Abrahamtest

Abrahamtest
Dieser Artikel beschreibt ein Experiment zu Reaktion auf Autorität. Für das Experiment zu sozialen Netzwerken, siehe das Kleine-Welt-Phänomen.

Das Milgram-Experiment ist ein erstmals 1961 in New Haven durchgeführtes psychologisches Experiment, das von dem Psychologen Stanley Milgram entwickelt wurde, um die Bereitschaft durchschnittlicher Personen zu testen, autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte und Überblick

Angeregt wurde Milgram durch den Psychologen Jerome D. Frank, der bereits 1944 der Frage nachging, wovon die Gehorsamsbereitschaft willkürlich ausgewählter Personen abhängt. Frank verlangte damals von seinen Probanden den Verzehr von zwölf geschmacklosen Keksen. Der Gruppe wurde gesagt, dass der Verzehr salzloser Kekse wissenschaftlich notwendig sei. Überraschend weigerten sich nur zehn Prozent der Teilnehmer, die Kekse herunterzuwürgen.

Das Milgram-Experiment sollte ursprünglich dazu dienen, Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus sozialpsychologisch zu erklären. Dazu sollte die „Germans are different“-These geprüft werden, die davon ausging, dass die Deutschen einen besonders obrigkeitshörigen Charakter haben. Nach den ersten Ergebnissen der Untersuchung in New Haven schien dies jedoch nicht mehr notwendig, auch weil die Untersuchung in ihrem Aufbau wesentlich grundsätzlicher angelegt war.[1] Milgram erhielt für diese Arbeit 1964 den jährlich vergebenen Preis der American Association for the Advancement of Science in der Kategorie Sozialpsychologie. Die American Psychological Association hingegen schloss Milgram wegen des Experimentes für ein Jahr aus, nachdem ein Kritiker ihm in der Zeitschrift American Psychologist vorgeworfen hatte, ein „traumatisierendes“ Experiment vorgenommen zu haben, das „potenziell schädlich“ für die Versuchspersonen sei.[2] Vor allem wegen dieser Kritik, die auch von zahlreichen anderen Fachleuten geäußert wurde, verweigerte die Harvard University Milgram später eine Anstellung.

„[es ist] ethisch fragwürdig, […] Menschen in das Labor zu locken und sie in eine Lage zu bringen, die belastend ist.“

Milgram selbst in seinem Tagebuch

Die Ergebnisse des Milgram-Experiments wurden zunächst in einem Artikel mit dem Titel: Behavioral study of obedience veröffentlicht, der in dem renommierten Journal of abnormal and social psychology erschien.[3] 1974 publizierte Milgram sein Werk: Obedience to Authority: An Experimental View, in dem er die Ergebnisse in einen breiteren Kontext einordnete. Die deutsche Ausgabe kam im selben Jahr heraus.

Milgram bezieht sich darin u. a. auf das 1963 in New York erschienene Werk der politischen Theoretikerin Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Dieses Konzept der Banalität des Bösen, so argumentiert er, komme der Wahrheit sehr nahe. Die fundamentalste Erkenntnis der Untersuchung sei, dass ganz gewöhnliche Menschen, die nur ihre Aufgabe erfüllten und keinerlei persönliche Feindschaft empfänden, zu Handlungen in einem Vernichtungsprozess veranlasst werden könnten.[4]

Der US-amerikanische Historiker Alfred W. McCoy vermutet, Milgram habe das Experiment im Rahmen eines CIA-Programms zur Forschung über Bewusstseinskontrolle durchgeführt. Darauf deute nicht nur der Zeitpunkt hin, sondern auch „das Thema, die militärischen Verbindungen, die umstrittene Finanzierung durch die NSF und deren Ablehnung aller späteren Projekte Milgrams“. Diese Vorwürfe werden auf der Webseite von Milgrams Biograph Thomas Blass ausführlich diskutiert und bestritten.[5]

