Marienerscheinungen in Marpingen 1876/1877

Marienerscheinungen in Marpingen 1876/1877
Marienfigur und Rosenkranz an der neu gestalteten Marienverehrungsstätte im Marpinger Härtelwald

Während der Marienerscheinungen in Marpingen berichteten die drei achtjährigen Mädchen Katharina Hubertus, Susanna Leist und Margaretha Kunz, ihnen sei im Härtelwald des saarländischen Dorfes Marpingen mehrfach die Jungfrau Maria erschienen. Die erste Erscheinung wollten die Mädchen am 3. Juli 1876, die letzte am 3. September 1877 gehabt haben. Die Marienerscheinungen, die von den Kindern später mehrfach widerrufen wurden und von der römisch-katholischen Kirche nicht anerkannt werden, zogen bereits nach wenigen Tagen Tausende von gläubigen Pilgern an. Bald waren auch andere Menschen, Kinder und Erwachsene, davon überzeugt, die Erscheinung gesehen zu haben, oder berichteten davon, auf wunderbare Weise von Erkrankungen geheilt worden zu sein. Die Menschenansammlungen erregten die Aufmerksamkeit der Behörden, die daraufhin am 13. Juli 1876 mit Hilfe des Militärs die betende und singende Pilgerschar am Erscheinungsort auflöste. Vor dem Hintergrund eines Kulturkampfes zwischen dem Deutschen Kaiserreich und der römisch-katholischen Kirche kam es in der Folge zu Verhaftungen, der Sperrung des Härtelwaldes und zur Einweisung der drei Kinder in eine Besserungsanstalt.

Die Marienerscheinungen in Marpingen erregten europaweit Aufmerksamkeit. Der Ort wurde von Anhängern als „deutsches Lourdes“ bezeichnet und beschäftigte Gerichte im Saarland und Rheinland sowie den preußischen Landtag in Berlin. Marpingen war nur eine von mehreren Marienerscheinungen nach 1870. Die Besonderheit an den Marpinger Erscheinungen ist die repressive Art und Weise, mit der dieses Beispiel katholischer Volksfrömmigkeit seitens des eher protestantischen preußischen Staates verfolgt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Europäische Marienerscheinungen im 19. Jahrhundert

Bernadette Soubirous, die Seherin von Lourdes

Marienerscheinungen sind für die gesamte christliche Ära bezeugt. Bereits Jakobus dem Älteren, einem der Jünger Jesu von Nazareth, soll am 2. Februar des Jahres 40 nach Christus die Mutter Jesu als sogenannte Madonna del Pilar erschienen sein. Die Form der Marienerscheinungen durchlief im Verlauf der Jahrhunderte Wandlungen. Bis zum Ende des Spätmittelalters waren es überwiegend Männer und unter ihnen meist Kleriker, denen Maria erschienen sein soll. Im 11. Jahrhundert gab es in der Literatur das Motiv der einfachen Frau, der ein besonderes religiöses Erlebnis in Form einer Vision zuteil wird.[1] Nach den Untersuchungen des Historikers David Blackbourn unterscheiden sich die Marienerscheinungen des 19. Jahrhunderts von denen der vorangegangenen Jahrhunderte durch die große Anzahl von Kindern unter den Sehern und durch die sehr große Zahl weiblicher Visionäre.[2] Verglichen mit dem 18. Jahrhundert war die Zahl der Marienerscheinungen größer. Dabei spielt eine Rolle, dass vor dem Hintergrund der Erneuerung des europäischen Katholizismus im 19. Jahrhundert Formen intensiver Gefühlsfrömmigkeit wieder vermehrt auftraten. Im Zentrum der neuen Frömmigkeit stand dabei der Kult um die Jungfrau Maria.[3]

Im 19. Jahrhundert hatten vor allem Marienerscheinungen auf französischem Boden große Bekanntheit erlangt. 1830 und 1831 soll der 1806 geborenen Novizin Cathérine Labouré in ihrem Pariser Kloster mehrfach die Jungfrau Maria erschienen sein, die ihr auftrug, die Wundertätige Medaille prägen zu lassen. Knapp 16 Jahre später berichteten zwei Hirtenkinder des französischen Alpendorfes La Salette, die vierzehnjährige Mélanie Calvat und der elfjährige Maximin Giraud, von einer Vision, in der ihnen die Mutter Gottes den Zorn des Herrn über die Gottlosigkeit der Region berichtete. Die bekannteste Marienerscheinung des 19. Jahrhunderts ereignete sich 1858. Der 14-jährigen Bernadette Soubirous erschien in der Grotte von Massabielle in der Nähe des Pyrenäendorfes Lourdes eine Gestalt, die sich im Laufe von achtzehn Visionen als Unbefleckte Empfängnis zu erkennen gab, dem Mädchen eine Heilquelle offenbarte und die Errichtung einer Kapelle befahl. Lourdes entwickelte sich sehr schnell zu einem der bedeutendsten europäischen Wallfahrtsorte. Daneben gab es hunderte weiterer Erscheinungen, die überwiegend aus Frankreich und Italien, daneben aber auch aus Spanien, Böhmen und dem polnischen Preußen berichtet wurden. Die berichteten Erscheinungen glichen häufig den Lourdes-Visionen: Eine „Dame“ erscheint meist armen Kindern, die nicht selten einem areligiösen Umfeld umstammten. Die „Dame“ übermittelt ihnen Botschaften und manifestiert sich als „Unbefleckte Empfängnis“. Mit den Visionen war häufig die Aufdeckung einer heilkräftigen Quelle verbunden.[4] Nur die wenigsten dieser Erscheinungen wurden von kirchlicher Seite anerkannt.

