Damaskusschrift

Damaskusschrift
Schriftrolle mit Transkription
Siedlung Qumran (archäologisch freigelegt), Israel 2005
Höhlen in Qumran

Die Schriftrollen vom Toten Meer, auch Schriftrollen von Qumran oder Qumran-Rollen genannt, beinhalten liturgische Schriften und Inventarlisten, davon den größten Teil der bekannten Biblischen Schriften des Alten Testaments bzw. des Tanach, außerdem bekannte und bislang unbekannte Apokryphen, d.h. außerbiblische Schriften, und solche die man einer sektiererischen Glaubensgemeinschaft zuordnet, von der nicht genau bekannt ist, um welche es sich handelt. Zeitlich stammen die Handschriften aus der Zeit zwischen dem 3. Jahrhundert v. Chr. und der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr.

Die Rollen wurden in unmittelbarer Nähe von Qumran oder Khirbet Qumran, einer Ruinenstätte im Westjordanland am Toten Meer im Jahre 1947 von Beduinen entdeckt. Sie wurden in elf Höhlen direkt an der Küste des Toten Meeres gefunden.

Inhaltsverzeichnis

Die Siedlung und die Höhlen

Der antike Ruinenplatz Qumran war bereits vor der Auffindung der Schriftrollen bekannt und wurde seinerzeit z. B. als römischer Militärposten gedeutet. Der Ausgräber, Roland de Vaux OP, brachte Siedlung, Höhlen und Rollen mit der Religionspartei der Essener in Verbindung. Er hielt die Siedlung für das Zentrum einer monastischen Gemeinschaft, die sich der Produktion von Schriftrollen gewidmet habe. Diese Annahme war durchaus naheliegend: Unter den Schriftrollen befand sich auch die so genannte Damaskusschrift (CD), die man schon vorher essenischen Kreisen zugeordnet hatte. Der gesamte archäologische Befund konnte von de Vaux offenbar im Sinne dieser Theorie erklärt werden: ein aufwändiges System von Wasserleitungen und Becken wurde als Beweis intensiver ritueller Waschungen und Tauchbäder gedeutet. Die ergrabenen Gebäude wurden von de Vaux als Gemeinschaftsräume interpretiert, denen er z.T. Bezeichnungen aus der europäischen Klosterkultur (Skriptorium, Refektorium) beilegte. Die israelische Altertümerverwaltung machte sich dieses Erklärungsmodell zu eigen, was sich auch in der touristischen Erschließung der Ausgrabungsstätte spiegelt.

Jede alternative Deutung der Grabung steht vor dem Problem, dass de Vaux keine abschließende wissenschaftliche Dokumentation seiner Grabung vorgelegt hat, dass seine Grabungstagebücher dafür nur ein unvollkommener Ersatz sein können - und dass die von ihm geborgenen Funde zum Teil zerstreut wurden oder als verloren gelten müssen. Dies betrifft vor allem die Funde, die der Theorie des Ausgräbers nicht entsprachen und deshalb von ihm möglicherweise zu wenig gewichtet wurden, wie z. B. Frauengräber oder Spuren eines gehobenen Lebensstandards.

Einige Teile der Ausgräbertheorie sind heute nicht mehr unverändert haltbar (nach Hirschfeld und Zangenberg): Es kann als sicher gelten, dass die Landschaft in den Besiedlungsphasen von Qumran nicht so wüstenhaft-lebensfeindlich war wie heute. Es gab damals noch eine geschlossene Pflanzendecke, dementsprechend auch Landwirtschaft und menschliche Besiedlung in dieser Gegend. Qumran war in das antike Wegenetz eingebunden. Qumran war jedenfalls kein Refugium, wo man sich dem Zugriff aus Jerusalem entziehen konnte. Nachdem umfangreiches Vergleichsmaterial bekannt ist, lässt sich keine betont schlichte, "klösterliche" Sachkultur von Qumran feststellen. Der Anteil von Frauenskeletten auf dem Friedhof war zwar geringer als der von Männern, wäre aber für eine zölibatäre Gemeinschaft trotzdem bemerkenswert. (Der Männerüberschuss ließe sich bei einer landwirtschaftlich oder handwerklich ausgerichteten Siedlung auch anders erklären als durch einen Zölibat.) Die Höhlen scheiden als Wohnplätze der Qumranleute weitestgehend aus, denn eine solche Nutzung müsste Spuren hinterlassen. Da die Gebäudereste von de Vaux als Funktionsbauten der Gemeinschaft interpretiert werden, bleibt nur, eine Zeltsiedlung anzunehmen. Wohnten die Qumranleute in den ergrabenen Gebäuden, reduziert sich die für Qumran anzunehmende Bewohnerzahl.

