Tumor Dormancy

Tumor Dormancy

Mit dem englischen Begriff Tumor Dormancy (wörtlich ‚Tumorruhe‘, dormancy = Dormanz, ‚Ruhezustand‘) bezeichnet man in der Onkologie die Phase eines malignen Tumors, in dem ein Wachstumsstillstand vorliegt und der Tumor in einem scheinbar „schlafenden“ Zustand verharrt.[1] In dieser Ruhephase sind zwar Tumorzellen vorhanden, eine Tumorprogression ist jedoch klinisch nicht wahrnehmbar.[2] Diese Ruhephase, in der die Krebszellen sich unterhalb der Detektionsschwelle konventioneller Diagnostik befinden, kann Monate bis mehrere Jahrzehnte andauern.[2]

Deutschsprachige Begriffe, wie beispielsweise Tumorschlaf oder schlafender Tumor, sind in der Literatur bisher kaum etabliert.

Inhaltsverzeichnis

Pathologie und Prävalenz

Die Ursache für Tumor Dormancy kann prinzipiell ein angehaltener Zellzyklus oder ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Zellproliferation (Neubildung von Zellen; im Beispiel Krebszellen) und Apoptose (programmierter Zelltod) sein.[2] Die Tumor Dormancy ist definiert als die Zeitspanne zwischen der karzinogenen Transformation und dem Beginn des nicht mehr aufzuhaltenden progressiven Tumorwachstums.[3]

Es gibt eine Reihe von Belegen die Hinweise darauf liefern, dass mikroskopisch kleine, im Ruhezustand befindliche Tumoren in sonst gesunden Individuen ausgesprochen häufig sind. Bedingt durch die geringe Größe, ihre nicht-invasiven Eigenschaften und das Fehlen von Symptomen, bleiben diese Tumoren in den meisten Fällen unentdeckt.[3] Erst in den 1990er Jahren erkannte man, dass Tumor Dormancy erheblich häufiger verbreitet ist, als man ursprünglich annahm.[4] Bei der Obduktion von Unfallopfern können bei den meisten dieser Personen mikroskopisch kleine Tumoren festgestellt werden. Dass sich daraus in den wenigsten Fällen klinisch relevante Krebserkrankungen entwickeln, wird mehreren Mechanismen zugeschrieben. Diskutiert werden dabei unter anderem die körpereigene Immunüberwachung, eine Blockade beziehungsweise die fehlende Fähigkeit der Gefäßneubildung (Angiogenese) und ein Ausstieg aus dem Zellzyklus. Die Vorgänge die einer Tumor Dormancy zugrunde liegen sind noch weitgehend unklar. Eine genauere Kenntnis der Prozesse, die diesen Effekt bewirken können, kann zukünftig einen erheblichen Einfluss auf Diagnostik und Therapie von Krebserkrankungen haben.[2]

Ein wichtiger Faktor, der die Tumor Dormancy beeinflusst, ist die Angiogenese. Für das Wachstum eines soliden Tumors über ein Volumen von 1 bis 2 mm³ hinaus, ist die Neubildung von Blutgefäßen notwendig, damit die Tumorzellen ausreichend mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt werden können. Ohne die Fähigkeit neue Blutgefäße für die Versorgung ausbilden zu können, bleiben diese nicht-angiogenen Neoplasien auf eine symptomlose und klinisch nicht relevante Größe beschränkt.[3] Die Nährstoffversorgung wird über Diffusion gewährleistet. Die hohe Proliferationsrate der entarteten Zellen wird durch eine Zunahme an absterbenden Krebszellen ausgeglichen. Es stellt sich ein dynamisches Gleichgewicht zwischen neuen und absterbenden Zellen ein, was ein Stillstand des Tumorwachstums bedeutet.[5][6][7][1] Die Gefäßneubildung wird durch verschiedene Botenstoffe geregelt. Als Aktivatoren der Angiogenese sind VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor) und FGF-1 (acidic Fibroblast Growth Factor) und FGF-2 (basic Fibroblast Growth Factor) bekannt. Dagegen sind beispielsweise α-Interferon, Plättchenfaktor 4 (PF4) und Angiostatin Inhibitoren der Angiogenese. Während der Phase der Tumor Dormancy, so die Modellvorstellung, überwiegen die Inhibitoren oder es besteht ein Gleichgewicht zwischen beiden Seiten. Verschiebt sich das Gleichgewicht in Richtung der Aktivatoren, so kommt es zu einer Ausbildung von Blutgefäßen zur Versorgung des Tumors.[8][9][10][1] Verschoben wird dieses Gleichgewicht durch genetische Veränderungen in den Tumorzellen während der Tumorigenese, das ein Hochregulieren der Expression von proangiogenen Faktoren bewirkt. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem angiogenic switch („angiogener Schalter“),[11][12][13][14][15], bei dem der Tumor vom avaskulären in den vaskulären Zustand übergeht.[16]

Der Wechsel in den vaskulären Zustand wird allerdings nicht von allen Tumorzellen vollzogen. Nur etwa 4 bis 10 % der Zellen entsprechen dem angiogenen Phänotyp.[17][18]

Warum und wodurch einige der Tumorzellen die Tumor Dormancy verlassen und angiogen aktiv werden, ist nicht vollständig geklärt. Der angiogenic switch selbst kann durch Hypoxie (Sauerstoffmangel im Gewebe), weitere Mutationen im Genom der Tumorzellen oder über die Aktivierung von Onkogenen beziehungsweise die Deaktivierung von Tumorsuppressorgenen, ausgelöst werden. Danach werden vermehrt angiogenesestimulierende Botenstoffe exprimiert, wodurch neue Blutgefäße in den Tumor einwachsen. Dadurch wird der Tumor an das Blut- und Lymphsystem angeschlossen und der Weg zu einem exponentiellen Größenwachstum und letztlich auch zur Metastasierung geöffnet.[12][19]