Die katholische Erneuerung zwischen 1848 und 1871

1848 hatten die Bischöfe der deutschen katholischen Diözesen während einer Versammlung in Würzburg beschlossen, mit einer Volksmission den Glauben der deutschen Katholiken zu erneuern und zu stärken. Diese Volksmission wurde erst 1872 durch die Erlasse im Rahmen des Kulturkampfes zwischen dem Deutschen Kaiserreich und der katholischen Kirche beendet. Als Volksmissionare dienten vor allem Angehörige der katholischen Orden der Jesuiten, Franziskaner, Redemptoristen, Kapuziner und Lazaristen, die in kleinen Gruppen von meist drei, seltener acht Geistlichen ganz Deutschland bereisten und bis 1872 mindestens 4.000 große Missionsveranstaltungen abhielten.[5] Zu hunderten und tausenden pilgerten Katholiken unter Führung ihrer Gemeindepriester zu den Missionierungsorten. 1851 führten Jesuiten beispielsweise eine mehrtägige Missionierungskampagne im nur 600 Einwohner zählenden Gabsheim durch, an der außerdem 3.000 Katholiken aus der Umgebung teilnahmen.[6] Auf dem Höhepunkt der Erneuerungsbewegungen im Jahr 1868 nahmen in Aachen 20.000 und in Köln 30.000 Menschen teil. Ähnlich wie bei der Zusammensetzung der nach Marpingen pilgernden Personen waren das katholische Besitz- und Bildungsbürgertum jedoch deutlich unterrepräsentiert.[7] Die Veranstaltungen waren bekannt für ihre emotional sehr bewegenden Predigten und ihrer Förderung der Marienfrömmigkeit. Die Erneuerungsbewegung führte dazu, dass gegen Ende der 1860er Jahre die katholische Kirche über einen starken Rückhalt unter ihren Mitgliedern verfügte und erheblich an Einfluss gewonnen hatte.[8]

In der sogenannten Reaktionsära nach den Revolutionsjahren 1848/1849 stand die Missionierungsbewegung für eine antiliberale, konterrevolutionäre und gegen die Ideen der Aufklärung gerichtete Bewegung, die nicht nur den Interessen der Kirche sondern auch den deutschen Fürstenstaaten diente.[9] Noch gegen Ende der 1860er Jahre gaben auch protestantische Fabrikbesitzer ihren Arbeitern frei, damit diese an den Missionierungsveranstaltungen teilnehmen konnten, deren Predigten sich unter anderem gegen Alkoholmissbrauch und sexuelle Freizügigkeit wandten und ein moralisch integeres Leben von ihren Zuhörern forderten.[10] Liberale wie beispielsweise die protestantische Theologe Christian von Bunsen und Daniel Schenkel oder Politiker wie Johann Caspar Bluntschli und Johannes Miquel wandten sich entschieden gegen dieses erneute Aufleben des Pfaffentums, das ihrer Ansicht nach mit einem modernen aufgeklärten Staat nicht vereinbar war.[11] Bereits ab den 1850er Jahren sahen preußische Politiker und Beamte die Gefahr eines größer werdenden Einflusses des jesuitischen Ordens, dem man eine antipreußische und ultramontane Haltung unterstellte.[12] Eine parallel zur katholischen Erneuerungsbewegung verlaufende protestantische Gegenbewegung führte dazu, dass die beiden Konfessionen sich stärker voneinander abgrenzten. Die zunehmend antikatholische und antijesuitische Haltung der Vertreter der protestantischen Kirche war eine der Ursachen, dass die katholische Kirche in ihrem Kampf um den Einflusserhalt des Religiösen in Öffentlichkeit und Politik sowie dem Primat von Kirche und Religion über Staat und Wissenschaft alleine stand.[13] Die zunehmende Zahl an katholischen Klöstern und Ordensangehörigen auch in Regionen mit einer überwiegend protestantischen Bevölkerung erregten zunehmend Anstoß und äußerten sich in Ereignissen wie dem Moabiter Klostersturm im August 1869.[14]

Die Marienerscheinungen in Marpingen

Marpingen und die Diözese Trier in der Zeit des Kulturkampfes

Speisesaal im Schlafhaus I der Grube Von der Heydt
Bischof Dr. Matthias Eberhard, Trier