Das Verhältnis zwischen Schriftrollen, Siedlung und der Gemeinschaft der Essener muss heute als unsicher bezeichnet werden. Bei den radikalen Kritikern des de Vaux`schen Modells spielt mit herein, dass sie es für methodisch fragwürdig halten, einen archäologischen Befund nicht aus sich heraus, sondern mit Hilfe von Quellentexten zu deuten, in diesem Fall durch die Harmonisierung(!) von Josephus und Qumranschriften.(Das Bild wird dadurch noch komplizierter, dass nicht alle Qumrantexte "essenische" Positionen vertreten, sondern ein breites Spektrum frühjüdischer Literatur darstellen.)

Nachdem die Gesamtzahl der zum Teil nur in kleinsten Fragmenten erhaltenen Rollen abschätzbar ist, wird auch deutlich, dass diese im Blick auf die verarbeiteten Tierhäute einen enormen finanziellen Wert darstellten. Rund 500 verschiedene Schreiber wurden bisher unterschieden - ein gleichfalls enormer Einsatz menschlicher Arbeitskraft. Wer, wie Stegemann, an der Provenienz der meisten Rollen aus Qumran festhält, wird einen umfangreichen Gerbereibetrieb vor Ort und eine gleichfalls hocheffektive Kopistenwerkstatt annehmen, komplettiert möglicherweise mit einer Bibliothek, in der Musterexemplare für häufig angefragte Schriften aufbewahrt wurden (das würde dann die älteren Rollen im Fundgut erklären). Die Kunden für diese Literaturproduktion hätte man jedenfalls in Jerusalem zu suchen; im Rahmen der Pilgerströme zu den jüdischen Hauptfesten wäre dort auch ein Buchhandel für religiöses Schrifttum aller Art denkbar. Die in Bezug auf Jerusalem dezentrale Lage Qumrans möchte Stegemann mit der Ressource des Toten Meers erklären: hier seien fürs Gerben ideale Bedingungen vorhanden gewesen.

Die Deponierung teurer Schriftrollen in Krügen und in Höhlen entspricht nicht dem Paradigma einer antiken Bibliothek, wohl aber dem Paradigma anderer Deponierungen, etwa von Münzen, und weist auf ein Kriegsszenario: im Vorfeld der Kampfhandlungen werden die Schätze in Sicherheit gebracht, und die Kampfhandlungen treffen das Gebiet so gravierend, dass die Eigentümer nicht überleben bzw. keine Möglichkeit mehr haben, ihre deponierten Schätze später wieder in Gebrauch zu nehmen. Dies ist im Fall der Schriftrollen von Qumran mit den Ereignissen des Jüdischen Krieges gegeben. Eine Deponierung der Rollen ist deshalb im Vorfeld der Belagerung Jerusalems durch römische Truppen anzunehmen. Bei diesem aufwändigen Unternehmen ist von der aktiven Mitwirkung der in der Nähe wohnenden jüdischen Bevölkerung, also auch der Qumranleute, auszugehen.

Offen bleibt die Frage der Provenienz der Rollen. Wurde hier (unter anderem) die Tempelbibliothek ausgelagert? Gab es zu dieser Zeit in Jerusalem und/oder Jericho bereits Synagogengebäude, die einen Bestand an heiligen Schriften besaßen? Oder handelt es sich um Privatbibliotheken der lokalen Oberschicht?

Fundgeschichte und Sammlungen

Die Schriftrollen sind angeblich von einem Beduinenhirten gefunden worden, der eine entlaufene Ziege suchte. Als er sie mit Steinwürfen aus einer der Höhlen jagen wollte, hörte er es scheppern. So entdeckte er die Schriftrollen, die in Tonkrügen aufbewahrt wurden und offenbar unversehrt die Jahrhunderte überstanden hatten. Diese berühmte Geschichte ist in historischem Sinn wahrscheinlich nicht wahr, weist aber hin auf die Aktivitäten ortskundiger Beduinen parallel zu den wissenschaftlichen Bemühungen um die Qumranrollen.

