Nomos (Antike)

Nomos (Antike)

Nomos (griechisch νόμος; Plural Nomoi) ist der griechische Terminus für Gesetz, aber auch für Brauch, Übereinkunft. Gemeint ist etwas, das bei allen Lebewesen Gültigkeit besitzt. Seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. wurden im antiken Griechenland auch gesetzesförmige Regelungen so genannt (zu unterscheiden ist aber von Entscheidungen der Volksversammlung einer Polis, siehe Psephisma).

Inhaltsverzeichnis

Die Entstehungszeit des Gesetzes

„Nomos“ ist nach den Hymnen des „Orpheus“ nach „Nemesis“ [= Zuteilungen], „Dike“ [= Rechtsprechung] und „Dikaiosyne“ [= Staatsrecht] der vierte und historisch letzte Rechtsbegriff der Griechen. Während die drei vorherigen Begriffe alle weiblich waren, ist das Gesetz männlich, womit gleichzeitig die vollständige Abkehr vom Mutterrecht und die Einführung des Vaterrechts angedeutet wird, wie es am klarsten von Aischylos in seiner dreiteiligen „Orestie“ dargestellt wird, vergleiche aber auch SophoklesElektra“. Aischylos gibt in seinem Drama „Die Eumeniden“ (dem dritten Teil der „Orestie“) für das Gesetz eine Entstehungszeit kurz nach dem Trojanischen Krieg an, also um 1200 v. Chr. Das erste Strafverfahren war danach die Strafsache Erinnyen gegen Orestes: Ankläger waren noch die Erinnyen, die Rächerinnen des Mutterrechts (im Ergebnis des Verfahrens verloren sie ihr Amt und ihre Macht), Verteidiger und Zeuge war Apollon, Gesetzgeberin und vorsitzende Richterin des neu gebildeten Gerichtshofes Athene, die sechs beisitzenden Richter waren erstmals athenische Bürger. Zu dieser Entstehungszeit vergleiche Flavius Josephus [1], der den Griechen vorwirft:

„War ja bei den Griechen doch nicht einmal die Bezeichnung νόμος [= Nomos] für Gesetz von alters her bekannt, wie daraus hervorgeht, dass Homer das Wort in keinem seiner Gedichte gebraucht. Zu seiner Zeit gab es nämlich nichts dergleichen, sondern die Massen wurden nach unbestimmten Meinungen und durch die Befehle des Königs gelenkt. Deshalb galt auch lange Zeit hindurch nur ungeschriebenes Herkommen, das noch dazu in vielen Stücken je nach <den> Umständen wieder geändert wurde.“

Der letzte Satz von Josephus scheint die lange als Tradition mündlich überlieferte Rechtsprechung zu meinen. Freilich dürfte Josephus in Bezug auf Homer irren, denn zu seiner Zeit gab es sehr wohl schon Gesetze und den Begriff „Nomos“, aber zur Zeit des Trojanischen Krieges, von der seine Epen berichten, noch nicht. Dafür spricht unter anderem eine Stelle in Pausanias’ „Reisen In Griechenland“ Buch IX,40,6, wo er von den Namen der Städte Cheironeia und Lebadeia sagt (Text redigiert und in spitzen Klammern Einfügung):

„Homer wußte meiner Meinung nach, daß sie <zu seiner Zeit> schon Cheironeia und Lebadeia hießen, gebrauchte für sie aber doch die alten Namen“ [= Arne und Mideia, vergleiche „Ilias“ II,507, „Odyssee“ IV,477 + 581; XIV,258]; „wie er ja auch den Fluß Aigyptos und nicht Nil nannte.“

Für die Deutung, dass Homer sehr wohl bereits das Wort „Nomos“ kannte, spricht jedenfalls auch die Tatsache, dass Hesiod, - der in etwa ein Zeitgenosse Homers war - den Begriff „Nomos“ in seiner Schrift „Werke und Tage“ 275 - 285 verwendet, wo er schreibt (Text redigiert und in spitzen Klammern Einfügung):

