird.

Das Fernsehen wie das Buch übernehmen über die Funktion der Wirklichkeitsinterpretation hinaus zunehmend die Vermittlung menschlicher Kommunikation. Tante Ratibe sitzt im Winkel von 45 Grad zum Fernseher und bietet somit dem verstorbenen Onkel wie dem Besucher einen Co-Pilotensitz zur gemeinsamen Mensch-Maschine-Kopplung an.

Die Flucht aus den unauflöslich verkoppelten "Realitäten" des Fernsehens und der Familie bleibt den Müttern rätselhaft; Mütter verstehen nicht, sie weinen, sagt Canan. Der Take Off Osmans verändert seine Realität, indem sie ihr eine ungeheure Tiefe verleiht. Die Welt scheint sich zu verdoppeln, alles wird zu einem verflochtenen System von Zeichen, die aufeinander verweisen.

Auf der Spur des Neuen Lebens folgt Osman gleichzeitig seiner Geliebten, die Uhren werden zur Metapher für eine bedrohliche Geheimorganisation, die sich wieder als überraschend real und doch mit der Welt des Buches verbunden erweist. Dabei sind die Beziehungen vielfältig, zum Teil bloße Ähnlichkeiten des Äußeren oder der Begriffe, zum Teil echte Verwandtschaften, etwa, wenn sich der Leiter der Geheimorganisation als der Vater Mehmets erweist.

Kemal Atatürk um 1930

Die Alltagsgegenstände entpuppen sich als Zeichen für die andere Realität, scheinen aber gleichzeitig für bestimmte türkisch-osmanische Traditionen und Identitäten zu stehen. Diese Identitäten werden von Pamuk von Anfang an ironisiert, ihre Reinheit als Täuschung erwiesen: So zeigen sich schon die Kinderbücher Onkel Rifkis als mit typischen Westernmotiven durchsetzt, ihre Geschichten als Darstellungen typisch türkischer Tugenden verbergen kaum ihre Herkunft aus den westlichen Idealen.

Die Fortschrittsideale Onkel Rifkis, repräsentiert durch Eisenbahnen, Kooperativen und aufklärerische Schriften, stehen für Atatürks angegrautes Projekt einer modernen westlichen Türkei. Die Bahnlinien als Symbole westlicher Modernität, der Ankoppelung an die moderne Ökonomie, die innertürkische Verbindung von Ost und West, werden nicht weitergebaut. Atatürk steht als stummer Zeuge auf den Plätzen der Provinzorte, verstaubt und voller Taubendreck und schaut auf die Monumente uniformierter, hässlicher Verwestlichung aus Beton wie ein Gefangener. Die Eisenbahn, die für Canans Mann für das Leben im richtigen Gleis steht, - man wohnt später im glücksverheißenden Deutschland in der Bahnhofstraße (299) - , erfüllt ihren Auftrag als Retter des Landes nicht.

Literarische Techniken

Um dem Leser die Vieldeutigkeit und die Metaphysik der äußeren und inneren Welt, die plötzlich auf Osman einströmt, nachvollziehbar zu machen, ja den Leser selbst in die Haltung Osmans hineinzuziehen, ihn zumindest vorübergehend der Realität zu entziehen und ihn für die Geschichte zu gewinnen, bedient sich Pamuk verschiedener Techniken: Oben wurde bereits darauf hingewiesen, wie Pamuk die zentralen Begriffe des Buches mit Bedeutungen und wechselseitigen Verweisstrukturen auflädt, und so die Lichter, die Fenster, das Buch, ja die Alltagsgegenstände zu einem komplexen System eigenartiger Bezüge und Scheinerklärungen macht.