Marpingen durchlief im 19. Jahrhundert wie viele andere ländliche Gemeinden starke Umbrüche. Das katholische Fürstentum Lichtenberg, zu dem Marpingen gehörte, war 1834 von Herzog Ernst I. an das protestantisch geprägte Preußen verkauft worden. Das Dorf zählte im Jahre 1875 1.622 Einwohner, die nahezu alle römisch-katholischen Glaubens waren. Die Hälfte der Einwohner gehörte so genannten Bergarbeiterbauern an.[15] Der Wechsel von einer weitgehend bäuerlich geprägten Gemeinschaft zu einem Dorf, in dem der Großteil der arbeitenden männlichen Bevölkerung während der Woche in den Zechen Altenwald, Maybach, Itzenplitz und Dechen arbeitete und dort in kasernenähnlichen Schlafhäusern lebte, vollzog sich innerhalb einer Generation.[16] Die Depressionsphase nach dem Gründerkrach 1873, die sogenannte Gründerkrise, bedeutete für diese Bergarbeiter sozialer Abstieg. Es kam zu Entlassungen und Erhöhung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Lohnkürzung, so dass die Familie kaum noch von dem Gehalt eines Bergarbeiters leben konnten.[17]

Bereits vor den Marienerscheinungen im Jahre 1876/1877 hatte Marpingen unter den Folgen des Kulturkampfes zwischen dem preußischen Staat und der römisch-katholischen Kirche zu leiden. Der für Marpingen zuständige Trierer Bischof Matthias Eberhard war am 6. März 1874 als zweiter preußischer Bischof verhaftet und anschließend zu einer Geldstrafe von 130.000 Goldmark und neun Monaten Haft verurteilt worden.[18] Er starb am 30. Mai 1876, sechs Monate nach seiner Haftentlassung. Zum Zeitpunkt seines Todes waren 250 Priester der Diözese vor Gericht gestellt worden und 230 von 731 Pfarreien der Diözese vakant.[19] Von diesen Auswirkungen der Maigesetze blieb die Gemeinde Marpingen verschont, da ihr Gemeindepfarrer Jakob Neureuter bereits seit 1864 im Amt war. In der Nachbargemeinde Namborn führte die Berufung des Pfarrers Jakob Isbert im Jahre 1873 jedoch zu einem der schwersten Kulturkampf-Konflikte in der Diözese Trier.[20]

Gewalttätige Auseinandersetzungen wie bei der Verhaftung des Pfarrers Isbert blieben selten. Charakteristischer waren emotionale Reaktionen, wie sie sich beim Haftantritt von Bischof Matthias Eberhard ereigneten. Landrat Spangenberg konnte mit seinem Gefangenen nur mit Mühe zum Tor des Gefängnisses gelangen, da sich Gläubige in ihrer Verzweiflung vor ihnen auf den Boden warfen.[21] David Blackbourn hält fest, dass sich für katholische Gemeinden dieser Zeit ein durchdringendes Gefühl der Verlassenheit und Verzweiflung erkennen lässt. Viele sehnten sich nach einem göttlichen Eingreifen gegen ihre irdische Drangsal und vor dem Hintergrund des Wiederauflebens der Marienfrömmigkeit heftete sich die Hoffnung vieler Katholiken an die Jungfrau Maria.[22] Nachdem Anfang Februar 1874 der Erzbischof von Posen und Gnesen, Mieczysław Halka Ledóchowski, verhaftet wurde, rief das deutsche Episkopat die gläubigen Katholiken ausdrücklich zu Fürbitten zur Jungfrau Maria auf. Auch Bischof Eberhard pilgerte nach seiner Haftentlassung zum Marienwallfahrtsort Eberhards-Clausen und bezeichnete die Jungfrau Maria als „unseren Schutz und Schirm“. Damit spielte er auf das an Maria gerichtete Fürbittengebet „Unter Deinen Schutz und Schirm“ an. Dass dieses Gebet regelmäßig gesprochen werde, war eine der Botschaften der Muttergotteserscheinung in Marpingen.[23] Charakteristisch für diese Jahre war ein gehäuftes Auftreten von Marienerscheinungen, die zu lokaler Verehrung führten, auch wenn in vielen Fällen die katholische Kirche dies wegen mangelnder Glaubwürdigkeit der Erscheinungen zu unterbinden suchte.[24]

Die Marienerscheinungen

Margaretha Kunz, Katharina Hubertus und Susanna Leist waren zum Zeitpunkt, zu dem sie erstmals von einer Marienerscheinung berichteten, acht Jahre alt. Alle drei stammten aus ärmeren Verhältnissen, allerdings besaß Susanna Leists Vater Kühe, Wiesen und Scheunen. Margaretha Kunz, auch Gretchen genannt, war die jüngste von zehn Geschwistern, ihr Vater war bei einem Unglück ums Leben gekommen, bevor sie geboren wurde. Die Schulden, die der Vater hinterlassen hatte, zwangen die Familie dazu, ihre Mühle zu verkaufen. Margaretha Kunz wurde später übereinstimmend von ihren Zeitgenossen als die klügste unter den drei Mädchen bezeichnet.[25]

Die Mädchen waren am 3. Juli 1876, einen Tag nach dem Fest Mariä Heimsuchung, im Wald, um Heidelbeeren zu pflücken als Susanna Leist aufschrie und die anderen Mädchen auf eine weiße Frau aufmerksam machte.[26] Die Reaktion der Eltern auf die erregten Berichte der drei verängstigten Mädchen waren unterschiedlich, aber durchgängig von Skepsis geprägt. Susanna Leists Vater erklärte die Erzählung für dummes Zeug und vertrat die Ansicht, das Mädchen habe nur eine andere Frau des Dorfes gesehen. Katharina Hubertus wurde zur Strafe von ihrem Vater ohne Abendessen ins Bett geschickt und ihre Mutter versprach ihr ein neues Kleid, wenn sie aufhöre, Märchen zu erzählen. Margaretha Kunz' Mutter reagierte ähnlich.