Qumran liegt in der West Bank, d.h. das Bodendenkmal gehörte bis 1967 zu Jordanien. Im Januar 1949 wurden vier Schriftrollen durch den Metropoliten Samuel in die USA gebracht und dadurch der Wissenschaft überhaupt bekannt. Der Metropolit hatte sie nach eigenem Bekunden den Beduinen abgekauft. Am 1. Juli 1954 kaufte Yigael Yadin (Archäologe und Dozent an der Hebräischen Universität, früherer Stabschef der israelischen Streitkräfte) die Rollen für 250.000 Dollar und brachte sie nach Israel. Der Kaufpreis wurde von einem reichen Geldgeber aufgebracht. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Echtheit und das Alter der Rollen kontrovers beurteilt, insofern stellte der Ankauf ein Risiko dar. Mit drei zuvor von seinem Vater Eliezer Sukenik gekauften Rollen werden sie heute in einem dafür errichteten Gebäude (Schrein des Buches) des Israel Museum, Jerusalem, aufbewahrt.

Unterdessen begann in Qumran die Erforschung der antiken Ruinenstätte und der Höhlen durch das Team von Roland de Vaux. Durch diese Forschungen wurde auch im Archäologischen Museum (Rockefeller Museum) von Palästina in Jerusalem eine Sammlung von Qumranfunden aufgebaut. Das anfänglich von Rockefeller finanzierte Museum wurde 1966 von Jordanien verstaatlicht und fiel während des Sechs-Tage-Krieges 1967 an Israel. Einige der Rollen, zum Beispiel die „Kupferrolle“, befanden sich zu diesem Zeitpunkt für eine Ausstellung im Nationalmuseum in Amman, in dessen Besitz sie noch sind. Ebenfalls in Amman sind Tintenfässer der Qumrangrabung zu besichtigen, ein wichtiges Argument für die Befürworter einer Provenienz der Rollen aus einer Schreiberwerkstatt in Qumran.

Es scheint, dass die erhaltenen Rollen und Fragmente in den Qumranhöhlen nur einen kleinen Teil der in antiker Zeit am Toten Meer deponierten Schriften darstellen. So berichtet Origenes als Zeitgenosse, dass im 3. Jahrhundert am Toten Meer Schriftrollen auftauchten. Und auch im 8. Jahrhundert wurden beschriebene Pergamente entdeckt. Schließlich konnten von israelischen Archäologen im Wadi Murabbaat Schriftstücke und persönliche Habseligkeiten einer Personengruppe geborgen werden, die hier im Bar Kochba Krieg Zuflucht gesucht hatte. Das trockene Wüstenklima ist der Erhaltung organischer Materialien günstig.

Die Schriftrollen

Schriftrollen von Qumran im Archäologischen Museum von Amman

Bei den Rollen handelt es sich in der Regel um Lederrollen aus Ziegen- oder Schafshaut; auch Papyrus kommt als Schreibmaterial vor (nicht aber Pergament). Eine Rolle ist aus Kupferblech. Der Zustand der Rollen ist sehr unterschiedlich. Die spektakuläre Jesajarolle etwa ist fast komplett erhalten. Dagegen sind andere Rollen stark zerstört und in zum Teil nur daumennagelgroßen Fragmenten erhalten. Die Zahl der gefundenen Texte beläuft sich auf ca. 800, die in Hebräisch, Aramäisch, Nabatäisch, Griechisch oder Latein verfasst sind.

Zeitlich stammen die Handschriften aus der Zeit zwischen dem 3. Jahrhundert v. Chr. und der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. (genauer: dem Jahr 68, als die nach Jerusalem ziehende römische Legio X Fretensis Qumran zerstörte). Die Datierung in die letzten Jahrhunderte v. Chr. erfolgte durch die C14-Methode und verwandte Verfahren; für die Datierung noch wichtiger sind allerdings die Methoden der Paläographie: Anhand bestimmter Schriftstile, verwendeter Abkürzungen, Verwandtschaft der Handschriften untereinander u.ä. lassen sie die Texte zeitlich einordnen. Teilweise helfen auch "innere Kriterien", d.h. den in den Texten erwähnte historische Zusammenhänge. In Anwendung dieser wissenschaftlichen Methoden können die Datierungen der einzelnen Funde relativ sicher und genau erfolgen.

