Abstrakte Normenkontrolle

Abstrakte Normenkontrolle

Die abstrakte Normenkontrolle ist eine Verfahrensart im deutschen Verfassungsprozessrecht. In dem objektiven Verfahren wird die Vereinbarkeit einer Rechtsnorm mit höherrangigem Recht überprüft, ohne dass subjektive Rechte verletzt sein müssten. Während ein Gericht im Einzelfall entscheidungserhebliche und von diesem Gericht für verfassungswidrig gehaltene Normen (Rechtsverordnung, Satzung) unangewendet lassen müssen bzw., wenn es sich um Parlamentsgesetze handelt, diese dem Verfassungsgericht vorlegen müssen (konkrete Normenkontrolle), soll die abstrakte Normenkontrolle losgelöst von einem konkreten Rechtsstreit die all umfassende Vereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz garantieren.

Bei der abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht wird nach § 76 BVerfGG geprüft, ob Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht vereinbar ist. Konkret heißt das,

  • ob es wegen Unvereinbarkeit nichtig ist oder (seltener)
  • ob es gültig ist, obwohl ein Gericht, eine Behörde oder ein Bundes- bzw. Landesorgan es wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht nicht angewandt hat (Normbestätigungsverfahren).

Ein Spezialfall der abstrakten Normenkontrolle mit erweiterter Antragsberechtigung, aber eingeschränktem Prüfungsumfang ist das Kompetenzkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG.

Die abstrakte Normenkontrolle ist für den Bund in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG geregelt. Wichtige Voraussetzungen finden sich in §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG (Bundesverfassungsgerichtsgesetz). Auch das Landesverfassungsrecht kennt abstrakte Normenkontrollverfahren vor den Landesverfassungsgerichten, in denen überprüft wird, ob Landesrecht mit der Landesverfassung vereinbar ist.

Inhaltsverzeichnis

Die Abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG

Zuständigkeit

Das Bundesverfassungsgericht ist hinsichtlich der abstrakten Normenkontrolle aufgrund von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG in Verbindung mit § 13 Nr. 6 BVerfGG zuständig.

Antragserfordernis

Für eine abstrakte Normenkontrolle bedarf es eines ordnungsgemäßen Antrags (§ 23 Abs. 1 BVerfGG) an das Gericht. Der Antrag muss schriftlich sein und eine Begründung enthalten.

Beteiligungsfähigkeit

Bei der Normenkontrolle bedarf es grundsätzlich keines Antragsgegners. Beteiligtenfähig ist stets nur der Antragsteller. Als Antragsteller kommen allein in Betracht:

Die Beteiligtenfähigkeit ergibt sich aus § 76 Abs. 1 BVerfGG.

Prüfungsumfang

Überprüft werden kann mit der abstrakten Normenkontrolle die Vereinbarkeit bundes- und landesrechtlicher Regelungen mit dem Grundgesetz sowie die Vereinbarkeit von Landesrecht mit dem sonstigen Bundesrecht. Recht sind dabei sämtliche Vorschriften mit Außenrechtscharakter, also keine Verwaltungsvorschriften mit Ausnahme der Haushaltsgesetze.

Nicht nur Gesetze sind überprüfbar, sondern auch untergesetzliche Normen wie Rechtsverordnungen und Satzungen. Es ist bei der abstrakten Normenkontrolle unerheblich, ob das Recht bereits aus der Zeit vor Inkrafttreten des Grundgesetzes ("vorkonstitutionelles Recht") oder in der Zeit danach entstanden ist. Hinsichtlich der Norm ist lediglich erforderlich, dass sie bereits Geltung erlangt hat. Eine Verkündung ist erforderlich. Damit ist eine vorbeugende Normenkontrolle nicht möglich.

Anders liegt der Fall bei völkerrechtlichen Verträgen. Gegen diese ist auch eine vorbeugende Normenkontrolle möglich, um gegebenenfalls den Vertragsschluss noch verhindern zu können. Dies hängt damit zusammen, dass völkerrechtliche Verträge zunächst noch durch ein so genanntes Transformationsgesetz in das jeweils nationale Recht übertragen werden müssen. Man wollte den Antragsberechtigten nicht zumuten, erst abwarten zu müssen, dass ein möglicherweise verfassungswidriges Transformationsgesetz erlassen wird.