Dabei bleibt der Leser immer darüber im Unklaren:

  • wie genau die einzelnen Begriffe zu verstehen sind; es gibt keine klaren Definitionen, die durch genaue Textlektüre zu gewinnen wären
  • in welchem Verhältnis die Begriffe zueinander stehen, das Licht der Engel, des Buches etwa. Es ist nicht möglich, eine Mind Map, eine Karte der begrifflichen Zusammenhänge zu zeichnen. Nur dem jungen Arzt gelingt es und er gewinnt dadurch die Liebe Canans. Seine Interpretation, seine Karte ist aber mindestens ebenso dunkel wie der Text.
  • ob die Verweisungszusammenhänge überhaupt nachvollziehbar oder Produkte eines gefährlichen Realitätsverlustes sind und ob man sich der Deutungswut Osmans nicht unbedingt entziehen muss, um nicht in Lebensgefahr zu geraten, wie Mehmet am Anfang des Buches meint.

Der Leser gerät an die Stelle Osmans, der auf der Spur Onkel Rifkis das gleiche tut wie der Leser mit Orhan Pamuk. Am Ende des Buches mischt sich dieser auch noch direkt ein und macht die Verwirrung der Identitäten komplett. Osman wird Mehmet als Geliebter Canans und des Buches, Mehmet lebt als Osman in der Traumstadt Osmans Viranbag. Ist Rifki Pamuk, ist der Leser Osman? Das Buch entpuppt sich als Maschine, in die sich der Leser einkoppeln kann. Als gefährliches Spielzeug, dem der Deutungswütige zum Opfer fällt, als Hobby für gebrochene Männer.

Der romantische Traum vom universalen Verweisungszusammenhang, von der Rettung der Einheit der Welt, wird in der Moderne zum Alptraum. Gleichzeitig erscheint die Lösung der Begriffsrätsel und Sprachspiele als ungeheuer wichtig, als Frage von Leben und Tod, als einziger Weg zur Gewinnung einer sinnvollen Lebensperspektive, eines wahren Lebens im falschen.

Ein weiteres Mittel, den Blick des Lesers für die Realität hinter der Realität zu schärfen und ihn damit in die "Falle" des Buches zu locken, ist die Verwendung vielfältiger verdeckter und offener, zum Teil im Buch offen gelegter Referenzen auf kulturhistorische und kollektive Symbole. Das eigenartige Bild der neunjährigen Canan im Engelskostüm verweist den westlichen Leser auf Dantes literarische Hauptwerke, das neue Leben und die (göttliche) Komödie. Dante begegnet seiner großen Liebe Beatrice im Alter von neun Jahren zum ersten Mal und ist so fasziniert, dass er in diesem Moment ein neues Leben in sich fühlt.

Die als westlich erkannte Zahlenmystik der Neun, als deren Wurzel Dante die hl. Dreifaltigkeit bezeichnet, hat aber auch ihre östliche Referenz:

"Urwa berichtet auf Autorität von Aisa: Der Prophet heiratete Aisa als sechsjähriges Mädchen. Im Alter von neun Jahren wurde sie zu ihm gebracht. Und neun Jahre lang bis zu seinem Tod war sie seine Frau." (al-Buchari: Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammed)

Dante

Es ist diese verdeckte Mischung östlicher und westlicher Inspirationen und mastischer Bilder, die Pamuk fasziniert und das Lesen seiner Werke zu einer abenteuerlichen Reise zwischen Ost und West macht. Pamuk verwendet raffiniert Zahlenmystik und Farbsymbolik Dantes für seinen Zweck, modifiziert sie, gruppiert sie um.

Die mittelalterliche Liebesvorstellung, sich und sein Leben einer unnahbaren Geliebten zu widmen, findet sich dabei ebenso im Text wieder wie die erotischen Motive. Die Verschlüsselung erweist sich bei genauerem Hinsehen als äußerst komplex. Neben der spätmittelalterlichen Quelle Dante macht sich Pamuk auch die romantische Deutung und Verarbeitung der mittelalterlichen Motive zu eigen und verbaut Elemente daraus in seinem Buch, vor allem aus dem Heinrich von Ofterdingen von Novalis.