Dem Inhalt nach handelt es sich bei den Funden um biblische und außerbiblische (kultische wie profane) Texte. So wurden etwa Torarollen gefunden, wie sie auch heute noch im jüdischen Synagogengottesdienst Verwendung finden (neben den Büchern der Tora wurden mit Ausnahme von Ester und Nehemia zumindest Bruchstücke aller biblischen Texte gefunden, die heute Teil des masoretischen Textes und damit der hebräischen Bibel bzw. des Alten Testaments sind). An außerbiblischen Texten wurden neben Kommentaren zu biblischen Texten eine ganze Reihe von Texten aus dem Alltagsleben der jüdischen Gemeinschaft in Qumran gefunden (angefangen von der sogenannten Sektenregel 1QS bis hin zu Verträgen oder Aufzeichnungen über die alltäglichen Geschäfte der Gemeinschaft).

Experten gingen lange Zeit mehrheitlich davon aus, dass die Qumran-Gemeinschaft der unter anderem aus den Schriften des Josephus bekannten jüdischen Gruppierung der Essener zuzuordnen ist. Diese Annahme wird inzwischen diskutiert und muss möglicherweise differenziert werden: Trotz der erkennbaren Verwandtschaft der Gemeinschaft von Qumran mit den Essenern ist eine schlichte Identifizierung beider Gruppen schon deshalb nicht möglich, weil die Quellenlage zu den Essenern zu schmal ist. Die Frage, welchen Platz die sich in den Schriftrollen darstellende "Sekte" innerhalb des damaligen Judentums hatte, bedarf noch weiterer Klärung.

Zitierweise

Um Qumranschriften zitieren zu können, hat sich durchgesetzt, erst die Höhlennummer, dann ein großes Q und dann die Schriftrollen/Textnummer wiederzugeben. Haben die Rollen schon einen Namen, wird dieser abgekürzt verwendet, um die Übersicht zu vereinfachen.

Beispiel: 4Q123 45 VI 7-9 wäre also Text Nummer 123 aus Höhle vier. Davon Fragment 45, Kolumne (Spalte) 6, die Zeilen 7-9. 1QS ist die sogenannte "Sektenregel" aus Höhle eins.

Biblische Texte

Die in den Höhlen von Qumran gefundenen alttestamentlichen Schriften (z. B. die Jesajarollen oder der Habakukkommentar) geben neue Einblicke in die Geschichte der biblischen Textentwicklung, beispielsweise zur Beziehung zwischen Masoretischem Text und Septuaginta.

Großes Aufsehen erregte die aus der Zeit um 200 v. Chr. stammende Jesajarolle. Sie ist weit über 1000 Jahre älter als alle bisher gefundenen hebräischen Bibelmanuskripte. Auf 7,34 Meter gibt sie nahezu lückenlos den Text des Propheten Jesaja wieder. Dieser deckt sich bis auf wenige unbedeutende Abweichungen mit der bis dato ältesten vollständigen Bibelhandschrift, dem Codex Leningradensis (masoretischer Texttypus). Anders ist die Situation für die Samuel-Bücher, die in zahlreichen Fragmenten aus Höhle 4 überliefert sind (4QSama-c). Bei diesen Funden stimmt der Text in zahlreichen Fällen mit der Septuaginta gegen den Masoretischen Text überein. Die Samuel-Funde sind bedeutsam für die textkritische und kompositionsgeschichtliche Arbeit an den Samuelbüchern; eine befriedigende Theorie der Textentwicklung steht noch aus.

Neben den biblischen Texten gibt es noch diverses Material zu bereits bekannten oder bis dato unbekannten apokryphen Büchern der Bibel, die hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden.