„Und hör’ auf das Gesetz, schlag’ Dir Gewalttat ganz aus dem Sinn.
Dies ist nämlich die Ordnung, die Zeus den Menschen gegeben <hat>:
Fische und wildes Getier und geflügelte Vögel die sollen
eins das and’re verzehren, denn es gibt kein Gesetz unter ihnen;
doch den Menschen verlieh er das Gesetz, das sich als das
weitaus Beste erweist; denn ist man gewillt, das Gerechte zu sagen,
wenn man es sieht, dann schenkt einem Zeus später Glück in Fülle.
Wenn aber einer, - bewußt ein Zeugnis mit Meineid beschwörend - ,
lügt und trügt und, - unheilbar verblendet - ,das Gesetz verletzt,
der hinterläßt den kommenden Tagen ein vergehendes Geschlecht.
Doch wer im Eid ehrlich <ist>, dessen Geschlecht wird künftig gedeihen.“

Die Ableitung vom Naturgesetz

„Nomos“ beschreibt zunächst das Naturgesetz und deutet damit an, dass das menschliche Gesetz in der Natur beobachtete Prinzipien auf menschliche Verhaltensweisen überträgt und anwendet. Diese Bedeutung des Gesetzes ergibt sich aus dem 65. Orpheus'schen „Hymnos an Nomos“:

„Der Sterblichen und der Unsterblichen
heiligen Herrscher rufe ich an!
Den himmlischen Nomos,
den Ordner der Sterne!
Des salzrauschenden Meeres und der Erde
heiliges, unwandelbares und sicheres Siegel!
Das Unparteiische der Natur
mit steten Gesetzen bewahrend, die er trägt.
Der den großen Uranus umwandert
und den nichtswürdigen Neid
mit wirbelnder Art vertreibt!
Auch erweckt er den Menschen
würdige Ziele des edlen Lebens.
Denn einzig er selber lenkt
allein das Steuer der Lebenden,
stets Unabwendbar verbindend
mit aufrechtesten Meinungen.
Altehrwürdig, vielerfahren,
dem Freund der Gesetze hold,
doch dem Widergesetzlichen
bringt er Übel und schweren Verdruß
( ... )“[2]

Die Wendung „der Sterblichen und der Unsterblichen heiligen Herrscher“ zeigt, dass die „Götter“ ebenfalls dem Gesetz unterliegen, was sich auf die Planetenbahnen bezieht. Zusammen mit der Bezeichnung von Nomos als „Ordner der Sterne“ usw. wird damit klar ausgedrückt, dass Nomos eigentlich das Naturgesetz ist, von dem das menschliche Gesetz abgeleitet wurde beziehungsweise dessen Prinzipien auf die Beurteilung menschlicher Verhaltensweisen angewandt wurden. Die Aussage „der den nichtswürdigen Neid mit wirbelnder Art vertreibt“ ist in diesem Zusammenhang wohl so zu verstehen, dass die Strafe für gewisse Vergehen, als deren Motiv der Neid angesehen wurde, die Verbannung war. Dies betrifft insbesondere den Aufruhr und die Tyrannei, wie sich aus vielen antiken Quellen entnehmen lässt, und auch in Europa war diese Lösung des Problems noch vor zweihundert Jahren gängige Praxis. Die Bezeichnungen „Altehrwürdig“ und „Vielerfahren“ sollen ausdrücken, dass es schon immer irgendwelche Regeln des Zusammenlebens gab und dass das Gesetz die Erfahrungen der Vergangenheit verarbeitet in sich aufgenommen hat. Die letzten drei zitierten Zeilen besagen dann, dass derjenige, der sich an das Gesetz hält, nichts zu befürchten hat, wohingegen sich derjenige, der das Gesetz missachtet, hüten soll.

Die griechische Kritik des Gesetzes

Dieser im allgemeinen positiven Bewertung des „Nomos“ [= Gesetzes] steht aber ein Fragment von Pindar gegenüber, das sich unter den Bruchstücken, die keiner bestimmten Gattung zuzuordnen sind, befindet. In diesem Fragment „XXVIII“ heißt es (Text redigiert und Hervorhebung hinzugefügt):

„Nomos, - Herrscher über alle Sterblichen
und selbst die Unsterblichen - ,
führt mit allmächtiger Hand und noch
das Gewaltsamste macht er zu Recht.
Des sind mir des Herakles Taten Zeugen, der
Geryones’ Rinder zu Eurystheus’ kyklopischem Tore trieb,
und hatte sie nicht erbeten und auch nicht gekauft …“