Wie dort ist bei Pamuk das neue Leben nicht in der unmittelbaren, wenn auch symbolisch überhöhten Liebesbegegnung begründet, sondern in der Lektüre eines Buches, dessen Inhalt sich einige Leser in besonderer Weise zu eigen machen. Im Ofterdingen ist der Ausgangspunkt die Erzählung eines alten Mannes, die, obwohl viele sie hören, nur bei Heinrich die Lebenswende hervorruft. Dabei erscheint ihm die neue Lebensperspektive in Gestalt der sagenumwobenen blauen Blume. Trotz dieser Wendung zur Poesie als universeller Macht bei Novalis ist auch hier die Wirkung der Geschichte von Anfang an mit erotischen Motiven verknüpft: Die Strahl des Lichts findet sich bei Novalis als Wasserstrahl einer geheimnisvollen Quelle, die sich an den Körper des träumenden Heinrich schmiegt, als bestünde das Wasser aus gelösten nackten Frauenkörpern.

Die verdeckte erotische Motiviertheit der Lebenswendung ist bei Pamuk ebenfalls verarbeitet: Es ist die geliebte Canan, die Osman zum Lesen verführt, scheinbar zufällig und unschuldig-rein, in Wirklichkeit aber in absichtlicher Verführung, wie der Leser später erfährt. Dabei werden dem aufmerksamen Leser zwei Dinge deutlich: Erstens, dass dem Ich-Erzähler Osman nicht zu trauen ist, dass er uns die Dinge quasi miterleben lässt und uns nicht eine Spur seines später erworbenen Wissens mitteilt. Die kafkaeske Erzählperspektive des personalen Ich-Erzählers ist einer der Spannungsmomente des Romans. Gefesselt an die Perspektive des Erzählers folgen wir ihm ratlos durch die verschiedenen Abenteuer, bis "der Autor" selbst als zweiter Erzähler erklärend, interpretierend, aufdeckend ins Geschehen eingreift.

Bildungsballast

So wie die vielfältigen Verweise auf die "westliche" Literatur den türkischen Leser verunsichern und mit einer kaum lösbaren Bildungsaufgabe beladen, so wird der westliche Leser mit dem Bildungsballast des Ostens, der islamischen Mystik, der symbolischen Geographie der Türkei, ihrer Geschichten, Alltagserlebnisse und Warenwelten konfrontiert. Dies erweist sich besonders durch die verdeckten Verweise auf Pamuks Schwarzes Buch, aus dem sich das Konzept des „Neuen Lebens“ destillieren und interpretieren ließe. Aber wie auch dort sind die Verweise, Selbstinterpretationen, Denkanstöße, Märchen und Geschichten mit Vorsicht zu genießen. Die Interpretationen und Perspektiven widersprechen sich, teilweise werden irreführende Deutungen später als falsch vorgeführt und sind dann doch wieder richtig.

Kulturelle Bastardisierung erscheint als Bauprinzip und als Thema des Buches, Interpretation als Erfordernis, Gefahr und als Dummheit, die doch eine ungeheure Fleißarbeit voraussetzt. Der Leser steht in der Gefahr, in die Rolle Mehmets zu geraten, der nach unendlich häufiger Lektüre keinerlei Mut mehr zur eigenen Meinung besitzt, sondern wie ein mittelalterlicher Mönch, der sein Leben als Bibelkopist verbringt, das Buch wortgetreu immer wieder abschreibt. Der Umgang mit Koran, Bibel und Marx' Kapital ist hier ebenso angesprochen wie das Verhalten des ratlosen Lesers, dem das Buch plötzlich zur erbarmungslosen Maschinerie wird, die ihn vor immer neue Fragen, Interpretationsprobleme und Widersprüche stellt, und ihn zu immer neuer Lektüre zwingt.

Soll dabei augenfällig werden, dass wir die Bedeutung, die uns so irritiert, stets erst selbst produzieren? Sollen wir vor Fallen gewarnt werden, vor nahe liegenden, weil nahegelegten Deutungen, die immer wieder vom Autor raffiniert vorgegeben und später als falsch erwiesen werden?

