Punktuelle Musik

Punktuelle Musik

Punktuelle Musik ist eine Kompositionsweise, die von zahlreichen Komponisten insbesondere in Europa etwa zwischen 1949 und 1955 angewandt wurde. Die Bezeichnung beschreibt eine Musik, „deren Strukturen sich vorwiegend von Ton zu Ton vollziehen, ohne dass herkömmliche vertikale (klänge) oder horizontale (melodische) 'Gestalten' wahrnehmbar werden sollten. Die Idee von Musik als 'Raum', oder 'Gas' statt als Körper im Raum sollte verwirklicht werden. Die Tonpunkte sollten (in diesem oder jenem Konzept) in dem Raum sein, oder sogar den Raum selbst markieren (den Raum dazwischen) - etwa (nur als Verständniskrücke) vergleichbar mit verschieden großen, und farbigen Perlen (s. H. Hesses Einfluss auf K. Stockhausen) unterschiedlicher Materialien, die in einer Drahtskulptur nach ganz bestimmten Gesetzen (die sich auf jene Qualitäten-Kombinationen beziehen) alle im gleichen räumlichen Abstand zueinander angeordnet sind (denn es soll ja keine Gewichtung mehr zwischen Laut und Leise, Hoch und Tief usw. mehr bestehen).[1]

Und auch der einzelne Ton als 'Punkt' (also der ideelle Punkt, der sein Pendant im ideellen, unendlich kleinen 'Nu' oder 'Augenblick' hat) sollte darstellbar werden. Dabei wurde vor allem auch die Dauer eines Tons nur noch eine Qualität wie andere auch (Lautstärke, Farbe, 'Höhe' usw.). Die Tondauer sollte nicht mehr in einem metrisch-proportionalen Verhältnissystem (Hebungs-Senkungs-System) aufgefasst werden, sondern 'entzeitlicht' und 'enträumlicht'. Der 'Punkt' trat nun an die Stelle des 'Motivs' oder der 'Gestalt', und war nun selbst das eigentliche Objekt. Seine 'Gestalt' war nicht mehr in sukzessiven Tonbeziehungen gegeben, sondern setzte sich aus der Beziehung gleichzeitiger, und unverwechselbarer Prameterqualitäten in einem einzelnen Ton, in einem einzigen Moment zusammen. Es ist vergleichbar mit dem Gehen durch eine Galerie: Man tritt vor dieses Bild, nun vor dieses... K. Stockhausen fordert hierzu eine "aufmerksame Passivität" (übrigens eine buddhistische Tugend) - Nur so könne sich die (tatsächlich sehr strenge serielle) Ordnung des Ganzen Satzes von 'Punkte' (1952/53) erschließen. Und dies (wohl) auch ohnehin nur sublim, also ohne 'rationales Aha-Erlebnis'.[2]

Allerdings ist vor allem die Forderung nach der Eliminierung vertikaler (simultaner) Tonbeziehungen hier strittig, da der Einzelton recht unsystematisch mit unterschiedlichen spektralen 'Farben' versehen wird, die ja aus akustischer Sicht 'Akkorde' also Simultanbeziehungen von (Sinus-)Tönen sind.

Es wurde so vorgegangen, dass man jeder einzelnen Note einer Komposition diskrete Werte aus Skalen der vier Parameter Tonhöhe, Dauer, Lautstärke und Anschlagsdynamik zuordnete. Punktuelle Dynamik bedeutet zum Beispiel,

dass alle dynamischen Werte fest sind; ein Punkt wird direkt mit einem anderen auf der gewählten Skala verbunden, ohne vermittelnden Übergang. Liniendynamik dagegen, involviert die Übergänge von einer Amplitude zu einer anderen; crescendo, decrescendo und deren Kombinationen. Diese zweite Kategorie kann als dynamisches Glissando definiert werden, vergleichbar zu Glissandi der Tonhöhe und von Tempi (Accellerando, Ritardando)[3]

„Der fast analytische Fokus auf Einzelereignisse und den Übergang zwischen ihnen bringt einen Stillstand in diese Musik, die weit entfernt von der gestischen Qualität anderer Stücke ist“[4]. Nach Eggebrecht ist mit dem Begriff „zunächst primär der Höreindruck der Isolierung der Töne zu Punkten“ verbunden; technisch benennt er „Den Ton der Musik als Ton-‚Punkt‘, nämlich als Schnittpunkt von Elementreihen der seriell organisierten Musik“[5].

Der Begriff wurde u.a. retrospektiv auf die Musik von Anton Webern angewandt. Er wurde aber ursprünglich von Karlheinz Stockhausen und Herbert Eimert geschaffen, um Werke wie Olivier Messiaens "Mode de valeurs et d'intensités" (1949) zu beschreiben.[6]. Allerdings wird er meistens mit seriellen Werken wie den Structures von Pierre Boulez, Buch 1 (1952), der Sonate für zwei Klaviere und Nummer 2 für dreizehn Instrumente von Karel Goeyvaerts, und Luigi Nonos Polifonica–Monodia–Ritmica verbunden, wie auch mit einigen frühen Kompositionen von Stockhausen, wie z.B. Kreuzspiel. Herman Sabbe argumentiert aber, dass „Stockhausen nie eigentlich punktuell“ komponiert habe[7]. Der bis dato wenig gespielte Schweizer Komponist Hermann Meier arbeitete zur selben Zeit ebenfalls mit punktuellen Techniken.