Unterstützung fanden die Mädchen, als sich ihre Berichte über Erscheinungen fortsetzten. Katharinas Vater begleitete bereits am 5. Juli gemeinsam mit zwei weiteren Männern die Mädchen zum Erscheinungsort. Nachdem er zur Überzeugung gelangte, dass die Mädchen nicht vorsätzlich logen, war er von der Richtigkeit ihres Berichtes nahezu unerschütterlich überzeugt. Er war einer der ersten, die gegenüber Pfarrer Jakob Neureuter die Errichtung einer Kapelle vorschlugen, und berichtete später, dass er am 3. August 1876 das Singen und Beten der Engel gehört habe, das die Erscheinung begleitete.[27] Die von den Mädchen berichtete Erscheinung stieß auf große Resonanz unter den Bewohnern Marpingens. Bereits am 5. Juli suchten über hundert von ihnen den Erscheinungsort im Härtelwald auf. Sie hielten dort Nachtwachen und schmückten den Erscheinungsort mit Blumen und einem Kreuz. Die zwanzigjährige Margaretha Kunz wies in ihrem Widerruf darauf hin, dass sie wegen dieses einsetzenden Kultes sehr bald „nicht mehr zurück konnte“, das heißt von ihrem Bericht abrücken konnte.[28] Bereits am 5. Juli ereignete sich die erste angebliche Heilung. Der unter starken Rheumatismus leidende ehemalige Bergarbeiter Nikolaus Recktenwald berichtete von einem mächtigen Kraftstrom und einem Gefühl der Heilung, nachdem die Kinder seine Hand angeblich an den Fuß der Jungfrau geführt hatten.[29] Zwei weitere angebliche Heilungen des selben Tages beeinflussten die Meinung im Dorf über die Wahrhaftigkeit der Erscheinung. Entscheidender für den Meinungsumschwung war jedoch der Bericht von vier etwa jeweils vierzigjährigen Männern und der siebzehnjährigen Anna Hahn, sie hätten die Jungfrau ebenfalls gesehen. Anna Hahn wurde bei ihrer Erscheinung ohnmächtig, die nach der Quellenlage offenbar von Ehrfurcht überwältigten Männer berichteten von einer strahlenden und mit einem Diadem gekrönten Jungfrau, die auf dem Arm das Christuskind trage.[30] David Blackbourn nennt es eines der frappierendsten Merkmale der Marpinger Marienerscheinungen, dass die Erscheinung keine erkennbare Spaltung des Dorfes bewirkte. Unter den mehr als 1.600 Einwohnern des Dorfes gab es lediglich acht Skeptiker. Die repressiven Maßnahmen seitens des preußischen Staates führten dabei eher zu einem verstärkten Zusammenhalt, bei dem den Nachforschungen Ortsfremder mit einer Mauer des Schweigens begegnet wurde.[31]

Formung der Erzählung

Margaretha Kunz hat wie die anderen beiden Mädchen später die Erscheinung widerrufen. Das geschah teils unter einer Art Zwang, nachdem die Mädchen in ein Heim eingeliefert worden waren; deswegen traf es unter Anhängern der Erscheinung auf wenig Resonanz, zumal die Mädchen zum Teil ihre Eingeständnisse später widerriefen. Als Zwanzigjährige hat die zu dem Zeitpunkt als Klostergehilfin arbeitende Margaretha Kunz, die kurz danach als Novizin ins Kloster eintrat, erneut bestätigt, dass es sich bei den Behauptungen der Visionen um – in ihren Worten – „eine einzige große Lüge“ gehandelt habe.[32] Ihre Aussage als junge Erwachsene unterstreicht, wie sehr sich der Bericht unter dem Einfluss ihrer Mitbürger an das vorherrschende Bild über eine Marienerscheinung anpasste, das vor allem von den Marienerscheinungen in Lourdes beeinflusst war.

Lourdes, Marienstatue

Großen Einfluss auf den Bericht der Marpinger Kinder hatte in den ersten Tagen Susanna Leists Mutter. Sie forderte die Mädchen noch am 3. Juli auf, am nächsten Tag erneut in den Wald zu gehen, zu beten und die Erscheinung zu fragen, wer sie sei. Würde die Gestalt antworten, sie wäre die Unbefleckte Empfängnis, würde es sich um die Mutter Gottes handeln.[33] Dies spielt direkt auf einen entscheidenden Punkt der Marienerscheinungen in Lourdes an: Bernadette Soubirous war von dem Ortspfarrer Peyramale, der die Echtheit ihrer Vision bezweifelt, beauftragt worden, die Frau nach ihrem Namen zu fragen. Die Erscheinung antwortete auf diese Frage „Que soy era Immaculada Concepcion“ („Ich bin die unbefleckte Empfängnis“). Für Pfarrer Peyramale war dies der entscheidende Faktor, den Berichten Soubirous Glauben zu schenken. Papst Pius IX. hatte vier Jahre zuvor das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens verkündet. Dass Bernadette Soubirous mit ihrer mangelhaften Bildung von diesem Dogma gehört haben konnte, schien Pfarrer Peyramale wenig wahrscheinlich.