Sektenschriften

Die sogenannten Sektenschriften sind Texte, die möglicherweise Aufschluss über Lehre und Leben der Qumrangemeinschaft geben. Es ist zwar heute strittig, ob es sich wirklich um Essener handelt, noch ist bewiesen, dass diese Menschen wirklich in Qumran lebten oder es sich überhaupt um eine einheitliche Gemeinschaft handelt. Aber mangels anderer Zuordnungsmöglichkeiten hat sich diese Ansicht weitgehend durchgesetzt. Dass sich auch Widersprüche zu dem von Josephus über Essener Gesagten finden, kann z. B. auch dadurch erklärt werden, dass es eine besondere Gruppe der Essener war, oder Josephus diese Gruppierung sehr vereinfachend für seine römischen Leser dargestellt hat. Es ist aber auch denkbar, dass es sich hier um eine oder mehrere Sekten anderen Ortes handelte, die nicht oder nicht nur in Qumran ansässig waren.

Wenn von "Sekte" die Rede ist, dann ist dies auch nur deshalb der Fall, weil sich diese Bezeichnung bereits eingebürgert hat, natürlich ist sie an sich anachronistisch, weil die Existenz einer Sekte das Vorhandensein einer "Kirche" voraussetzt, das ist in der Zeit vor Christi Geburt sicher nicht der Fall. Aber die vehemente, ja streckenweise militante Ablehnung des "offiziellen" Kultes und der gängigen theologischen Vorstellung am Jerusalemer Tempel, verbunden mit einem exklusiven Erwählungsglauben und apokalyptischen Weltuntergangsphantasien lässt diese Bezeichnung nicht ganz unpassend erscheinen.

  • CD - Die Damaskusschrift ist ein Brief, der schon vor den Rollenfunden bekannt war, weil eine Abschrift in der Geniza einer Kairoer Synagoge gefunden wurde. Er trägt deshalb den Titel CD (Cairo Damascus Document) und nicht die Bezeichnung 4QD - welches die Nummer des Qumranexemplares dieses Textes ist. Der Inhalt spricht von Israel als dem Volk, das in die Irre geht, aber von einem Neuanfang, den Gott mit seinem auserwählten Rest beginnt. Die Regeln für den Rest werden durch eine Verschärfung der Gebotsauslegung geprägt. Sie sieht die neue Gemeinschaft durch Priester und Leviten geleitet und fest strukturiert.
  • 1QS - Die Gemeinderegel (früher „Sektenregel“). Sie wird als Grunddokument der Qumran-Gemeinschaft betrachtet. In ihr findet sich ein starker Dualismus zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis. Beide Seiten werden repräsentiert durch Gott und Belial, und jeweils deren geistlicher Anhängerschaft (Engel und Dämonen) wie deren menschliche "Kinder". Als Mensch kann man nur Kind des Lichts oder der Finsternis sein. Hierin haben verschiedene Autoren einen Persischen Einfluss gesehen. Ähnlich wie in CD sind strenge Regeln für die Gemeinschaft niedergelegt. Diese Lebensregeln sind zum Teil rituell, was den Tages- und Jahresablauf angeht, sehr wichtig ist aber auch die Moral, die die Anhänger auszeichnen muss. Wer den Idealen nicht genügt, wird ausgeschlossen. Auch hier taucht wieder das hierokratische Element auf, die Leitung durch Priester und Leviten.
  • 1QH - Die Hymnenrolle Eine Sammlung von Gebeten und Liedern ähnlich den Psalmen. In diesen Texten geht es um Schmerz und Trauer sowie um Sieg und Freude. Es gibt noch diverse Stücke und Fragmente aus Höhle 4, die den Liederschatz erweitern. Eine Sammlung in Deutscher Übersetzung ist als Buch erschienen. (Lit.: Klaus Berger, 1997).
  • 1QM - Die Kriegsrolle Sie handelt - neben weiteren Schriften, auch aus Höhle 4 - vom Krieg zwischen den Kindern des Lichts und der Finsternis in der Endzeit. Schlachtordnungen werden aufgestellt, Feldzeichen aufgerichtet und dergleichen. In dieses Szenario werden massiv theologische Perspektiven eingebaut: Priester und Leviten als Anführer der einzelnen Abteilungen, ein Messias als oberster Feldherr, symbolische Zahlen und rituelle oder an die Bibel erinnernde Vorgehensweisen.