Ablauf

Milgram-Experiment

Der ganze Ablauf des Experiments ist wie ein Theaterstück inszeniert, bei dem alle außer dem Probanden eingeweiht sind. Solch eine Experimentalanordnung übernahm Milgram von seinem Lehrer Solomon Asch.[1] Eine Versuchsperson und ein Vertrauter des Versuchsleiters, der vorgab, ebenfalls Versuchsperson zu sein, sollten an einem vermeintlichen Experiment zur Untersuchung des Zusammenhangs von Bestrafung und Lernerfolg teilnehmen. Ein offizieller Versuchsleiter (Experimentator, V) bestimmte den Schauspieler durch eine fingierte Losziehung zum „Schüler“ (S), die tatsächliche Versuchsperson zum „Lehrer“ (L). Die Verabreichung eines elektrischen Schlags von 45 Volt sollte der Versuchsperson die körperlichen Folgen elektrischer Schläge vergegenwärtigen. Zudem wurde das an einen elektrischen Stuhl erinnernde Versuchsinventar gezeigt, auf dem der „Schüler“ getestet werden sollte. Diese Versuchsanordnung mit der gewollten Assoziation wurde von den Probanden zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt.[3]

Der Versuch bestand darin, dass der „Lehrer“ dem „Schüler“ bei Fehlern in der Zusammensetzung von Wortpaaren jeweils einen elektrischen Schlag versetzte. Dabei wurde die Spannung nach jedem Fehler um 15 Volt erhöht. In Wirklichkeit erlebte der Schauspieler keine elektrischen Schläge, sondern reagierte nach einem vorher bestimmten Schema, abhängig von der eingestellten Spannung. Erreichte die Spannung beispielsweise 150 Volt, verlangte der Schauspieler, von seinem Stuhl losgebunden zu werden, da er die Schmerzen nicht mehr aushalte. Dagegen forderte der dabei sitzende Experimentator, dass der Versuch zum Nutzen der Wissenschaft fortgeführt werden müsse. Wenn der „Lehrer“ Zweifel äußerte oder gar gehen wollte, forderte der Experimentator in vier standardisierten Sätzen zum Weitermachen auf. Die Sätze wurden nacheinander, nach jedem geäußerten Zweifel der Versuchsperson, gesprochen und führten nach dem vierten Mal zu einem Abbruch des Experimentes seitens des Versuchsleiters. Damit die Sätze immer gleich ausfielen, wurden sie vorher mit dem Schauspieler eingeübt, insbesondere auch, um einen drohenden Unterton zu vermeiden.

Satz 1: „Bitte, fahren Sie fort!“ Oder: „Bitte machen Sie weiter!“
Satz 2: „Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!“
Satz 3: „Sie müssen unbedingt weitermachen!“
Satz 4: „Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!“[3]

Es gab noch weitere Standardsätze in antizipierten Verlaufssituationen: Wenn die Versuchsperson fragte, ob der „Schüler“ einen permanenten physischen Schaden davontragen könne, sagte der Versuchsleiter: „Auch wenn die Schocks schmerzvoll sein mögen, das „Gewebe“ (tissue) wird keinen dauerhaften Schaden davontragen, also machen Sie bitte weiter!“ Auf die Aussage des „Lehrers“, der „Schüler“ wolle nicht weitermachen, wurde standardmäßig geantwortet: „Ob es dem Schüler gefällt oder nicht, Sie müssen weitermachen, bis er alle Wörterpaare korrekt gelernt hat. Also bitte machen Sie weiter!“[3] Wenn nach der Verantwortung gefragt wurde, sagte der Versuchsleiter, er übernehme die Verantwortung für alles, was passiert. Die Versuchsperson reagierte auf die Stromschläge mit auf Band aufgenommenen Schmerzensäußerungen. Diese hatten Milgram in Pretestversionen des Experiments zunächst gefehlt, die Gehorsambereitschaft war dann aber so hoch, dass er sie hinzufügte.[1]

Spannung Reaktion des „Schülers“
75 V Grunzen
120 V Schmerzensschreie
150 V sagt, dass er an dem Experiment nicht mehr teilnehmen will
200 V Schreie, „die das Blut in den Adern gefrieren lassen“
300 V Er lehnt es ab zu antworten
über 330 V Stille