Im Falle der Marpinger Erscheinungen verbesserte Susanna Leists Mutter bewusst oder unbewusst die Berichte der Mädchen auch in Bezug auf das Erscheinungsbild. Das blaue Band – ebenfalls ein Detail der Marienerscheinungen in Lourdes – wurde von Susanna Leists Mutter der vagen Beschreibung der Kinder hinzugefügt, bevor dieses Detail von einem der Kinder erwähnt wurde.[34] Auch andere Aspekte der Marpinger Erscheinungen wurden den Kindern durch ihr Umfeld durch Andeutungen, Kommentare oder ungeschickt formulierte Fragen suggeriert. Sie wurden gefragt, ob die Erscheinung eine goldene Krone auf dem Haupt und das Jesuskind auf dem Arm trage, ob sie den Bau einer Kapelle gewünscht habe und ob Kranke an den Erscheinungsort zu bringen seien. Solche Beeinflussungen unterliefen auch Personen wie Matthias Scheeben, einem im 19. Jahrhundert einflussreichen deutschen Theologen, in dessen Werk der übernatürliche Charakter offenbarter Wahrheiten einen breiten Raum einnimmt. Er war im September 1876 in Marpingen zufällig anwesend, als die Kinder vage von einem strahlenden Haupt berichteten, das bei einer Erscheinung über der Jungfrau Maria geschwebt habe. Er zeigte ihnen daraufhin ein Bild von Niklaus von Flüe, worauf ihm die Kinder bestätigten, dass so genau das Haupt ausgesehen habe.[35] Blackbourn weist nach seiner Auswertung der Widerrufe der Mädchen auf die große Bedeutung hin, die das Erlebnis für die Kinder hatte:[36]

„Liest man [die frühen Widerrufe] neben zeitgenössischen Schilderungen Dritter über das Verhalten der Kinder, so lassen sie erkennen, dass das Erlebnis der Erscheinungen alles andere als trivial war und nicht allein als Konstrukt von Erwachsenen interpretiert werden kann. Die Visionärinnen waren zugleich verspielt und verzweifelt. Sie schufen sich das Bild eines besseren Lebens und genossen den Rausch ihres neuartigen Status, aber sie wurden auch von Schuldgefühlen bedrückt und von Ängsten gequält.“

Pilger

Die ersten auswärtigen Pilger kamen bereits am Ende der ersten Woche nach Marpingen. Am 12. Juli waren es bereits rund 20.000 Besucher, so dass die Anzahl der Pilger die Getränke- und Lebensmittelvorräte des Dorfes zu erschöpfen drohte. Dieser Pilgerstrom hielt über vierzehn Monate an, auch wenn die Anzahl der Pilger dabei schwankte. Bereits im August 1876 befanden sich unter den Pilgern Personen, die von außerhalb des Saarlands angereist waren, und im Herbst 1876 erreichten den Marpinger Gemeindepfarrer Briefe aus Belgien, Luxemburg, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich, Italien und den USA. Besonders zahlreich war die Pilgerzahl an kirchlichen Feiertagen und unter diesen insbesondere an den Marienfesten Mariä Heimsuchung, Mariä Himmelfahrt, Mariä Geburt, Mariä Empfängnis, Mariä Lichtmess und Mariä Verkündigung. Da die Kinder den 3. September 1877 als Tag der letztmaligen Marienerscheinung genannt hatten, fanden die Pilgerfahrten ihren Höhepunkt in den ersten drei Septembertagen 1877 und gingen dann sehr schnell stark zurück.[37]

Prinzessin Helene in Bayern, Erbprinzessin von Thurn und Taxis, eine der bekanntesten der Marpinger Pilgerinnen