Entgegen verbreiteter Ansicht wird Jesus, oder überhaupt christliche Ideen, in den Rollen von Qumran nicht erwähnt, sehr wohl aber Gedankengut und Formulierungen, die das Neue Testament aufnimmt. Zwar wurde das Papyrusfragment 7Q5 von manchen als Ausschnitt aus dem Markus-Evangelium gedeutet, diese These ist jedoch wissenschaftlich nicht anerkannt, und das Papyrus enthält lediglich 15 Buchstaben aus 5 verschiedenen Zeilen.

Einordnung, Bedeutung und Forschungsgeschichte

Die Bedeutung der Schriftfunde für die Geschichte des antiken Judentums, aber auch für die Geschichte der Bibel für das Christentum, ist enorm.

Die Erforschung stand zunächst unter christlichen Vorzeichen. Die neu entdeckten Schriften gestatteten es, die religiöse Umwelt der Jesusbewegung, also die jüdische Kultur vor Zerstörung des Zweiten Tempels, aus den Quellen kennenzulernen. Bis dahin war diese Umwelt weitgehend durch Rückschlüsse aus späterem, nämlich rabbinischem Material, rekonstruiert worden. Die indirekte Konsequenz daraus war ein positiveres Pharisäerbild in der christlichen Öffentlichkeit. Lernte man doch im Qumranschrifttum eine Gruppe kennen, die offenbar weit strenger lebte als die Pharisäer! Des Weiteren bereicherte die Qumranforschung die Kenntnis des Phänomens Apokalyptik, z. B. die literarischen Techniken, mit denen apokalyptische Texte produziert werden.

Durch Qumran wurden hebräische Texte bekannt, die vor den Normierungsprozessen entstanden waren, die im rabbinischen Judentum bei der Tradierung der biblischen Schriften entwickelt wurden. Die Qumrantexte zeigen deshalb z. B. eine abweichende Rechtschreibung, etwa den häufigeren Gebrauch von matres lectionis. Glaubte man in einem frühen Rezeptionsstadium der Qumrantexte, dass es nun möglich sei, durch Kombination von Masoretischem Text, Qumran und Septuaginta auf einen dahinterliegenden Urtext zurückschließen zu können (eine Forschungsphase, in der z. B. die Einheitsübersetzung zu verorten ist), so zeigt sich inzwischen, dass in der Zeit des Zweiten Tempels die Tradierung heiliger Schriften noch viel stärker im Fluss war und mit einem Nebeneinander der verschiedenen Traditionsströme zu rechnen ist.

Noch längst nicht ausgeschöpft ist die Bedeutung der Qumranschriften für die Judaistik. Dies betrifft die Herausbildung der halachischen Traditionskomplexe. Sie stehen in jener frühen Phase selbstständig neben dem Text der schriftlichen Tora. Erst spätere "schriftgelehrte" Forschung zeigte das Interesse, die gültige Halacha aus Toraversen herzuleiten. Ein Ertrag dieser Forschung für die christliche Exegese ist es, dass man hier danach fragt, welche Halachot die Evangelisten oder Paulus kennen oder auch selbst entwickeln - Fragestellungen, die sich nicht durch den Rekurs auf das Alte Testament beantworten lassen.

Dass ein Ausgräber seine Ergebnisse nicht angemessen wissenschaftlich publiziert, ist in der Archäologie biblischer Lande alles andere als ein singuläres Phänomen, wurde aber im Fall von Qumran erstmals von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. Hier wären nun die einmaligen Schwierigkeiten der Kombination kleiner Textfragmente in Rechnung zu stellen - vor den Möglichkeiten einer digitalen Erfassung. Andererseits sind die Arbeitsweisen der Forscher auch in ihrem zeitgenössischen Umfeld recht befremdlich, z. B. die Fixierung antiker Textfragmente mittels Heftpflaster!