Der „Schüler“ war in diesem Fall ein unauffälliger Amerikaner irischer Abstammung und repräsentierte einen Menschentyp, mit dem Fröhlichkeit und Gelassenheit verbunden wurde.[3] Mit dieser Auswahl sollte eine Beeinflussung der Handlungsweise durch eine mentale Disposition des Probanden vermieden werden. Zudem war es wichtig, dass die Versuchspersonen weder von dem Versuchsleiter noch von dem „Schüler“ unbeabsichtigt beeinflusst werden konnten. Der „Lehrer“ konnte selbst bestimmen, zu welchem Zeitpunkt er das Experiment abbrechen wollte. Der Versuchsleiter verhielt sich sachlich, seine Kleidung war in einem unauffälligen Grauton gehalten. Sein Auftreten war bestimmt, aber freundlich.

Die Versuchspersonen wurden über eine Anzeige in der Lokalzeitung von New Haven gesucht, wobei die angegebene Gage von 4 US-Dollar plus 50 Cents Fahrtkosten schon für das bloße Erscheinen in Aussicht gestellt wurde. Das Experiment fand in der Regel in einem Labor der Yale Universität statt und war in der Anzeige als unter der Leitung von Prof. Stanley Milgram stehend gekennzeichnet.

Milgram führte eine Vielzahl von Varianten des Experiments durch. Eine Variation betraf die Nähe zwischen „Lehrer“ und „Schüler“. Dabei wurden folgende vier experimentelle Bedingungen gestellt:

  1. die Versuchsperson konnte den „Schüler“ weder sehen noch hören, sie nahm nur einen Schlag an die Wand bei dem Erreichen der 300-Voltgrenze wahr,
  2. der „Lehrer“ hörte die Reaktionen des „Schülers“ über einen Lautsprecher,
  3. „Lehrer“ und „Schüler“ befanden sich in einem Raum und
  4. die Versuchsperson hatte direkten Kontakt zu dem Schauspieler.

In der letzten Versuchsanordnung musste der Proband, geschützt durch einen Handschuh, die Hand des „Schülers“ auf eine Metallplatte drücken, die vermeintlich elektrisch geladen war. Zudem wurde die Präsenz des Versuchsleiters variiert, der entweder direkt im Raum, nur über Telefon erreichbar oder abwesend sein konnte. Die Instruktionen erfolgten im letzten Fall über ein Tonbandgerät.

Ergebnisse

Folgende Tabelle gibt die Anzahl der Versuchspersonen (Vpn) (n=40), die das Experiment abbrachen, abhängig von der Stärke der letzten applizierten „Schocks“ wieder.

Spannung (Volt) bis 300 V 300 V 315 V 330 V 345 V 360 V 375 V 390 V bis 435 V 450 V
Anzahl Vpn: Abbruch 0 5 4 2 1 1 1 0 26

Interpretation: 26 Personen gingen in diesem Fall bis zur maximalen Spannung von 450V und bloß 14 brachen vorher ab.

Folgende Tabelle gibt den Zusammenhang zwischen einigen variierenden Versuchsbedingungen, dem Anteil der Versuchspersonen (Vpn), die den maximalen Schock versetzten, und die dazugehörige durchschnittliche Schockstärke an.

Bedingungen Anteil der Vpn: Maximum ø Spannung
Fernraum 65,0 % 405 V
akustische Rückmeldung 62,5 % 367,5 V
Raumnähe 40,0 % 312 V
Berührungsnähe 30,0 % 268,2 V

Das Ergebnis des ersten Experimentes war derart überraschend, dass Milgram über zwanzig Varianten mit jeweils abweichenden Parametern durchführte. In der ersten Versuchsreihe waren 65 Prozent der Versuchspersonen bereit, den „Schüler“ mit einem elektrischen Schlag mit den maximalen 450 Volt zu „bestrafen“; allerdings empfanden viele einen starken Gewissenskonflikt. Kein „Lehrer“ brach das Experiment ab, bevor die 300-Volt-Grenze erreicht war. In der vierten Versuchsanordnung, in der die Versuchspersonen den direkten Kontakt zum „Schüler“ hatten, war die erreichte Volt-Stufe am niedrigsten. Die Abwesenheit des Versuchsleiters bewirkte, dass die Gehorsamsrate dreimal niedriger ausfiel als in der Versuchsanordnung mit seiner Anwesenheit. In einer Versuchsanordnung, in der Frauen die Elektroschocks austeilen sollten, ergab sich kein signifikanter Unterschied in der Abbruchrate gegenüber Versuchen mit männlichen Probanden.