Vorbeugend ist die Normenkontrolle völkerrechtlicher Verträge also nur hinsichtlich der Transformation, nicht hinsichtlich des Vertragsschlusses.

Antragsgrund

Letztlich bedarf es für die Zulässigkeit des Antrags noch eines Antragsgrundes.

Grundsätzlich verlangt Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG "Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit" (nicht zwingend beim Antragssteller). Dagegen verlangen die Vorschriften des BVerfGG ein "Für-nichtig-Halten" der Norm gerade in der Person des Antragsstellers, § 76 Abs. 1 BVerfGG.

Die in der Literatur herrschende Ansicht hält die Zweifel für ausreichend, da das Grundgesetz normhierarchisch über dem BVerfGG steht. Das Bundesverfassungsgericht sieht in § 76 Abs. 1 BVerfGG eine zulässige Konkretisierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Danach muss der Antragssteller die Norm für nichtig halten - bloße Zweifel genügen nicht.

Ein Antragsgrund besteht auch, wenn ein Gericht oder eine Behörde in der Ansicht, es handele sich um verfassungswidriges Recht, eine Norm nicht angewandt hat und der Antragssteller sie sehr wohl für gültig hält. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG lässt auch "Meinungsverschiedenheiten" ausreichen. Während bei subjektiven Verfahrensarten regelmäßig die Möglichkeit der Rechtsverletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts verlangt wird, ist dies beim objektiven abstrakten Normenkontrollverfahren nicht notwendig.

Frist

Eine Frist ist nicht einzuhalten. Ein Antrag auf abstrakte Normenkontrolle kann jederzeit gestellt werden.

Begründetheit

Hinsichtlich der Begründetheit ist das beanstandete Recht mit der formellen und materiellen Verfassungsmäßigkeit in Bezug auf das Grundgesetz (und bei Landesrecht mit dem sonstigen Bundesrecht) zu überprüfen.

Tenor nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG

In der Urteilsformel (Tenor) wird das Bundesverfassungsgericht nach § 78 Abs. 1 BVerfGG dann schließlich die Nichtigkeit oder die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz (oder dem Bundesrecht bei landesrechtlichen Regelungen) feststellen. Bei Verstößen gegen Gleichheitsgrundsätze wird dagegen in der Regel nur die "Unvereinbarkeit" mit dem Grundgesetz festgestellt. Der Entscheidung selbst kommt gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft zu.

Normbestätigungsverfahren

Das Normbestätigungsverfahren hat nur geringe Bedeutung, da die Gerichte bei Zweifeln an der Vereinbarkeit eines formellen Gesetzes mit der Verfassung einen Antrag auf konkrete Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht stellen müssen. Sie können das angeblich verfassungswidrige Gesetz also nicht unangewendet lassen. Nur bei untergesetzlichen Normen (Rechtsverordnung, Satzung) und vorkonstitutionellen Gesetzen haben die Fachgerichte selbst die Verwerfungskompetenz.

Kompetenzkontrollverfahren

Die Beteiligtenfähigkeit erweitert sich bei Gesetzen, die gegen Art. 72 Abs. 2 oder Art. 75 Abs. 2 (abgeschafft) GG verstoßen könnten, auf den Bundesrat und die Länderparlamente. Zweck der Erweiterung ist die Begrenzung der Ausuferung der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes zu Lasten der Länder. Die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG erfordert jedoch keine Zweifel, sondern Meinungsverschiedenheiten.

Normenkontrolle in anderen Fällen des öffentlichen Rechts

Historische Entwicklung

Die abstrakte Normenkontrolle war bereits in der Paulskirchenverfassung von 1849 vorgesehen (siehe § 126 Buchst. a FRV); explizit wurde sie jedoch erst mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes in den Verfassungsrang erhoben.


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