Wilhelm Röttger

Wilhelm Röttger

Wilhelm Röttger (* 1894 in Hannover; † 13. September 1946 in Hannover) war Scharfrichter in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus. Er war von 1942 bis 1945 Scharfrichter in der Strafanstalt Plötzensee.

In der Zeit von Adolf Hitlers Diktatur waren zwischen 1933 und 1945 schätzungsweise 16.500 Todesurteile vollstreckt worden, davon 11.881 allein von den drei Scharfrichtern Johann Reichhart (München), Ernst Reindel (Magdeburg) und Wilhelm Röttger (Berlin). Röttger vollzog nach Angaben von Tankred Koch sogar doppelt so viele Hinrichtungen wie Reindel und Reichhart zusammen.[1]

Einen Anhaltspunkt geben die Listen, die die drei Scharfrichter Friedrich Hehr (Hannover), Ernst Reindel und Wilhelm Röttger führten, auf denen sie die Zahl der täglichen von ihnen vorgenommenen Hinrichtungen notierten und monatsweise addierten.[2]

Inhaltsverzeichnis

Leben

Willi Röttger wurde 1894 in Hannover geboren.[3] Im Ersten Weltkrieg diente er im Kesselraum eines Schlachtschiffs, danach arbeitete er als Automechaniker, als Leichenträger in einem Bestattungsunternehmen und als Scharfrichter-Gehilfe. In Berlin bekannt als „der Henker mit der speckigen Joppe“,[4] wohnte er an der Waldstraße in Moabit und hatte nebenbei ein großes Fuhrgeschäft für den Berliner Zentralvieh- und Schlachthof. Er wirkte im Umgang wie ein „besserer Herr“, galt als „wohlhabender Mann“. Sonst stammten die Scharfrichter gewöhnlich aus dem Fleischerhandwerk.[5] Röttger soll zudem „für seinen Schalk berüchtigt“ gewesen sein.[6] Er „sprach von seiner Arbeit gern als einer Mission, die er den Aufgaben des Geistlichen gleichstellte“.[7]

Zwischen 1933 und 1945 wurden in der Berliner Haftanstalt über 2.500 Menschen hingerichtet. Wilhelm Röttger hatte von 1942 bis 1945 zentrale Hinrichtungsstätten in Berlin-Plötzensee und Brandenburg-Görden zu betreuen. Er vollzog mit seinen drei Gehilfen[8] von allen Scharfrichtern des NS-Staates mit großem Abstand die meisten Hinrichtungen. „Er schlich mehr als er ging“, wird über ihn berichtet, auch dass er „ein großer, starker Mann“ gewesen sei. In einem Interview hat der Henker, der den Krieg und die Flucht Richtung Westzone heil überstand, später erläutert, was das hieß: „Den Verurteilten wurde die Schlinge um den Hals gelegt, dann wurden sie hochgehoben. Dann habe ich die Schlinge, wie man einen Rock aufhängt, an einem Haken befestigt.“[8]

Am 8. Oktober 1942 nahm Röttger in Berlin in Gegenwart des Ersten Staatsanwalts Nöbel die Vollstreckung des Todesurteils an einem Juden wegen „versuchter landesverräterischer Waffenhilfe“ vor. Als seine Gehilfen werden die Brüder Arnold und Richard Thomas sowie eine Person namens Hehnen genannt.[9]

Am 27. Oktober 1942 vollstreckte Röttger das Todesurteil an dem erst 17-jährigen Widerstandskämpfer Helmuth Hübener. Hübener war vom VGH-Vizepräsidenten Karl Engert zum Tode verurteilt worden. Um 20.13 Uhr starb der junge Mann „ruhig und gefaßt“, wie die Vollstreckungsbeamten in ihrem Bericht betonten.