Das Ergebnis einer Erweiterung des Experiments im Jahre 1965 war, dass der Anteil der bedingungslos gehorchenden Probanden stark auf 10 Prozent abnahm, sobald zwei weitere vermeintliche „Lehrer“ an dem Experiment teilnahmen, die dem Versuchsleiter Widerstand entgegensetzten. Befürworteten die zwei „Lehrer“ allerdings die Fortführung des Experimentes, so folgten dem 90 Prozent der Probanden.

In einer Variante des Versuchs, in der zwei Versuchsleiter den Versuch leiteten und dabei Uneinigkeit über die Fortsetzung des Experimentes vorspielten, wurde das Experiment in allen Fällen von der Versuchsperson abgebrochen.

Drängte eine „zweite Versuchsperson“ statt des Versuchsleiters auf die Fortsetzung des Experimentes, so applizierten „nur“ 25 Prozent der Versuchspersonen den maximalen Schock.

Die Autorität des Versuchsleiters blieb erhalten, wenn dieser die Rolle des „Schülers“ übernahm, das heißt, auf die Bitte um Abbruch folgte dieser unverzüglich.

Bei zwei Versuchsleitern, von denen einer die faktische Rolle des Versuchsleiters übernahm, wohingegen der andere Versuchsleiter den „Schüler spielte“, gingen 65 Prozent der Teilnehmer bis zum Maximum; nicht der allgemeine Status, sondern die situationsspezifische Funktion waren demnach ausschlaggebend.

Bei einer weiteren Variation gab sich der Versuchsleiter nicht als Forscher der renommierten Universität Yale aus, sondern als Wissenschaftler des fiktiven kommerziellen „Research Institute of Bridgeport“, dessen Räume sich in einem heruntergekommenen Bürogebäude eines Geschäftsviertels in Bridgeport (Connecticut) befanden. Hier sank die Zahl der Probanden, die die höchste Spannung einsetzten, von 65 Prozent auf 48 Prozent. Dieser Unterschied ist allerdings nicht statistisch signifikant.

Bei einer anderen Variation verließ Milgram den Raum und ließ einen Schauspieler, der sich als Proband darstellte, das Experiment leiten. Hier sank der Anteil der Probanden, die bis zur Höchststufe gingen, auf 20 Prozent.

Das Experiment ist in unterschiedlichen Varianten in anderen Ländern wiederholt worden. Die Ergebnisse bestätigten generell einander, was eine kulturübergreifende Gültigkeit der Ergebnisse zeigt.

Reaktion der Versuchspersonen

Alle Versuchspersonen zeigten einen aufgewühlten Gemütszustand, hatten Gewissenskonflikte und waren aufgeregt.[3] Besonders ein nervöses Lachen fiel Milgram auf, das 35 % der Versuchspersonen von sich gaben.[3] Ein Beobachter beschrieb die emotionale Lage eines Lehrers folgendermaßen:

„Ich beobachtete einen reifen und anfänglich selbstsicher auftretenden Geschäftsmann, der das Labor lächelnd und voller Selbstvertrauen betrat. Innerhalb von 20 Minuten war aus ihm ein zuckendes, stotterndes Wrack geworden, das sich rasch einem Nervenzusammenbruch näherte. Er zupfte dauernd an seinem Ohrläppchen herum und rang die Hände. An einem Punkt schlug er sich mit der Faust gegen die Stirn und murmelte: ‚Oh Gott lass uns aufhören‘. Und doch reagierte er weiterhin auf jedes Wort des Versuchsleiters und gehorchte bis zum Schluss.“

aus: Steven Schwartz, Wie Pawlow auf den Hund kam, München 1993

Es zeigte sich, dass Personen, die die persönliche Verantwortlichkeit für ihr Verhalten hoch veranschlagten, das Experiment eher abbrachen und dem Versuchsleiter widersprachen.