Medizingeschichte

Der Begriff der Tumor Dormancy wurde erstmals 1934 von dem australischen Pathologen Rupert Allan Willis (1898–1980)[20] in seiner Monographie Spread of tumours in the human body geprägt. Er stellte fest, dass nach einer vermeintlich kurativen Entfernung des Primärtumors, sich nach einer langen Latenzzeit Tumormetastasen bilden können.[21] Bis in 1990er Jahre glaubte man, dass die Tumorzellen in der G0-Phase des Zellzyklus verharren und dann wieder reaktiviert werden. Diese Hypothese konnte im Tierversuch widerlegt werden.[22] Das Modell einer ausgeglichenen Proliferations- und Apoptoserate wurde 1995 ebenfalls aus Tierversuchen heraus entwickelt.[23][24]

Wesentliche Beiträge zur Tumor Dormancy stammen von dem US-amerikanischen Arzt und Zellbiologen Judah Folkman.

Einzelnachweise

  1. a b c C. F. Nußbaum: Funktion von Thrombozyten bei antivaskulärer Tumortherapie durch Paclitaxel enkapsuliert in kationische Liposomen. Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität zu München, 2008, S. 2.
  2. a b c d E. Yefenof u. a.: Cancer dormancy: Isolation and characterization of dormant lymphoma Cells. In: PNAS 90, 1993, S. 1829–1833. PMID 8446596
  3. a b c N. Almog: Molecular mechanisms underlying tumor dormancy. In: Cancer Lett 294, 2010, S. 139–146. PMID 20363069
  4. J. W. Uhr u. a.: Cancer dormancy: Opportunities for new therapeutic approaches. In: Nature Medicine 3, 1997, S. 505–509. doi:10.1038/nm0597-505
  5. M. A. Gimbrone u. a.: Tumor dormancy in vivo by prevention of neovascularization. In: J Exp Med 136, 1972, S. 261–276. PMID 5043412
  6. S. Brem u. a.: Prolonged tumor dormancy by prevention of neovascularization in the vitreous. In: Cancer Res 36, 1976, S. 2807–2812. PMID 127719
  7. J. Folkman und R. Kalluri: Cancer without disease. In: Nature 427, 2004, S. 787. PMID 14985739
  8. J. Folkman: Angiogenesis in cancer, vascular, rheumatoid and other disease. In: Nat Med 1, 1995, S. 27–31. PMID 7584949 (Review)
  9. D. Hanahan und J. Folkman: Patterns and emerging mechanisms of the angiogenic switch during tumorigenesis. In: Cell 86, 1996, S. 353–364. PMID 8756718 (Review)
  10. G. N. Naumov u. a.: A model of human tumor dormancy: an angiogenic switch from the nonangiogenic phenotype. In: J Natl Cancer Inst 98, 2006, S. 316–325. PMID 16507828
  11. J. Folkman: Tumor angiogenesis. In: The molecular basis of Cancer J. Mendelsohn u. a. (Hrsg.), W. B. Saunders Company, Philadelphia, 1995, ISBN 0-721-66483-0, S. 206.
  12. a b G. Bergers und L. E. Benjamin: Tumorigenesis and the angiogenic switch. In: Nature Rev Cancer 3, 2002, S. 401–410. PMID 12778130 (Review)
  13. L. Moserle u. a.: The angiogenic switch: implications in the regulation of tumor dormancy. In: Curr Mol Med 9, 2009, S. 935–941. PMID 19925406 (Review)
  14. S. Strieth u. a.: Angiogenic switch occurs late in squamous cell carcinomas of human skin. British journal of cancer. 82, 2000, S. 591–600. PMID 10682671
  15. J. Soltau: Evaluation der Wirkung von Bisphosphonaten auf die Tumorangiogenese und ihre Bedeutung in der adjuvanten Tumortherapie Dissertation, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, 2005 S. 7–8.
  16. B. Manemann: VEGF und Flt-1 als Prognosefaktoren bei neoadjuvant behandelten, lokal fortgeschrittenen nicht-kleinzelligen Lungentumoren. Dissertation, Ruhr-Universität Bochum, 2003 S. 13.
  17. J. Folkman u. a.: Induction of angiogenesis during the transition from hyperplasia to neoplasia. In: Nature 339, 1989, S. 58–61. PMID 2469964
  18. N. Weidner u. a.: Tumor angiogenesis and metastasis – correlation in invasive breast carcinoma. In: NEJM 324, 1991, S. 1–8. PMID 1701519
  19. C. Dunau: Klinische Prüfung der Verträglichkeit und Wirksamkeit kationischer Liposomenformulierungen bei Patienten mit Plattenepithelkarzinomen des Kopf-Hals-Bereichs. Dissertation, LMU München, 2010
  20. Willis, Rupert Allan (1898 - 1980) Australian Dictionary of Biography, abgerufen am 29. Juli 2010
  21. R. A. Willis: Spread of tumours in the human body. J. & A. Churchill, 1934
  22. C. Murray: Tumour dormancy: not so sleepy after all. In: Nat Med 12, 1995, S. 117–118. PMID 7585003
  23. L. Holmgren u. a.: Dormancy of micrometastases: balanced proliferation and apoptosis in the presence of angiogenesis suppression. In: Nat Med 1, 1995, S. 149–153. PMID 7585012
  24. B. Partzsch: Identifizierung und Isolierung von Angiostatin aus dem Urin bei Patienten mit Prostatakarzinom. Dissertation, Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg, 2004

Weiterführende Literatur

Weblinks


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