Missbrauch mit dem Missbrauch

Missbrauch mit dem Missbrauch

Missbrauch mit dem Missbrauch ist ein Schlagwort, mit dem ein instrumenteller oder irreleitender Einsatz von Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs kritisiert wird. Das Wort wird seit 1993/94 benutzt.[1] Wortführer in der Debatte waren unter anderem Reinhart Wolff und Katharina Rutschky.

Inhaltsverzeichnis

Grundthese

Die Gesellschaft ist für das Thema des sexuellen Missbrauchs, insbesondere für den sexuellen Missbrauch von Kindern stark sensibilisiert. Die Kehrseite dieser Entwicklung, so der Vorwurf, ist die Tendenz, gleichsam überall Sexualstraftäter zu vermuten. Zudem käme es zunehmend zu falschen Anschuldigungen und einer Dramatisierung der gesellschaftlichen Situation, die professionelle Beratungsstellen teilweise zu ihren Gunsten schüren würden. Vermeintliche Täter würden oft schon bei geäußertem Verdacht als schuldig gebrandmarkt. Das Ausmaß sexuellen Missbrauchs wird in Frage gestellt. Kritisiert wird ein angeblicher Aktivismus, der dazu geführt habe, dass Kinder nach nicht gerechtfertigtem Verdacht aus Familien gerissen würden.[2] In Fragen des Einsatzes gegen sexuellen Missbrauch wird auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze gedrängt.

Falsche Missbrauchsvorwürfe werden beispielsweise eingesetzt im Sorgerechtsstreit[3], zum Zweck des Rufmordes oder bei verschmähter Liebe. Laut Angaben des Präsidenten des Deutschen Familiengerichtstages, Siegfried Willutzki, wird in ca. 40 % aller streitigen Sorgerechtsverfahren durch die um das Sorgerecht kämpfende Mutter ein Vorwurf des sexuellen Missbrauchs gegen den Vater erhoben,dies widerspricht den Ergebnissen von Busse/Steller/Volbert (2000), welche bei der Auswertung von Akten des Berliner Familiengerichts zur Frage der Umgangsregelung, nur in 3,3% von 1.352 Fällen feststellen, dass sexueller Missbrauch zur Sprache kam. Manche Anschuldigungen sollen auch schlicht auf einer verfälschten Erinnerung der Opfer basieren.[4] Falsche Verdächtigungen führen unter Umständen zu gravierenden Schäden für die Betroffenen, die über Mobbing bis zu Berufsunfähigkeit reichen können.[5] Die Debatte betraf auch Prominente wie Woody Allen oder Michael Jackson und das Zugangserschwerungsgesetz.

Angst vor Missbrauchsvorwürfen kann zu einer Entfremdung von Eltern und Kindern führen, zum Beispiel dass zumeist Väter zu ihren Kindern bei der Körperpflege oder bei Zärtlichkeiten eine Distanz aufbauen. Aus Furcht, mit dem Vorwurf der sexuellen Belästigung konfrontiert zu werden, nehmen auch Sportlehrer zum Teil Abstand davon, bei Übungen Hilfestellungen zu leisten. In US-amerikanischen Universitäten lassen Dozenten bei Gesprächen mit Studentinnen oft ihre Tür offen, um nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sein etwa auf sexuelle Handlungen zu drängen.

Die Debatte um den sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche[6] und Sexualstraftaten im Zusammenhang mit der Reformpädagogik im Jahr 2010 wird von Kritikern auch als „Missbrauch mit dem Missbrauch“ bezeichnet.[7]

Erwiderung

Den Vertretern der These vom Missbrauch mit dem Missbrauch wird eine Verharmlosung der Problematik[8], eine Nähe zu pädosexuellen Lobbyisten,[9] und ein „Backlash“ gegen feministische Organisationen vorgeworfen.