1990 war ein Großteil der Texte noch unpubliziert. Andererseits waren die "großen" Texte zu diesem Zeitpunkt schon lange bekannt; im deutschsprachigen Bereich etwa durch die Übersetzungen von Johann Maier. Im amerikanischen Bereich wurde vor allem in der auflagenstarken Zeitschrift Biblical Archaeology Review (Hershel Shanks) massiv auf eine zügige Veröffentlichung der Qumrantexte hingewirkt. Als Hemmnis wirkte zu diesem Zeitpunkt die Tatsache, dass etliche Institutionen sich Qumranfragmente gesichert hatten und im Blick auf eine Veröffentlichung Rechteinhaber waren. Flankiert wurde diese Debatte von populärwissenschaftlichen Bestsellern, die mit Spekulationen bis hin zu Verschwörungstheorien und Polemiken gegen die Kirchen auf sich aufmerksam machten und ein großes Publikum ansprachen. Populär wurden diese Positionen nicht zuletzt durch das Buch Verschlusssache Jesus von Michael Baigent und Richard Leigh (englischer Originaltitel: The Dead Sea Scrolls Deception, 1991). Darin behaupteten die Autoren die Existenz einer vom Vatikan gelenkten Verschwörung zur Unterdrückung von angeblichen Erkenntnissen über die Schriftrollen von Qumran. Dies hatte nach dem Herausgeber der deutschen Übersetzung, Johann Maier, aber auch positive Effekte, "denn die Qumranforschung geriet neuerlich in den Brennpunkt des Interesses, und die Publikationsarbeit wurde unter dem Druck der öffentlichen Meinung neu und effektiver organisiert." (Lit.: J. Maier, Vorwort, Quellenausgabe Band I). Inzwischen liegt die knapp 40 Bände umfassende wissenschaftliche Edition der Texte komplett vor (Lit.: "Discoveries in the Judaean Desert", Oxford University Press).

Zum Auffindungszeitpunkt hatten die Rollen auch eine politische Bedeutung als Symbol jüdischen Lebens im Lande Israel. Das zeigt sich besonders in dem Bauwerk, das der Ausstellung der Rollen in Jerusalem dient. Der Name "Shrine of the Book" (Schrein des Buches) suggeriert, hier werde über die museale Darbietung hinaus ein heiliger Ort geschaffen. In diese Richtung geht auch die beziehungsreiche architektonische Gestaltung (sie soll dem Kampf der "Söhne des Lichts" mit den "Söhnen der Finsternis" versinnbildlichen). Neuerdings wurde die religiöse Symbolik etwas zurückgenommen, indem auch anderen antiken Schriftfunden im Ausstellungsparcours mehr Gewicht gegeben wurde.

Die "Israel Antiquities Authority" beabsichtigt, die Qumran-Schriftrollen zu digitalisieren und im Internet komplett zu veröffentlichen. Die als Kulturgut geltenden Qumran-Schriftrollen sollen wissenschaftlich erforscht werden und die daraus hervorgegangenen Ergebnisse vor allem für das gegenseitige Verständnis und den Dialog zwischen den drei Abrahamitischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam genutzt werden.[1]

Literatur

Bibliographien

  • William Sanford LaSor: Bibliography of the Dead Sea Scrolls 1948-1957. Pasadena 1958.
  • Bastiaan Jongeling: A Classified Bibliography of the Finds in the Desert of Judah: 1958 - 1969 (Studies on the texts of the desert of Judah 7). Leiden: Brill 1971.
  • Florentino García Martínez; Donald W. Parry (Hg.): A bibliography of the finds in the desert of Judah, 1970 - 95 (STDJ 19). Leiden u.a.: Brill 1996. ISBN 90-04-10588-3
  • Avital Pinnick: The Orion Center Bibliography of the Dead Sea Scrolls (1995-2000) (STDJ 41). Leiden 2001. ISBN 90-04-12366-0
  • Ruth Clements; Nadav Sharon (Hg.): The Orion Center Bibliography of the Dead Sea Scrolls and Associated Literature (2001–2006) (STDJ 71). Leiden 2007. ISBN 978-90-04-16437-6