Politische Hintergründe

Sicher geht es beim Neuen Leben in der hochkomplexen Form moderner Literatur um aktuelle Probleme der Türkei:

  • um die Sehnsucht der jungen Generation nach einem anderen, besseren Leben,
  • um die Irrationalität der dafür herangezogenen Konzepte und Träume,
  • um die Todesbereitschaft und um die Todessehnsucht,
  • um den Realitätsverlust,
  • um die rasende Flucht vor der sinnentleerten Welt der Eltern mit ihren Fallen mütterlicher Geborgenheit und gleichzeitiger Ödnis und Leere
  • um die gescheiterten Hoffnungen der Elterngeneration auf eine Modernisierung der Türkei, wie sie im Roman durch Onkel Rifki und die Eisenbahnen repräsentiert werden, deren Ausbau aus unerfindlichen Gründen gestoppt wurde,
  • um die Brutalität politischer Morde, die, nur notdürftig als private Morde getarnt, selbst vorsichtigste Zukunftshoffnungen wie die kemalistischen Onkel Rifkis zunichte machen.

Es geht um die Brutalität, mit der ein Konglomerat aus vertrottelten Reaktionären und Traditionalisten und Regierungs- und Militär-/Polizeikreisen auf jedes Zeichen einer Veränderung reagieren, es geht um systematische Bespitzelung und breitangelegte Mordaktionen.

Die Frage der Interpretation von Realität, von Alltag, von Texten und Politik, die uns im Westen, wenn auch zunehmend weniger, als amüsantes Spiel erscheinen, werden in der Türkei zur Existenzfrage. Der junge Marxist, der bei einer Studentendemonstration verhaftet, und von Staatsgerichtshöfen ohne viel Federlesen zu endloser Haftstrafe verurteilt wird, und vielleicht mit Glück sein Leben im Exil verbringt, der junge Kurde, der ganz einfach das Recht auf eine eigene Identität, das Recht auf das Wissen um die Geschichte der Unterdrückung und Vernichtung seines Volkes fordert, und von wem auch immer niedergeschossen wird, der westlich orientierte junge Literat , der seinen Tod bei einem islamistischen Mordanschlag findet, der Drogenkurier im Dienste einer der zahllosen Organisationen, die die Zukunftshoffnungen der jungen Menschen für ihre Zwecke gebrauchen.

Orhan Pamuk, so scheint es, nimmt nicht konkret für ein Projekt Partei, nicht für die PKK und nicht für die Modernisierungspläne der Militärs, nicht für die Marxisten und nicht für die staatstragenden Parteien. Sein Werk ist vor allem eine Polemik gegen die dümmlichen Interpretationen, die den meisten dieser Auffassungen zugrunde liegen, und in deren Namen gemordet, gefoltert und verhaftet wird.

Ost & West

Im "neuen Leben" wird die unauflösbare Verknüpfung der okzidentalen mit der orientalischen Kultur deutlich, die Verwechselbarkeit und Vermischung ihrer Symbole, Märchen und Geschichten. So wie die Romantiker in Deutschland um 1800 und im Angesicht der franz. Revolution die universelle Poesie der Welt und die Einheit der Christenheit wiederzuentdecken suchen, so entdecken auch die islamischen Mystiker Persiens und des osmanischen Reiches die geheimen Bedeutungen der Dinge. So wie die rückwärtsgewandten Romantiker im europäischen Mittelalter der Kreuzzüge die wahren menschlichen Werte suchen, so die rückwärtsgewandten Türken in den Herrlichkeit der alten osmanischen Werte und der daraus resultierenden Macht und Identität.

Bei genauerem Hinsehen ist aber, so scheint Pamuk dem Leser verschmitzt mitzuteilen, sowohl im europäischen als auch im islamischen Mittelalter genau das Gegenteil zu entdecken: phantasievolle Träume vom neuen Leben, von Erotik und Schönheit, die die reaktionären Bilder ihrer späten und dummen Verehrer als Zerrbilder entlarven.


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