Weltende (Jakob van Hoddis)

Weltende (Jakob van Hoddis)

Weltende ist ein Gedicht von Jakob van Hoddis über die damalige Zeitstimmung und somit ein Werk der in der Wiege liegenden expressionistischen Apokalypse.

1911 wurde es in der Berliner Zeitschrift Der Demokrat erstmals veröffentlicht. In dieser Zeit waren die Ansichten des Impressionismus noch weit verbreitet, das Gedicht markiert somit einen neuen Abschnitt in der Literaturgeschichte.

Inhaltsverzeichnis

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Form

Formal konventionell gehalten besteht das Gedicht aus zwei Strophen, die vierzeilig sind, also acht Versen. Das Metrum steht im fünfhebiger Jambus, die erste Strophe hat einen umschließenden Reim ABBA, die zweite Strophe einen Kreuzreim ABAB.

Die Verse stehen unverbunden hintereinander, sie reihen sich, man nennt dies Reihungsstil. Dabei bildet jeder Vers eine Sinneinheit, außer Zeile fünf, bei der das Zeilenende überschritten wird, man nennt das Enjambement.

Die erste Strophe hat nur männliche die zweite nur weibliche Reimendungen. Diese Eigenschaften werden beschrieben im Kontext der Kadenz, speziell der Alternanz.

Inhalt

Ein oder zwei Verse bilden jeweils eine Sinneinheit. Alle diese Sinneinheiten stehen in keinem offensichtlichen Zusammenhang mit den anderen Einheiten, so dass sich für den Leser der Eindruck erweckt, dass das Gedicht wirr, abgehackt oder zusammenhanglos wirkt.

(V1) Der Bürger steht an der Spitze, dies deutet eine antibourgeoise Haltung an. Der Hut steht für bürgerliche Sitten, er wird ihm von Sturm vom Kopf geweht. Der spitze Kopf ist mit sehr differenzierten Bedeutungen belegt.

(V2) Eine Kontrafaktur zur Goethes Wandrers Nachtlied (Über allen Gipfeln ist Ruh) deutet auf die nahende Katastrophe einer auseinanderfallenden Wirklichkeit.

(V3) Die Verdinglichung der Dachdecker wird durch den neuen Wind erreicht, der jene von den Dächern stößt die für Infrastruktur und Aufschwung verantwortlich sind. Wertfrei und mit ironischen Mitteln wird so gefordert, Fortschritt über den Umweg der Zerstörung alter Strukturen zu erlangen.

(V4) - liest man -, als Parenthese eingeschoben, vermittelt den Reimstil medial, also als Aneinanderreihung von Schlagzeilen. Die Grenzen des Kaiserreichs sind in Gefahr und die Menschen berührt die nahende Katastrophe nicht, sie lesen davon nur in der Zeitung.

(V5) Diese Strophe lässt sich als ironische literarische Anspielung auf Zeitschriften der damaligen Zeit lesen. hupfen als inkongruentes Verb lässt alles aus den Fugen geraten.

(V6) Das hupfende Meer bekommt menschliche Züge, seine Kraft wird durch die überwundenen, dicken Dämme noch verstärkt.

(V7) Die gewünschte Änderung kommt aber nicht.

(V8) Kritik an der öffentlichen Maschinerie wird deutlich, es könnte auch ein intertextueller Bezug zu einem realistischen Katastrophentext sein (Die Brück’ am Tay).

Interpretation

Um 1910 existiert eine reale apokalyptische Angst vor dem Halleyschen Kometen, man hat Angst, dass er mit der Erde zusammenstößt.

Der Text sucht die Expression für die sich stark ändernde Wirklichkeit (das bröckelnde Kaiserreich, der technische Fortschritt), und entgleist semantisch wie die Eisenbahn.

Der Text könnte sich auch auf eine Vorwegnahme des kommenden Weltkriegs beziehen, oder autobiographisch sein. Solche Deutungen gelten aber als schwierig.

Rezeption

Bei den Zeitgenossen hatte van Hoddis großen Erfolg, seine Lyrik wurde von den damaligen Literaturkritikern und Intellektuellen hoch geschätzt. So eröffnete Weltende die wohl berühmteste expressionistische, von Kurt Pinthus 1919 herausgegebene, Lyrikanthologie Menschheitsdämmerung.

Weltende wurde zu einem Kultgedicht, zu einem neuen politischen Mittel. Es bleibt damit fast das einzige Gedicht von van Hoddis, das Berühmtheit erlangte, es bringt ihm allerdings einen Ruf als Vorreiter des Expressionismus ein. Der revolutionäre Reihungsstil wird von den Expressionisten, aber auch noch später übernommen.

Um 1950 sind lediglich noch das Gedicht Weltende und die sechzehn Gedichte umfassende gleichnamige Sammlung, die 1918 von Franz Pfemfert publiziert wurde, weiteren Kreisen bekannt.

Primärliteratur

  • Paul Pörtner (Hrsg.): Jakob van Hoddis, Weltende. Gesammelte Dichtungen. Arche, Zürich 1958

Sekundärliteratur

  • Karl Riha: „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“. In: Harald Hartung (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 5: Vom Naturalismus bis zur Jahrhundertmitte. Reclam, Stuttgart 1983, ISBN 3-15-007894-6, S. 118-125

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