Dain, Dwalin, Duneyr und Durathror

Dain, Dwalin, Duneyr und Durathror
Die vier Hirsche in den Blättern Yggdrasils. Illustration von W. G. Collingwood, 1908.

Dain, Dwalin (auch Dvalin oder Dvalar), Duneyr und Durathror sind vier Hirsche in der nordischen Mythologie, die zu den Tieren am Weltenbaum Yggdrasil gehören.

Inhaltsverzeichnis

Quellen

Die vier werden in der Lieder-Edda im Lied Grímnismál beschrieben.

„Hirtir ero oc fiórir, þeirs af hæfingar á
gaghálsir gnaga:
Dáinn oc Dvalinn,
Duneyrr oc Duraþrór.

[...]

Ascr Yggdrasils drýgir erfiði,
meira, enn menn viti;
hiortr bítr ofan, enn á hliðo fúnar,
scerðir Níðhǫggr neðan.“[1]

„Vier Hirsche sind's auch, die mit gebogenen Hälsen
an den Trieben [Yggdrasils] nagen:
Dainn und Dwalinn,
Duneyrr und Durathror.

[...]

Die Esche Yggdrasil erduldet Mühsal,
mehr als man weiß;
der Hirsch weidet oben, und an der Seite fault es,
Nidhögg beschädigt unten.“[2]


Grímnismál 33, 35


Snorri Sturluson wiederholt in der Prosa-Edda die Beschreibung der Strophe 33 des Lieds Grímnismál und zitiert im Anschluss daran Strophe 35. Die zurückgebogenen Hälse bleiben unerwähnt, die Triebspitzen, die die Hirsche essen, sind bei ihm Blätter beziehungsweise Nadeln, je nachdem wie man altnordisch barr übersetzt, das beides heißen kann.

„[...] en fjórir hirtir renna í limum asksins ok bíta barr.
Þeir heita svá: Dáinn, Dvalinn, Duneyrr, Duraþrór.“[3]

„Vier Hirsche dringen ins Geäst [Yggdrasils] und beißen die Blätter ab.
Sie heißen Dainn, Dwalinn, Duneyrr und Durathror.“[4]


– SNORRI STURLUSON: Prosa-Edda: Gylfaginning 16


Die vier Namen führt Snorri Sturluson ebenso als Hirschnamen in seiner Sprache der Dichtkunst, dem Skáldskaparmál, auf. In den Thulur werden drei dieser Namen auch als Hirschnamen genannt. Der Hirsch Dvalin aber fehlt, dafür findet sich der ähnliche Name Dvalar.[5]

Am Weltenbaum kämpft der Hirsch mit der Schlange (Nidhöggr?). Relief in der Stabkirche von Urne in Sogn, Norwegen

Rezeption

Die Vorstellung vom Hirsch am Weltenbaum könnte wie der Weltenbaum selbst bereits auf indogermanische Zeit zurückgehen.[6] Hirsche am Weltenbaum gibt es auch in iranischen Darstellungen wie zum Beispiel auf der Goldkrone von Novocherkassk, bei der ein Baum von zwei Hirschen umrahmt wird.[7] Nach anderer Ansicht sind die Hirsche am Weltenbaum kein indogermanisches Erbe, sondern sie gehen auf den Einfluss einer vorderasiatischen Hochkultur zurück, die entweder unmittelbar oder mittelbar durch das Christentum die nordische Mythologie beeinflusste. Insbesondere im Christentum ist die Darstellung von vier Hirschen an den vier Paradiesflüssen ein häufiges Motiv.[8]

Das Lied Grímnismál nennt zwar in Strophe 33 vier Hirschnamen, hingegen weidet laut Strophe 35 nur ein Hirsch oben an der Esche Yggdrasil. Da beim Baum Lärad, den man für eine Variante des nordischen Weltenbaums hält, ebenso nur ein Hirsch (namens Eikthyrnir) genannt wird, wird deswegen vertreten, dass zum nordischen Weltenbaum ursprünglich auch nur ein Hirsch gehörte. Das Viererkonzept entspricht somit der Vervielfachung des Drachen Nidhögg, der unterhalb von Yggdrasil mit einer Reihe anderer Schlangen haust. Demnach soll das Namenskonzept der vier Hirsche aus späterer, also mittelalterlicher Zeit stammen.[9]