Um den ethischen Aspekten gerecht zu werden, erhielten die Probanden nach Abschluss der Versuchsreihe detaillierte Informationen über das Experiment und dessen Ergebnisse. Um eventuelle Langzeitschäden zu erkennen, wurden in einer Stichprobe die Versuchspersonen ein Jahr nach dem Experiment erneut besucht und befragt. Das Experiment zeigte keine schädlichen Auswirkungen auf die Psyche der Versuchspersonen. 83 Prozent der Teilnehmer gaben an, im Nachhinein froh zu sein, an dem Experiment teilgenommen zu haben. Nur ein Proband von Hundert bedauerte seine Teilnahme.[1] Die meisten Teilnehmer gaben an, etwas über sich gelernt zu haben und Autoritätspersonen daher in Zukunft misstrauischer gegenüberstehen zu wollen.

Folgen und Folgerungen

Heutzutage würde ein vergleichbares Experiment von der Mehrzahl der Psychologen als unethisch zurückgewiesen werden, da es die Versuchspersonen einem starken inneren Druck aussetzt und sie über den wahren Zweck des Experiments täuscht. An vielen Universitäten stellte man als Reaktion auf diesen Versuch ethische Richtlinien über die Zulassung von psychologischen Experimenten auf. Ob das gewonnene Wissen bei Militär und Geheimdiensten Anwendung fand, ist nicht bekannt.

Milgram kommentierte die Ergebnisse seines Experiments so:

„Die rechtlichen und philosophischen Aspekte von Gehorsam sind von enormer Bedeutung, sie sagen aber sehr wenig über das Verhalten der meisten Menschen in konkreten Situationen aus. Ich habe ein einfaches Experiment an der Yale-Universität durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Schmerz ein gewöhnlicher Mitbürger einem anderen zufügen würde, einfach weil ihn ein Wissenschaftler dazu aufforderte. Starre Autorität stand gegen die stärksten moralischen Grundsätze der Teilnehmer, andere Menschen nicht zu verletzen, und obwohl den Testpersonen die Schmerzensschreie der Opfer in den Ohren klingelten, gewann in der Mehrzahl der Fälle die Autorität. Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autorität fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis der Studie, und eine Tatsache, die dringendster Erklärung bedarf.“

Stanley Milgram: The Perils of Obedience, Harper´s Magazine, 1974

Bis heute gilt der Autoritätsgehorsam theoretisch als nur unzureichend geklärt. Obwohl Milgram eine Persönlichkeitsbasis für Autoritätsgehorsam und Verweigerung vermutete, konnte er diese nicht belegen. Statt dessen ging er von zwei Funktionszuständen aus: einem Zustand der Autonomie, in dem das Individuum sich als für seine Handlungen verantwortlich erlebt, und einem „Agens-Zustand“, in den es durch den Eintritt in ein Autoritätssystem versetzt wird und nicht mehr aufgrund eigener Zielsetzungen handelt, sondern zum Instrument der Wünsche anderer wird.

Das Experiment zeigte, dass die meisten Versuchspersonen durch die Situation veranlasst wurden, sich an den Anweisungen des Versuchsleiters und nicht an dem Schmerz der Opfer zu orientieren. Die Veranlassung war am wirksamsten, wenn der Versuchsleiter anwesend war und am wirkungslosesten, wenn die Instruktionen per Tonband oder Telefon erfolgten. Auch die Nähe zum „Schüler“ beeinflusste die Bereitschaft zum Abbruch des Versuches. So gingen ohne Rückmeldung der „Schüler“ praktisch alle Versuchspersonen bis zur höchsten Schockstufe, während beim direkten Kontakt nur noch 30 Prozent die Höchststufe erreichten.