Im Englischen und Französischen kam es zu Verständnisproblemen, da der Begriff auch als pointillism bzw. musique pointilliste übersetzt wurde, der Malstil des Pointillismus aber nichts mit der Punktuellen Musik zu tun hat.

Das Konzept wurde zuerst von Pierre Boulez 1954 als Text veröffentlicht ("Recherches maintenant" 1954; der Stockhausen-Artikel „Zur Situation des Handwerks“ von 1952 blieb bis 1963[8] unveröffentlicht.) Boulez schreibt später: „Dennoch, einem Übermaß an Arithmetik zum Trotz hatten wir eine gewisse ‚Punktualität‘ des Klanges erreicht, worunter ich buchstäblich den Schnittpunkt verschiedener funktionaler Möglichkeiten in einem Punkt verstehe. Was hat dieser ‚punktuelle‘ Stil gebracht? Die gerechtfertigte Ablehnung des Thematizismus.“[9]

Einzelnachweise

  1. aus: Christoph von Blumröder, Die Grundlegung der Musik Stockhausens ,Stuttgart, 1993
  2. aus: Christoph von Blumröder, Die Grundlegung der Musik Stockhausens ,Stuttgart, 1993
  3. Boulez Music Today
  4. Grant S. 78
  5. Eggebrecht Punktuelle Musik Abschnitt I und V
  6. Blumröder S. 99 Fußnote 85
  7. Sabbe Wie die Zeit verging S. 68
  8. Stockhausen Texte 1
  9. Boulez, Stocktakings S. 16

Literatur

  • Christoph von Blumröder: Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens. In: Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft. 32, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1993.
  • Pierre Boulez: Boulez on Music Today. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts 1971 (übersetzt von Susan Bradshaw and Richard Rodney Bennett).
  • Pierre Boulez: Stocktakings from an Apprenticeship. Clarendon Press, Oxford 1991 (übersetzt von Stephen Walsh), ISBN 0193112108.
  • Hans-Heinrich Eggebrecht: Punktuelle Musik. In: Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Zur Terminologie der Musik des 20. Jahrhunderts. Bericht uber das 2. Colloquium der Walcker-Stiftung 9. – 10. März 1972 in Freiburg/Breisgau; Veröffentlichungen der Walcker-Stiftung für orgelwissenschaftliche Forschung. 5, Musikwissenschaftliche Verlags-Gesellschaft, Stuttgart 1974, S. 162–187.
  • Karlheinz Essl: Aspekte des Seriellen bei Stockhausen. In: Lothar Knessel (Hrsg.): Wien Modern ’89. Wien Modern, Wien 1989, S. 90–97 (http://www.essl.at/bibliogr/stockhausen.html).
  • Rudolf Frisius: Serielle Musik. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart: allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2 Auflage. 1, Nr. 8 (Quer–Swi), Bärenreiter; Metzler, Kassel & New York (Bärenreiter); Stuttgart (Metzler) 1998 (ISBN 978-3-7618-1109-2 (Bärenreiter) ISBN 978-3-476-41008-5 (Metzler), http://www.frisius.de/rudolf/texte/tx317.htm).
  • M. J. Grant: Serial Music, Serial Aesthetics: Compositional Theory in Post-war Europe. Cambridge University Press, Cambridge, U.K.; New York 2001.
  • Michael Hicks: Exorcism and Epiphany: Luciano Berio’s Nones. In: Perspectives of New Music. 27, Nr. 2 (Summer), 1989, S. 252–268.
  • Edward Lippman: A History of Western Musical Aesthetics. University of Nebraska Press, Lincoln & London 1992.
  • Dirk Moelants: Statistical Analysis of Written and Performed Music: A Study of Compositional Principles and Problems of Coordination and Expression in 'Punctual' Serial Music. In: Journal of New Music Research. 29, Nr. 1 (March), S. 37–60.
  • Herman Sabbe: Die Einheit der Stockhausen-Zeit ...: Neue Erkenntnismöglichkeiten der seriellen Entwicklung anhand des frühen Wirkens von Stockhausen und Goeyvaerts. Dargestellt aufgrund der Briefe Stockhausens an Goevaerts. In: Heinz-Klaus Metzger and Rainer Riehn (Hrsg.): Musik-Konzepte. 19: Karlheinz Stockhausen: ... wie die Zeit verging ..., Edition Text + Kritik, München 1981, S. 5–96.
  • Herman Sabbe: Goeyvaerts and the Beginnings of 'Punctual' Serialism and Electronic Music. In: Revue Belge de Musicologie / Belgisch Tijdschrift voor Muziekwetenschap. 48, 1994, S. 55-94.
  • Karlheinz Stockhausen; Dieter Schnebel (Hrsg.): Texte zur Musik 1. Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens. M. DuMont Schauberg, Köln 1963.

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