Dvalar aus den Thulur dürfte wahrscheinlich mit Dvalin identisch sein.[10] Teilweise wird auch vertreten, dass Dvalar der ursprünglichere Hirschname sei, da es noch einen Zwerg namens Dvalin gibt.[11]

Etymologie

  • Dwalin, altnordisch Dvalinn, könnte auf altnordisch dvala ‚verzögern‘[12][15] zurückgehen. Eine Deutung lautet demnach ‚der Langsame, der Schlafende‘.[10][16]
  • Dvalar, altnordisch Dvalarr, stammt vermutlich ebenso wie Dwalin von altnordisch dvala ab,[15] so dass beide Namen wohl dasselbe bedeuten.
  • Duneyr, altnordisch Duneyrr, ist nur schwer deutbar. Eine Deutung lautet ‚Feuergänger‘[12], eine andere ‚Dunkelohr‘[17], eine weitere ‚der, mit den braunen oder daunigen Ohren‘[18].
  • Die Bedeutung des Namens Durathror, altnordisch Duraþrór, ist dunkel.[19] Das Wort setzt sich vielleicht zusammen aus altnordisch dura ‚schlummern‘, durr ‚Schlummer‘ oder dur ‚Stille‘ und altnordisch þrórZwerg, Eber, Schwert‘ beziehungsweise ‚Gedeihlicher‘ (ein Beiname Odins).[12] Alle Kombinationen sind denkbar. Vorgeschlagen wird zum Beispiel ‚Schlummer-Eber‘.[10]

Verbindungen zu Zwergen

Dain und Dwalin sind auch die Namen zweier Zwerge in der nordischen Mythologie.[20] Ob ein Zusammenhang zwischen den Hirschen und den Zwergen gleichen Namens besteht, ist nicht überliefert. Möglicherweise stehen die Hirsche aber für Zwerge in Hirschgestalt, denn Zwerge nutzen ein Hirschgewand, um sich bei Tag vor den Sonnenstrahlen zu schützen, die sie ansonsten in Stein verwandeln würden.[21]

Rolle am Weltenbaum

Über die Hirsche wird im Lied Grímnismál gesagt, dass sie die Blätter vom Weltenbaum Yggdrasil fressen und dass das für den Baum eine Qual bedeutet. Sie zehren also von der Lebenskraft des Baums.

Deutung

Bei der Deutung der Hirsche steht ihre Vierzahl im Vordergrund. Demnach können sie für die vier Hauptwinde stehen[22] oder als Zwerge in Hirschgestalt, Repräsentanten der vier Himmelsrichtungen sein.[21]

Genauso gut könnten sie auch für die vier Jahreszeiten stehen. Ihre Vierzahl könnte somit das sich immer wieder erneuernde Leben versinnbildlichen in Form des Jahreskreises sein. Das Abfressen der Blätter des Weltenbaums wird entsprechend auch gedeutet als Knospen = Stunden, Blüten = Tage und Zweige = Jahreszeiten.[23]

In der Natur übernimmt der Leithirsch die Führung des Rudels durch die Winterzeit bis zum kommenden Frühling. Im Februar (Hornung) stößt er sein Geweih ab und verliert seine Führungsrolle. Der Hirsch ist deswegen allgemein ein Symbol des Lichts, das durch die dunkle Winterzeit führt, auf die dann der Frühling folgt. Übertragen steht er somit für Tod und Wiederkehr des Lebens.[24] Die Namen der Hirsche, von denen zwei mit Schlaf und Tod verbunden sind, weisen in diese Richtung.

Siehe auch

  • Yggdrasil, der Weltenbaum der nordischen Mythologie.
  • Eikthyrnir, der Hirsch am Baum Lärad in der nordischen Mythologie.
  • Das Bruderpaar der Naharnavaler, die Alcis, in der germanischen Mythologie.
  • Die Rune algiz/elhaz.
  • Der keltische Hirschgott Cernunnos.