Methodische Kritik

Zwei wesentliche methodische Aspekte wurden an dem Versuchsaufbau kritisiert:

  1. Das Experiment sei nicht einer rein zufälligen Fallauswahl gefolgt und es ließen sich somit keine gesicherten Aussagen über die Repräsentativität, z. B. für die gesamte amerikanische Bevölkerung, treffen.
  2. Man müsse bei den Experimenten Effekte berücksichtigen, die den Versuchsablauf beeinflussten, etwa den Umstand, dass allein das Bewusstsein, an einem Test teilzunehmen, die Einstellung der Testperson verändere (sog. Hawthorne-Effekt) oder die Möglichkeit, dass die Erwartung des Experimentators unterschwelligen Einfluss auf das Verhalten der Versuchspersonen nehme (Pygmalioneffekt).

Psychologische und soziologische Erklärungsversuche

Milgram selbst war von den Ergebnissen des Versuchs überrascht. Studenten und Kollegen, denen er von dem Versuch erzählt hatte, schätzen die Zahl derjenigen, die bis zum Maximum gehen, äußerst gering ein.[1] Von Milgram und anderen wurden verschiedene Gründe genannt, die zu solch einer hohen Zahl an gehorsamen Probanden führten.[3]

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Als mögliche Begründung für das Verhalten der Versuchspersonen kann der Wunsch der Testperson gesehen werden, das freiwillig begonnene Experiment auch tatsächlich abzuschließen und den Erwartungen der Wissenschaftler zu entsprechen. Die zufällige Auslosung von Lehrer und Schüler schafft zudem eine scheinbar faire Situation. Hinzu kommt, dass die Versuchssituation für die Probanden neu war und deshalb kein erlerntes Handlungsmuster existierte. Zudem hatten sie kaum Zeit, sich auf die überraschende Situation einzustellen. Ein anderer Erklärungsversuch zielt auf den graduellen Charakter des Experimentes ab, der psychologisch alltäglichen Verhaltensmustern entspricht, diese aber durch die kontinuierliche Steigerung der „Bestrafungsbereitschaft“ sukzessive in Richtung außerordentlicher Verhaltensweisen verschiebe. Dies mache die Abschätzung der Folgen für die Probanden schwierig. Dazu passe, dass das Verhalten der Probanden durch die Veränderung situationaler Variablen, etwa der Distanz zum Schüler oder der Anwesenheit des Versuchsleiters, beeinflusst werde, nicht durch das Vorliegen einer charakterlichen Disposition. Soziologisch ist das Experiment daher als Beleg für die Wirksamkeit der Norm des Gehorsams gesehen worden. Über die Sozialisation erlerne das Individuum Gehorsamkeit und Unterordnung. Zunächst im familiären System, später in der Institution Schule. In beiden gesellschaftlichen Kontexten, die für die Prägung des Individuums entscheidend seien, werde Folgsamkeit und Unterordnung positiv sanktioniert. Die Gehorsamkeitsnorm ist an Institutionen und Individuen gebunden, die über einen hohen sozialen Status und/oder Autorität verfügen. Denn wie sich in den Variationen des Versuches andeutete, sinkt mit dem sozialen Status des Versuchsleiters die Bereitschaft zur Gehorsamsleistung. Insbesondere wenn die Autorität in einen bürokratischen Prozess eingebunden ist, der die Delegation der Verantwortung auf eine Institution ermöglicht, steigt die Chance auf Gehorsam selbst bei Befehlen, die als unmoralisch empfunden werden. Weiterhin erscheint der Verweis auf das Rollenverhalten einzelner Akteure hilfreich. Wiswede definiert Rollen, die von Menschen ergriffen werden können, als ein Bündel von Erwartungen und Normen, welche der jeweiligen Rolle anhaften. Diese Erwartungen gehen von dem Rollenkontext, also zum Beispiel anderen Akteuren oder Institutionen aus. Boudon/Bourricaud beschreiben diese Bündel auch als normative Zwänge und Pflichten, denen sich der Rolleninhaber unterwerfen soll. Eignet sich ein Akteur eine Rolle an, so ist er versucht, den rollenspezifischen Erwartungen und Pflichten nachzukommen. In Milgrams Experiment begibt sich die Versuchsperson also zum einen in die Rolle des Lehrers. Hier wäre eine Erwartung an die Rolle zum Beispiel die Ausübung von Strafe. Eine weitere Rolle wäre die des Experimentteilhabers. Erwartungen wären hier eine erfolgreiche Durchführung des Versuchs, als wie beim Lehrer, die Befolgung von Ordnung.