Sehr viele zeitgenössische Quellen betonen das breite soziale Spektrum der Pilger. Für alle Schichten galt, dass die Marpinger Marienerscheinungen deutlich mehr Frauen als Männer anzogen. Eine stärkere Beteiligung von Frauen an religiösen Ereignissen ist dabei ein Phänomen, das für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in vielen europäischen Ländern typisch war.[38] David Blackbourn ist in seinen Analysen der Marpinger Pilger zu dem Schluss gekommen, dass die Pilger überwiegend aus den höchsten und niedrigsten Rängen der katholischen Gesellschaft kamen, dass jedoch insbesondere das männliche Bürgertum deutlich unterrepräsentiert war.[39] Auffallend waren die vielen Angehörigen des katholischen Adels, die sich in Marpingen einfanden. Zu den prominentesten zählten die Prinzessin Helene von Thurn und Taxis, die nicht weniger als drei Mal Marpingen besuchte, die Baronin von Louisenthal, mehrere Mitglieder des Adelsgeschlechts Stolberg, die Gräfin Maria Anna Ferdinande Gräfin von Spee und die 1874 zum Katholizismus übergetretene Marie Friederike von Preußen.[39] Die Mehrzahl der Pilger war dagegen von bescheidener Herkunft. Dienstboten waren besonders häufig vertreten, einige gehörten zur Schicht der kleinen Gewerbetreibenden und waren beispielsweise Gastwirte oder Krämer, hinzu kamen Vertreter des Kleinbürgertums wie Volksschullehrer, Angestellte und kleine Beamte oder Handwerker wie Färber, Maurer, Schreiner oder Tischler. Zahlreich vertreten waren außerdem Bergarbeiter und Bergarbeiterfamilien. Abgesehen von Vertretern des katholischen Klerus waren Angehörige des Besitz- und Bildungsbürgertums unter den Pilgern unterrepräsentiert. Das spiegelte zum Teil die ungleichmäßige Verteilung der Katholiken in der Gesamtbevölkerung wider, wo sie in dieser Schicht so auffällig fehlten, dass das so genannte Bildungsdefizit der Katholiken bereits Gegenstand der öffentlichen Diskussion war.[40] Dass katholische Ärzte, Rechtsanwälte und mittlere und höhere Beamte in so geringer Zahl unter den Marpinger Pilgern vertreten waren, ist nach Ansicht von David Blackbourn darauf zurückzuführen, dass sie in ihrer Lebensauffassung sich stark ihren protestantischen Mitbürgern angeglichen hatten, eine übertriebene Marienverehrung ablehnten und Episoden wie die Marpinger Marienerscheinungen eher als Peinlichkeit empfanden.[41] Die meisten Angehörigen dieser Schicht waren unzufrieden mit der zunehmend ultramontanen Haltung der deutschen Diözesen. Während sich diese Schicht in den Jahren nach dem Revolutionsjahr 1848 noch den Deutschkatholiken angeschlossen hatte, äußerten während der Zeit des Kulturkampfes diese überwiegend politisch liberalen Katholiken nur selten ihre Meinung öffentlich.[42]

Die Motive der Pilger für die Wallfahrt nach Marpingen waren sehr unterschiedlich. Sie kamen als Akt der Buße, um durch ihre Anwesenheit Gnade zu erlangen, oder weil sie die Fürbitte der Heiligen Jungfrau suchten. Für viele war die Pilgerfahrt aber auch mit der Hoffnung auf Heilung für sich selbst oder ihre Angehörigen verbunden, wobei man dem Wasser der Quelle im Härtelwald eine wunderbare Wirkung zuschrieb. Viele der Pilger führten deswegen Behältnisse mit, um das Wasser mit nach Hause nehmen zu können.[43]

Reaktionen

Reaktionen des katholischen Klerus

Katholische Priester waren angehalten, Berichten über private Offenbarungen mit Skepsis und Zurückhaltung zu begegnen, bevor nicht eine kanonische Untersuchung diese als glaubwürdig einstufte. Der gelebten Praxis entsprach dies nicht immer. Dabei spielte der Glaubenswunsch ihrer Gemeinde häufig eine Rolle, aber auch die Überzeugungen der jeweiligen Pfarrer. Die Angehörigen des katholischen Klerus, die nach Marpingen kamen, waren tendenziell geneigt, die Echtheit der Erscheinung zu akzeptieren. Viele bedrängte Geistliche sahen in Marpingen ein Signal und waren bereit, auch Gefängnisstrafen zu akzeptieren, wenn dies der Preis sein sollte, um persönlich Zeugnis der Marpinger Ereignisse zu sein.[44] Diejenigen, die der Erscheinung skeptisch gegenüber standen, verboten gewöhnlich auch ihren Gemeindemitgliedern, nach Marpingen zu pilgern.[45]

Der Marpinger Gemeindepfarrer Jakob Neureuter stand unter besonders großem Druck, da ihm die Unterstützung der kirchlichen Hierarchie der Trierer Diözese fehlte. Eine offizielle Verurteilung der Marpinger Erscheinung seitens der Diözese unterblieb nicht zuletzt, weil sich das zuständige Trierer Domkapitel einer Zusammenarbeit mit dem preußischen Staat verweigerte.[46] Praktische Unterstützung fand Pfarrer Neureuter bei den Pfarrern seiner Nachbargemeinde, die versuchten, ihm einen Teil seiner Last abzunehmen, indem sie Briefe beantworteten oder die Aussagen der Seherinnen und Geheilten festhielten.[47] Da das Trierer Domkapitel ihm die theologische Unterstützung verweigerte, bat er den Mariologen Matthias Scheeben um Hilfe. Dieser war sehr schnell von der Echtheit der Erscheinung überzeugt und zerstreute auch die Zweifel Jakob Neureuters. Bei seinem ersten Verhör durch den Trierer Regierungspräsidenten Wolff am 14. Juli benutzte Neureuter eine Formel, auf die er sich auch später immer wieder zurückzog:[48]

„Ist es Menschenwerk, so wird es in sich zerfallen, ist es Gotteswerk, so werden Sie, Herr Präsident, es nicht verhindern.“

Der formell bekundete Wunsch Jakob Neureuters, durch seine Handlungen einer kanonischen Untersuchung nicht vorzugreifen, wurden allerdings häufig durch seine eigene offenkundige Überzeugung konterkariert.[49]