Siehe auch

Literatur

  • Katharina Rutschky: Erregte Aufklärung. Kindesmißbrauch: Fakten und Fiktionen. 1992.
  • Josef Linsler: Mißbrauch mit dem Mißbrauch bei Verfahren um das Sorge- und Umgangsrecht. 1993
  • R. Wolff: "Mit dem gefährdeten Kind wird Politik gemacht". Ein Gespräch mit Reinhart Wolff über den "Missbrauch des Missbrauchs" und die Praxis des Kinderschutzes, in: Psychologie Heute, 7/1994, S. 65-70.
  • Katharina Rutschky; Reinhart Wolff (Hrsg.): Handbuch sexueller Mißbrauch, Psychologische und gesellschaftliche Hintergründe der gegenwärtigen Verdächtigungswelle. Klein-Verlag, Hamburg 1994.
  • Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik (Hrsg.): Sexueller Kindesmißbrauch in der Familie – ein Vorwurf und seine Folgen. Tagung der Ev. Akademie Bad Boll, Mai 1995 Tagungstexte, Proteste gegen die Tagung, 1995.
  • Jörg M. Fegert: Kinderpsychiatrische Begutachtung und die Debatte um den Mißbrauch mit dem Mißbrauch. In: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. 1/1995.
  • Bernd Marchewka (Hrsg.): Weißbuch sexueller Mißbrauch. Zum Umgang mit dem ungerechtfertigtem Vorwurf der sexuellen Mißhandlung von Kindern in familiengerichtlichen und strafgerichtlichen Verfahren. Holos-Verlag, Bonn 1996.
  • Bernd Herbort: Bis zur letzten Instanz. Bastei Lübbe, 1996.
  • Richard Ofshe, Ethan Watters: Die missbrauchte Erinnerung oder von einer Therapie, die Väter zu Tätern macht. 1996.
  • ISUV/VDU (Hrsg.): Der Mißbrauch mit dem sexuellen Mißbrauch oder Schuldig auf Verdacht. Plädoyer für die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze. 2. Aufl, 1996.
  • Ursula Enders: Gibt es einen »Missbrauch mit dem Missbrauch«? In: Ursula Enders (Hrsg.): Zart war ich, bitter war’s. Handbuch gegen sexuellen Missbrauch. Vollständig überarbeitete und erweiterte Neusausgabe. Köln 2001, S. 454-468.
  • SKIFAS-Katalog, Loseblattsammlung umfassender Informationen: Initiativen, Literaturverzeichnis, Falldokumentation, fortlaufend

Einzelnachweise

  1. Karin Jäckel: 'Helfermafia' und 'Fürsorgestasi' – Über den ‚Missbrauch mit dem Missbrauch’. In: Katharina Klees und Wolfgang Friedebach: Hilfen für mißbrauchte Kinder. Interventionsansätze im Überblick. S. 342.
  2. Melanie Reinke: Das Recht jedes Kindes auf Schutz vor sexuellem Missbrauch. Marburg 2002, S. 22.
  3. Reinhart Wolff, Katharina Rutschky: Handbuch sexueller Missbrauch. 1994, S. 9ff.
  4. vgl. Helga Simchen: Verunsichert, ängstlich, aggressiv. 2007. Darin: Kap. 14.4: Wenn der Missbrauch missbraucht wird. S. 176ff.
  5. Rainer Ollmann: Schadensersatz wegen Mißbrauchsverdächtigung? In: ZfJ - Zeitschrift für Jugendrecht, Nr. 12, 1996, S. 486–494.
  6. Der 'Missbrauch mit dem Missbrauch'. Manfred Lütz Zitate, kath.net, 12. Februar 2010.
  7. Jürgen Elsässer: Missbrauch mit dem Missbrauch. 15. März 2010.
  8. Gitti Hentschel: Skandal und Alltag. 1996
  9. Karin Jäckel: ‚Helfermafia’ und ‚Fürsorgestasi’ – Über den ‚Missbrauch mit dem Missbrauch’. In: Katharina Klees und Wolfgang Friedebach: Hilfen für mißbrauchte Kinder. Interventionsansätze im Überblick. S. 343.

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