Reaktionen

Das Experiment wurde vielfach als Beleg dafür verstanden, dass fast jeder Mensch unter bestimmten Bedingungen bereit ist, nicht seinem Gewissen zu folgen, sondern einer Autorität. Daher wird es zur Erklärung der Frage herangezogen, warum Menschen foltern oder Kriegsverbrechen begehen. Wegen seiner spektakulären Ergebnisse wurde das Experiment in einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. Die New York Times titelte zum Beispiel: „Fünfundsechzig Prozent folgen in einem Test blind dem Befehl, Schmerzen zuzufügen“. Die Times erkennt die Gefahr einer ungebremsten Gehorsamsbereitschaft an, und sieht in dem Experiment eine Erklärung für die Verbrechen der Nationalsozialisten und Greueltaten in Vietnam.[6] Andere Blätter kritisieren Milgram und die Yale Universität für die Zerreißprobe, vor die sie die Probanden stellten.

Auch gab es sehr unterschiedliche Interpretationen der Ergebnisse und der konditionierenden Faktoren. Erich Fromm etwa behauptete, Grund für die Bereitschaft, dem Versuchsleiter zu gehorchen, sei das besonders hohe Ansehen, das die Wissenschaft als Institution in Amerika besäße. Das entscheidende Ergebnis sei nicht die Zahl der Teilnehmer, die die Schüler mit den höchsten Spannungen bestraften, sondern der bei fast allen Teilnehmern beobachtbare ausgeprägte Gewissenskonflikt. Die Zahl der Teilnehmer ohne Gewissenskonflikt sei bei Milgram jedoch nicht genannt. Fromm sieht die Berichte über die innere Aufgewühltheit und das Leiden der Probanden beim Handeln gegen das eigene Gewissen als Beleg für die Stärke des moralischen Bewusstseins.[7] Arno Gruen deutet die psychosomatischen Reaktionen der Befragten als ein Zeichen der Entfremdung.[8]

Im Jahr 2008 wurde das Experiment von Jerry Burger an der Santa Clara University unter modifizierten Bedingungen – es wurden Frauen beteiligt und es war ein „Bedenkenträger“ anwesend – mit fast identischen Ergebnissen wiederholt.[9][10]

Mediale und künstlerische Umsetzung

Aus dem Jahr 1973 stammt ein Theaterstück des britischen Autors Dannie Abse mit dem Titel The Dogs of Pavlov, das durch die Untersuchung inspiriert ist.

1976 sendete die CBS einen Film namens The Tenth Level, in dem William Shatner einen an Milgram angelehnten Charakter spielte, der ein ähnliches Experiment durchführte.

Regisseur Henri Verneuil baute das Milgram-Experiment in seinen Film I wie Ikarus aus dem Jahr 1979 ein. Vordergründig handelt der Film von den Geschehnissen rund um einen Präsidentenmord in einem imaginären Staat; Parallelen zum Attentat auf John F. Kennedy waren wohl erwünscht.

Die deutsche Fernseh-Dokumentation Abraham – Ein Versuch, entstand 1970 an der Forschungsstelle für Psychopathologie und Psychotherapie der Max-Planck-Gesellschafts in München. Sie zeichnet das deutsche Nachfolge-Experiment optisch in allen Einzelheiten nach.[11] Die Ausstrahlung sorgte gerade im Zusammenhang mit der deutschen Geschichte für Diskussionen.

Im Jahr 1986 nahm der Musiker Peter Gabriel, der Milgram bewunderte, ein Lied mit dem Titel We Do What We’re Told (Milgram’s 37) auf.