Es handelt sich dabei in der Tat um einen dem gesetzlichen Prinzip selbst innewohnenden Mangel (nämlich die Möglichkeit, die von Menschen gemachten Gesetze nahezu beliebig zu ändern), den auch Aristophanes in der fünften Szene seiner Komödie „Die Wolken“ beschrieb, indem er Pheidippides, den Sohn von Strepsiades, zur Verteidigung der Schläge gegen seinen Vater sagen lässt (Text redigiert):

Pheidippides: ... Gut, sag ich dann, die Alten sind bekanntlich zweimal Kinder, und drum verdienen sie zweimal mehr Prügel als die Jungen, da ihre Schuld auch größer ist, wenn sie sich denn vergehen.
Strepsiades: Nein, das verbietet den Kindern doch in aller Welt das Gesetz!
Pheidippides: Hat denn aber dies Gesetz nicht ursprünglich ein Mensch wie Du und ich vorgeschlagen und es dann mit Gründen durchgesetzt? Und was die Alten durften – darf ich nicht den Neuen ein Gesetz schaffen, demgemäß der Sohn dem Vater die Schläge heimzahlt?“

In der Tat, ein solches Gesetz wäre völlig legal, solange es das formale Rückwirkungsverbot beachtet, was Pheidippides aber ausdrücklich einräumt, indem er fortfährt (Text redigiert und in spitzen Klammern Einfügung):

Pheidippides: Die Prügel, die wir kriegten, noch ehe dies Gesetz erlassen <war>, die schenken wir Euch überdies als längst verjährte Schulden“

Dieser Mangel führt bei Aristophanes dann zu den Göttern zurück, die vorher aufgegeben worden waren.

Diesen Mangel scheint aber auch Alexis de Tocqueville im Auge gehabt zu haben, der schrieb [3]:

„Wenn man aufmerksam untersucht, was sich in der Welt zugetragen hat, seit die Menschen die vergangenen Ereignisse im Gedächtnis bewahren, könnte man mühelos feststellen, daß sich in allen zivilisierten Ländern neben einem Despoten, der befiehlt, fast immer ein Rechtsgelehrter befindet, der dessen willkürliche und unzusammenhängende Willensakte in eine Ordnung und Übereinstimmung bringt. Die allgemeine und unbestimmte Liebe zur Macht, die die Könige erfüllt, ergänzen sie durch die Freude an der Methode und die Kenntnis von den Einzelheiten der Herrschaft, über die sie selbstverständlich verfügen. Jene <Despoten> verstehen es, die Menschen vorübergehend zum Gehorsam zu zwingen, diese <Rechtsgelehrten> beherrschen die Kunst, sie fast freiwillig zu ständiger Fügsamkeit zu beugen. Die einen haben die Macht, die anderen das Recht. Jene <Despoten> gelangen durch Willkür zur höchsten Macht, diese <Rechtsgelehrten> durch Legalität. An dem Schnittpunkt, an dem sie sich begegnen, entsteht ein Despotismus, der der Menschheit kaum die Luft zum Atmen lässt; wer nur an den Fürsten denkt, kennt nur die eine Seite der Tyrannei, um das Ganze zu erfassen, muß man aber beide zugleich im Auge haben“ (Text redigiert, in spitzen Klammern Hinzufügungen).

Literatur

  • Felix Heinimann: Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts. Basel 1945.

Anmerkungen

  1. Flavius Josephus „Gegen Apion“ II,15 (Text redigiert und Erklärung in eckigen Klammern und Einfügung in spitzen Klammern hinzugefügt)
  2. Zitiert nach „Orpheus“ Altgriechische Mysterien Übertragen und Erläutert von J.O. Plassmann, erschienen im Rahmen von Diederichs gelbe Reihe, Eugen Diederichs Verlag Köln 1982, Seite 107, Text redigiert.
  3. Alexis de Tocqueville: „Die gesellschaftlichen und politischen Zustände in Frankreich vor und nach 1789“ (erschienen 1836) zitiert nach: Ilse Staff: „Justiz im Dritten Reich“, Vorsatzblatt

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