Verschiedene Details der von den Kindern berichteten Erscheinungen lösten bei einer Reihe von Geistlichen Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Erscheinung aus. Der Gemeindepfarrer Feiten des saarländischen Fraulautern wandte sich deshalb an den Bischof von Luxemburg, der Parallelen zu ähnlichen, von der Kirche als Täuschung oder Betrug eingestuften Fällen im Elsass zog und ein vernichtendes Urteil fällte.[50] In der rauschhaften Atmosphäre der Monate vom Juli 1876 bis September 1877 gelang es Geistlichen jedoch noch nicht einmal in den offenkundig zweifelhaften Nachahmungen der Marpinger Erscheinungen, diese zu unterbinden. Wo sie es versuchten, waren sie häufig Anfeindungen ihrer eigenen Gemeindemitglieder ausgesetzt.[51]

Die Marpinger Marienerscheinungen und die Presse

Zwischen Berlin und Rom, Karikatur des Kladderadatsch zum Kulturkampf 1875

Nach den ersten Marienerscheinungen am 3. Juli dauerte es mehrere Tage, bis die Presse auf die Vorkommnisse in Marpingen aufmerksam wurde. Die nähere Umgebung Marpingens erfuhr davon zunächst über andere Kommunikationswege wie beispielsweise Hausierer und Spediteure. Ein wesentlicher Kommunikationskanal waren die Marpinger Bergarbeiter, die am Montag, dem 11. Juli in ihre Zechen zurückkehrten und durch ihre Berichte dazu beitrugen, dass sich die Kunde davon auch im saarländischen Kohlerevier verbreitete.[52]

Zum steigenden Bekanntheitsgrad der Marpinger Marienerscheinung trug paradoxerweise die liberale Presse bei, die der Marienfrömmigkeit ablehnend gegenüberstand. Am 15. Juli 1876 gratulierte die Saar- und Mosel-Zeitung der preußischen Regierung zu ihrem entschlossenen Handeln, mit dem die nach Marpingen fahrenden Pilgerströme unterbunden werden sollten und trug damit wesentlich zum weiträumigen Bekanntwerden der Marpinger Marienerscheinungen bei.[53] Die katholische Presse reagierte dagegen deutlich langsamer, verbreitete aber bereits Ende Juli 1876 Behauptungen von angeblichen Heilungen. Die Reichweite der katholischen Presse war allerdings nicht sehr groß, selbst die Kölnische Volkszeitung, das vermutlich meistgelesene katholische Blatt, hatte in der Mitte der 1870er Jahre nur eine Auflage von 8.600 Exemplaren.[54] Volkstümliche Broschüren über die Erscheinungen, die von Hausierern vertrieben wurden, hatten dagegen eine höhere Auflage und trugen entscheidend bei, die katholische Bevölkerung über Marpingen zu unterrichten.[54]

Ab Herbst 1876 nahmen die Marpinger Marienerscheinungen in der deutschen Presse einen verhältnismäßig breiten Raum ein. Dabei wiederholten sich die Angriffe der liberalen Presse auf die katholische Volksfrömmigkeit, wie sie bereits 1844 während der Wallfahrten zum Heiligen Rock zu beobachten waren. Die einzelnen Berichte in der Presse bedienten sich dabei einer klischeehaften Darstellung katholischer Volksmassen als pfaffenhörig und intellektuell unterentwickelt.[55] Die überregionale liberale Presse sah in dem Ereignis vor allem eine ultramontane Verschwörung.[56] Unter Rückgriff auf Rudolf Virchows Begriff der psychischen Epidemien und Krafft-Ebings Studien zum „religiösen Wahnsinn“ bezeichneten liberale Blätter wie der Grenzbote die Marpinger Marienerscheinungen als „religiösen Mädchenspuk“, der nur auf die übererregte Phantasie und Eitelkeit der Mädchen zurückzuführen sei.[57]

Nachahmende Erscheinungen

Die Marienerscheinungen in Marpingen fanden sehr schnell Nachahmungen. Die ersten wurden bereits im Juli 1876 aus Posen gemeldet, wo Kinder behaupteten, eine Erscheinung auf der Straße von Czekanow nach Lewkow gesehen zu haben. In der Gegend von Koblenz zog im Frühjahr 1877 die angebliche Erscheinung der Mutter Gottes in einer mit Marpinger Wasser gefüllten Arzneiflasche mehr als 5.000 Pilger an, obwohl der Bürgermeister die Flasche beschlagnahmte und eine Wache vor dem Erscheinungsort, einer Mühle, aufziehen ließ. Die Personen, die in diese Erscheinung involviert wurden, wurden später strafrechtlich verfolgt und zu Haftstrafen verurteilt, nachdem man ihnen nachweisen konnte, dass sie von den Pilgern Geld genommen hatten.[58]

In mindestens zwei Fällen steigerten sich Kinder aus der Umgebung von Marpingen in einen Zustand religiöser Ekstase. So lief im August 1877 nach einer vermeintlichen Erscheinung eine große Gruppe von Kindern von Münchwies nach Marpingen und stürmte dort das Pfarrhaus, um die Kommunion zu erlangen. Gravierender war ein Fall in Berschweiler, wo rund ein Dutzend Kinder behaupteten, sie hätten in Marpingen die Jungfrau Maria gesehen, die ihnen die Weisung gegeben hätte, Seelen aus dem Fegefeuer zu retten. Nach Hause zurückgekommen rangen angeblich elf Mädchen im Alter zwischen neun und siebzehn Jahren vor den Augen zahlreicher Zuschauer in heftigen Krämpfen mit dem Teufel.[59]