Der Gefängnisseelsorger in den Gefängnissen Plötzensee und Tegel sowie vertretungsweise im Zuchthaus Brandenburg, Harald Poelchau, begleitete zwischen 1933 und 1945 über 1000 Gegner des Naziregimes zur Hinrichtung. Er schilderte in beeindruckender Weise die menschliche Größe, mit der zum Tode verurteilte Widerstandskämpfer – Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen, Arbeiter und Beamte, Künstler und Schriftsteller – ihren letzten Weg antraten. Seine Erfahrungen mit Hunderten von politischen Hinrichtungen im Tegeler Gefängnis in Berlin veröffentlichte Poelchau 1949 unter dem Titel „Die letzten Stunden“.

Am 22. Dezember 1942 erfolgte die Hinrichtung der elf Hauptangeklagten des Harnack/Schulze-Boysen-Prozesses im Gefängnis Berlin-Plötzensee. Das waren Arvid Harnack, Harro und Libertas Schulze-Boysen, Kurt und Elisabeth Schumacher, Rudolf von Scheliha, Ilse Stöbe, Hans Coppi, Kurt Schulze, Horst Heilmann und John Graudenz.[10] Poelchau hatte trotz der Kürze der Zeit, die bis zur Hinrichtung noch zur Verfügung stand, die wenigen Stunden genutzt, um die Todeskandidaten zu besuchen.

Der freischaffende Henker Röttger vollzog die Hinrichtungen in der Strafanstalt Plötzensee für ein Jahresfixum von 3000 Reichsmark plus 30 Mark Kopfprämie. So hat er in der siebten Septembernacht des Jahres 1943, um die Zahl der zum Tode Verurteilten „weisungsgemäß schnell zu reduzieren“, insgesamt 5580 Mark verdient, für 186 „Vollstreckungen“. „Ich erinnere mich an keinen, der geweint hat, geschrien oder sich gewehrt“, erzählte der evangelische Pfarrer Hermann Schrader, der damals ein Dutzend Mal dabei sein musste.[8]

Im September 1943 wurden insgesamt 324 Personen durch Scharfrichter Röttger hingerichtet.[11]

Im Zuchthaus Brandenburg vollstreckte Scharfrichter Röttger, unter der Leitung des Landgerichtsrats Paul Wilbert, am 21. August 1944 im Minutentakt die Todesurteile.[12]

Im Zusammenhang mit der von Wilhelm Röttger am 8. November 1944 vollzogenen Hinrichtung an Peter Graf Yorck von Wartenburg verlautet in „Film und Fernsehen“ 1983:[13]

„Solange es mir gut geht, lebe ich richtig (!), hieß der Lieblingssatz von Fritz Röttger. Und es ging ihm gut. Er war wohlhabend. Seine Fuhrunternehmen für den Zentral-Vieh- und Schlachthof florierten auf einer soliden Geschäftsbasis. Er hatte dort auch eine Menge Freunde. Daß ab und zu ein ordentliches Stück Fleisch in der Langhansstraße hundertdreiundvierzig ging, versteht sich. (…) Das Gefängnis gegenüber dem Westhafen, sozusagen zum Tor der Welt. Aber so weit war er noch nicht, der Fuhrunternehmer Röttger. Mit dem Anziehen, Rasieren, Frühstücken. Aus dem Hinterhof klang Kindergeschrei. Nicht seine Kinder, die genossen mit der Mutter ihre Schulferien bei Oma in Bernau. Er liebte seine Familie. Der schönste Tag im Jahr war für ihn der Heilige Abend. Im Kreis der Familie, unterm Lichterbaum. Leise spielt das Grammophon „Süßer die Glocken nie klingen“. Da konnte es schon passieren, daß dem großen, starken Mann ein, zwei Tränen in den Bart liefen.“

Der britische Historiker Richard J. Evans schrieb in seinem Standardwerk „Rituale der Vergeltung“ über den Scharfrichter Röttger und sein Ende: „Andere mögen bei Bombenangriffen oder allerletzten Gefechten ums Leben gekommen sein. Zumindest ein Scharfrichter, nämlich Willi Röttger, wäre für die deutschen Behörden kaum akzeptabel gewesen, da er im Gefängnis Plötzensee die Hinrichtung der Männer des 20. Juli durch den Strang vorgenommen hatte.“