Editionen und Übersetzungen

  • Discoveries in the Judaean Desert. 40 Bd. Oxford University Press, New York 1955-2009. ISBN 0199249555
  • Johann Maier: Die Qumran-Essener - Die Texte vom Toten Meer. UTB, 3 Bd. Reinhardt, München 1995 (dt.).
    • Band I: Die Texte der Höhlen 1-3 und 5-11. ISBN 3-8252-1862-7
    • Band II: Die Texte der Höhle 4. ISBN 3-8252-1863-5
    • Band III: Einführung, Zeitrechnung, Register und Bibliographie. ISBN 3-8252-1916-X
  • Die Texte aus Qumran. Hebräisch/Aramäisch und deutsch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2 Bd. 1986/2001
    • Band I: Die Schriften aus Höhle 1 und 4. Hrsg. und übersetzt von Eduard Lohse, 4. Auflage 1986.
    • Band II: Die Tempelrolle und andere Schriften. Hrsg und übersetzt von Annette Steudel u.a., 2001.
  • Klaus Berger: Psalmen aus Qumran. Frankfurt 1997. ISBN 3458335978
  • Geza Vermes: The Complete Dead Sea Scrolls in English, Penguin 1997 ISBN 978-0140449525 (2004 ed.)
  • Michael O. Wise; Martin Abegg; Edward Cook: Die Schriftrollen von Qumran. Übersetzung und Kommentar. Mit bisher unveröffentlichten Texten herausgegeben von Alfred Läpple. Augsburg: Pattloch 1997. ISBN 3-629-00817-8

Wissenschaftliche Literatur

  • Hartmut Stegemann: Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch. Freiburg, Herder 1993, 1994² (beste Einführung - These der Ledergerberei, Schriftrollenmanufaktur in Qumran ist umstritten). ISBN 3-451-04128-6
  • James C. VanderKam: Einführung in die Qumranforschung. Geschichte und Bedeutung der Schriften vom Toten Meer. UTB. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. ISBN 3-8252-1998-4
  • Philip R. Davies, George J. Brooke, Phillip R. Callaway: Qumran. Die Schriftrollen vom Toten Meer. Stuttgart, Theiss 2002. ISBN 3-8062-1713-0
  • Ferdinand Rohrhirsch: Wissenschaftstheorie und Qumran. Vandenhoeck & Ruprecht, Stuttgart 1998 (untersucht alle gängigen Theorien über Qumran und zeigt auf, dass Qumran als Sitz einer religiösen Gemeinschaft gewertet werden muss). ISBN 3-5255-3934-7
  • Jodi Magness: The Archaeology of Qumran and the Dead Sea Scrolls. Wm. B. Eerdmans, Grand Rapids MI 2003 (jüdische Archäologin). ISBN 0-8028-2687-3
  • Alexander Schick: Faszination Qumran - Wissenschaftskrimi, Forscherstreit und wahre Bedeutung der Schriftrollen vom Toten Meer. Einführungstext von Otto Betz. Berneck 1998 (2. Aufl.). ISBN 3-89397-382-6
  • Otto Betz: Offenbarung und Schriftforschung in der Qumransekte (WUNT 6), Tübingen 1960
  • Pinchas Lapide: Paulus und Qumran. in: Paulus zwischen Damaskus und Qumran. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1993, 42001, S.104ff. ISBN 3-579-01425-0 (geht auf Wurzeln späteren christlichen Heilsvokabulars in Qumran ein, sieht die Gleichung Essener-Qumran-"Damaskus in der Wüste", geht aufgrund inhaltlicher Parallelen zu den Sektenschriften von einer 250-jährigen Geschichte einer Sektengemeinschaft von Essenern, "aufmüpfigen Priestersöhnen" und geflohenen Zeloten aus, die in Opposition zum offiziellen Kult des Jerusalemer Tempel stand, geht davon aus, dass Jesus von Nazareth und auch Paulus in Qumran waren und Anregungen von dort bezogen)
  • Yizhar Hirschfeld: Qumran - die ganze Wahrheit. Die Funde der Archäologie neu bewertet. [englischer Originaltitel: Qumran in context.] Gütersloh 2006. ISBN 978-3-579-05225-0 (abgesehen vom reißerischen dt. Titel eine lesenwerte und methodisch präzise Darstellung aus v.a. archäologischer Perspektive)
  • Karlheinz Müller, Anmerkungen zum Verhältnis von Tora und Halacha im Frühjudentum, in: Erich Zenger Hg., Die Tora als Kanon für Juden und Christen, Freiburg 1996

Einzelnachweise

  1. vgl.[1] , Kipa-Nachrichtendienst, Artikel vom 30. August 2008, abgerufen am 31. August 2008

Weblinks


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