Der preisgekrönte Kurzfilm Atrocity (2005) spielt das Experiment nach.[12]

In der Serie Malcolm Mittendrin wird ein ähnliches Experiment durchgeführt, mit Verweis auf das Milgram-Experiment.

Siehe auch

Literatur

  • Stanley Milgram: Behavioral study of obedience (PDF-Datei; 729 KB). In: Journal of abnormal and social psychology. Lancaster Pa 67,1963, 371–378.
  • Stanley Milgram: Obedience to Authority. An Experimental View. Harper, New York 1974, 1975. ISBN 0-06-131983-X (Dt. Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek bei Hamburg 1974, (14. Auflage 1997) ISBN 3-499-17479-0
  • Stanley Milgram: The Perils of Obedience. Abridged and adapted from Obedience to Authority. in: Harper’s Magazine. 1974. ISSN 1045-7143
  • Diana Baumrind: Some thoughts on ethics of research, after reading Milgram’s ’Behavioral study of obedience. in: American Journal of Psychology. University of Illinois Press, Champaign Ill 1964,19, 421–423. ISSN 0002-9556
  • Thomas Blass: Obedience to authority. Current perspectives on the Milgram paradigm. Erlbaum, Mahwah NJ 2000. ISBN 0-8058-2737-4
  • Thomas Blass: The Man Who Shocked the World – The Life and Legacy of Stanley Milgram. Basic Books, New York 2004. ISBN 0-7382-0399-8
  • Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Rowohlt, Reinbek 1985, 1969. ISBN 3-499-17052-3
  • Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen. Organisationssoziologische Interpretation simulierter Brutalitäten. in: Zeitschrift für Soziologie. Lucius & Lucius Verl.-mbH, Stuttgart 2005, H 2. ISSN 0340-1804
  • Steven Schwartz: Wie Pawlow auf den Hund kam…. Beltz Psychologie heute. Heyne, München 1993. ISBN 3-407-85102-2
  • Alfred W. McCoy: Foltern und Foltern lassen. 50 Jahre Folterforschung und -praxis von CIA und US-Militär. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff. Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2005, S. 44–47. ISBN 3-86150-729-3
  • Stefan Mühlbauer: Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Tötungshemmschwelle. Dissertation Uni Heidelberg. Lit, Münster 1999. ISBN 3-8258-4183-9 (hierin: ausführliche Analyse der vom Bundesgerichtshof hergeleiteten Rechtsgrundsätze zur Tötungshemmschwelle beim Vorsatz des Täters anhand der Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus dem Milgram-Experiment)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e Meyer, Philip (Februar 1970): If Hitler asked you to electrocute a stranger, would you? In: Esquire
  2. Baumrind, Diana (1964): Some Thoughts on Ethics of Research: After Reading Milgram’s „Behavioral Study of Obedience“, American Psychologist 19, S. 421–423
  3. a b c d e f g h Stanley Milgram: Behavioral Study of Obedience. In: Journal of Abnormal and Social Psychology. 67, 1963, S. 371–378. PMID 14049516 Full-text PDF.
  4. Milgram, Stanley (1982): Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek bei Hamburg, S. 22.
  5. vgl. Alfred McCoy: Foltern und Foltern lassen, Frankfurt am Main 2005, S. 44ff und Milgram CIA Link
  6. The Times, Donnerstag, 30. Mai 1974; S. 10; Issue 59102; col A: The Experiment Obedience to Authority by Stanley Milgram. Autor: Edward Candy.
  7. Fromm, Erich (1973):The Anatomy of Human Destructiveness, dt. Anatomie der menschlichen Destruktivität
  8. Arno Gruen in: Arno Gruen, Doris Weber (2001): Hass in der Seele, Verstehen, was uns böse macht; in: Herder spektrum, Band 5154, S. 90–91
  9. aerzteblatt.de: Milgram “lite”: Menschen weiter zur Folter bereit, 19. Dezember 2008.
  10. Jerry Burger in: Replicating Milgram; in: APS Observer
  11. Medienkatalog der Bundeszentrale für politische Bildung: Abraham – ein Versuch
  12. Atrocity. Abgerufen am 20. März 2007.


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