1946 wurde der ehemalige „Henker von Berlin“ in einem Krankenhaus in Hannover entdeckt, wohin er sich geflüchtet hatte, weil dort nicht so streng gesucht wurde. Kurz nach seiner Verhaftung starb Röttger in einem Gefängnis in Hannover am 13. September 1946.[14]

Zuvor erschien in den „Hannoverschen Neuesten Nachrichten“ vom 24. August 1946 ein Artikel über Wilhelm Friedrich Röttger mit der Überschrift „Der Henker des 20. Juli“, in dem über die von ihm gewählte Form des Erhängens berichtet wird.[15]

Literatur

  • Matthias Blazek: Scharfrichter in Preußen und im Deutschen Reich 1866–1945. ibidem: Stuttgart 2010 ISBN 978-3-8382-0107-8
  • Harald Poelchau: Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. Berlin 1949
  • Irene Stuiber: Hingerichtet in München-Stadelheim. Books on Demand, Landeshauptstadt München, Kulturreferat, 2004 ISBN 3-8334-0733-6
  • Verband der Film- und Fernsehschaffenden der Deutschen Demokratischen Republik: Film und Fernsehen. Ausgabe 5, Berlin 1983

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Koch, Tankred, Geschichte der Henker – Scharfrichter-Schicksale aus acht Jahrhunderten, Heidelberg 1988/1991, S. 302.
  2. Pechel, Rudolf (Hrsg.), Deutscher Widerstand, Erlenberg-Zürich 1947, S. 167.
  3. Das Geburtsjahr liefert Schmidt, Herbert, Todesurteile in Düsseldorf 1933–1945 – Eine Dokumentation, Droste Verlag, Düsseldorf 2008, S. 49. Schmidt weist darauf hin, dass Röttger bis 1940 Schlosser gewesen sei.
  4. Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert (PWJ), Band 2, Opladen 1993, S. 38.
  5. Aufbau, kulturpolitische Monatsschrift, hg. vom Kulturbund zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands, 5. Jahrgang, Heft 5, Berlin 1949, S. 28.
  6. Jokostra, Peter, Tuchfühlung, Hamburg 1965, S. 22.
  7. Kessler, Achim, „Schafft die Einheit!“ – Die Figurenkonstellation in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, Berlin 1997, S. 65.
  8. a b c Darunter waren die Moabiter Brüder Arnold und Richard Thomas, der eine Schmied, der andere Wirt der „Sängerklause“, so Spiegel-Reporter Hans Halter in „An der Richtstätte kein Hitler-Gruß“ (Der Spiegel 8/1979 vom 19. Februar 1979, S. 100 f.).
  9. Form, Wolfgang; Neugebauer, Wolfgang; Schiller, Theo, NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938–1945, Analysen zu den Verfahren vor dem Volksgerichtshof und dem Oberlandesgericht Wien, München 2006, S. 326.
  10. Schuppener, Henriette, "Nichts war umsonst": Harald Poelchau und der deutsche Widerstand, Reihe: Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e.V., Berlin 2006, S. 82.
  11. Stojanov, Petăr, Reichstagsbrand – Die Prozesse in London und Leipzig, Wien u. a. 1966, S. 320.
  12. Keiderling, Gerhard, Berlin 1945–1986 – Geschichte der Hauptstadt der DDR, Berlin (Ost) 1987, S. 380.
  13. Film und Fernsehen, Ausgabe 5, Berlin: Verband der Film- und Fernsehschaffenden der Deutschen Demokratischen Republik 1983, S. 8.
  14. Frenzel, Max; Thiele, Wilhelm; Mannbar, Artur, Gesprengte Fesseln – Ein Bericht über den antifaschistischen Widerstand und die Geschichte der illegalen Parteiorganisation der KPD im Zuchthaus, Berlin 1976, S. 97, das Todesdatum aus: Overesch, Manfred, Das besetzte Deutschland 1948-1949, Augsburg 1992, S. 812.
  15. Hoffmann, Peter, Widerstand, Staatsstreich, Attentat – Der Kampf der Opposition gegen Hitler, München 1979, S. 873.

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