Literatur

Einzelnachweise

  1. Lieder-Edda: Grímnismál 33, 35. Textausgabe nach Titus Projekt, URL: http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/anord/edda/edda.htm, aufgerufen am 16. Dezember 2009.
  2. Übersetzung und Zitation nach Arnulf Krause: Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 978-3-15050-047-7.
  3. Textausgabe nach CyberSamurai Encyclopedia of Norse Mythology, URL: http://www.cybersamurai.net/Mythology/NorseMyth.htm, aufgerufen am 16. Dezember 2009.
  4. Übersetzung und Zitation nach Arnulf Krause: Die Edda des Snorri Sturluson. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1997, ISBN 978-3-15000-782-2
  5. Þulur III 34 − Hjartar heiti = Snorri Sturluson: Prosa-Edda: Nafnaþulur Sækonungar, 96 − Hjörtr. Die Hirschnamen lauten in dieser Reihenfolge: Hjörtr, dyraþrór, hliðr, eikþyrnir, duneyrr, dáinn, dvalarr, mótroðnir.
  6. Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 2: Religion der Nordgermanen. Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin – Leipzig 1937, § 328.
  7. Abbildung bei Michael Rostovtzeff: Iranians and Greeks In south Russia. 1922, Tafel 26, S. 137. Online.
  8. Wilhelm Heizmann: Hirsch – Mythologisches. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde – Bd. 14. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-11016-423-7, S. 604.
  9. Henry Adams Bellows: The Poetic Edda: The Mythological Poems. Courier Dover Publications, 2004, ISBN 978-0-48643-710-1 S. 97 f., Anmerkung 33, 35
  10. a b c Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. Kröner Verlag, 3. Auflage, Stuttgart 2006, S. 82
  11. John Lindow: Handbook of Norse Mythology. ABC-CLIO Ltd, USA 2001, ISBN 978-1-57607-217-2, S. 99
  12. a b c d Gerhard Köbler: Altnordisches Wörterbuch. 2. Auflage. 2003. Online.
  13. John Lindow: Handbook of Norse Mythology. ABC-CLIO Ltd, USA 2001, ISBN 978-1-57607-217-2, S. 96.
  14. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. Kröner Verlag, 3. Auflage, Stuttgart 2006, S. 68.
  15. a b Jan de Vries: Altnordisches Etymologisches Worterbuch. 2. Auflage. Brill Archive, Stichwort: dvala
  16. John Lindow: Handbook of Norse Mythology. ABC-CLIO Ltd, USA 2001, ISBN 978-1-57607-217-2, S. 98, der als Bedeutung delayed ‚verzögert‘ angibt.
  17. John Lindow: Handbook of Norse Mythology. ABC-CLIO Ltd, USA 2001, ISBN 978-1-57607-217-2, S. 98: "The name appears to mean ‚dark-ear‘."
  18. Jan de Vries: Altnordisches Etymologisches Worterbuch. 2. Auflage. Brill Archive, Stichwort: Duneyrr – Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. Kröner Verlag, 3. Auflage, Stuttgart 2006, S. 81
  19. Jan de Vries: Altnordisches Etymologisches Worterbuch. 2. Auflage. Brill Archive, Stichwort: Duraþrór – John Lindow: Handbook of Norse Mythology. ABC-CLIO Ltd, USA 2001, ISBN 978-1-57607-217-2, S. 98
  20. Lieder-Edda: Völuspá 11 – Snorri Sturluson: Prosa-Edda: Gylfaginning 14
  21. a b Kveldulf Gundarsson: Teutonic Religion – Folk Beliefs & Practices of the Northern Tradition. Llewellyn Publications Inc., 1993. Electronic Edition 2002, S. 9. PDF 2,45 MB
  22. Friedrich David Gräter: Nordische Blumen. Gräffische buchhandlung, 1789, S. 49 Online
  23. Hansferdinand Döbler: Die Germanen. Gondrom Verlag, Bindlach 1992 (nach der Ausgabe C. Bertelsmann Verlag, München 1975), ISBN 978-3-8112-0935-0, S. 140 (Stichwort: Hirsche).
  24. Vergleiche Herder-Verlag: Lexikon der Symbole. 5. Auflage. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 1997 (Erstauflage 1978), ISBN 978-3-451-04187-7, S. 75 (Stichwort: Hirsch)

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