Maßnahmen preußischer Behörden

Papst Pius IX., der mit der Enzyklika Quod nunquam die deutschen Katholiken zum passiven Widerstand gegen die preußischen Kulturkampfgesetze aufforderte

Die Eskalation der Auseinandersetzungen in Marpingen führt der Historiker David Blackbourn auf das Verhalten einzelner Beamter zurück, die die Marpinger Marienerscheinungen von Beginn an als gezielten Betrug und schweren Landfriedensbruch gewertet hatten. Während bei den Dietrichswalder Marienerscheinungen im Jahre 1877 der zuständige Landrat sehr zurückhaltend reagierte und die Wallfahrten duldete, auch wenn der Erscheinungsort ähnlich wie in Marpingen abgesperrt wurde, reagierten in Marpingen die zuständigen Vertreter der preußischen Behörden mit unverhohlener Verachtung und Feindseligkeit gegenüber der katholischen Bevölkerung.[60] Ihre repressiven Maßnahmen scheiterten letztlich. Dazu trug auch das Verhalten kleiner lokaler katholischer Beamter bei, die im Konflikt zwischen ihrer lokalen Loyalität und ihren Pflichten als preußische Beamte eher bereit waren, disziplinarische Maßnahmen oder gar strafrechtliche Verfolgung in Kauf zu nehmen, denn als Handlanger einer repressiven Staatsmacht zu agieren.[61] Moralische Stütze hatten sie darin in der päpstlichen Enzyklika Quod numquam vom 5. Februar 1875, die die preußischen Maigesetze für Null und nichtig erklärte und die deutschen Katholiken zum passiven Widerstand aufrief.

Einsatz der Armee

Die im Dorf beschäftigen Beamten und der Ortsvorsteher vermieden es zunächst, ihre vorgesetzten Behörden über die Ereignisse in Marpingen zu informieren. Das Landratsamt St. Wendel erfuhr erstmals am 11. Juli, dass tausende Pilger auf dem Weg nach Marpingen seien. Der zuständige Landrat Rumschöttel befand sich zu diesem Zeitpunkt im Urlaub, sein Vertreter war der Kreissekretär Hugo Besser, der gemeinsam mit dem Alsweiler Bürgermeister Wilhelm Woytt, einem Oberleutnant und zwei Gendarmen am Morgen des 13. Juli erstmals persönlich nach Marpingen reiste, um sich dort selbst ein Bild von der Lage zu machen.[62] Hugo Besser befahl dort im Namen des Landrats und unter Hinweis auf Artikel 116 des Reichsstrafgesetzbuches der betenden und singenden Menge, sich zu zerstreuen.[63] Nachdem dies keine Wirkung zeigte, forderte Hugo Besser die Hilfe des Militärs an. Die achtzig Mann starke 8. Kompanie des Rheinischen Infanterie-Regiments Nr. 4 unter Hauptmann Fragstein-Riemdorff erhielt den Auftrag, das Gelände zu räumen, Ortsfremde auszuweisen und eine Ausgangssperre zu verhängen.[64] Die Kompanie traf gegen acht Uhr abends am Härtelwald ein, wo eine große Zahl Menschen betete und sang. Um wie viele Personen es sich tatsächlich handelte, ist ebenso strittig wie der detaillierte Ablauf der gewaltsamen Räumung. Der Alsweiler Bürgermeister Wilhelm Woytt schätzte die Zahl der dort versammelten auf 1.500 Menschen, der Hauptmann auf 3.000 bis 4.000 Personen. Nach einem Trommelwirbel forderte der kommandierende Offizier die Menge erneut auf, sich zu zerstreuen. Als dies nicht geschah, gab der Hauptmann den Befehl zum Aufpflanzen der Bajonette und befahl zwei Kompaniezügen gegen die Menge vorzugehen. Dabei wurden sechzig Zivilisten durch Schläge mit Gewehrkolben und in einigen wenigen Fällen durch Bajonettstöße verletzt. Bei der späteren Gerichtsverhandlung sagten sowohl Hauptmann Fragstein-Riemsdorff als auch ein weiterer Offizier unter Eid aus, dass es keinen direkten Widerstand der betenden Menge gegen die Räumung gegeben hätte.[65] Zu blutigen Zwischenfällen kam es erst in den späten Abendstunden, als etwa dreißig Männer am Rand des Waldes die Soldaten verhöhnten und beschimpften. Ein auf Streife befindlicher Feldwebel wurde angegriffen, der Feldwebel gab daraufhin mehrere Schüsse auf die fliehenden Männer ab, wobei einer am Arm getroffen wurde.[66]

Die anschließende Einquartierung der Soldaten im Dorf und die Requisition von Lebensmitteln und Futter für die Pferde des Regiments verlief in ähnlicher Weise. Als der Marpinger Ortsvorsteher Jakob Geßner den Hauptmann darauf hinwies, dass das Dorf nicht über den verlangten Hafer verfüge, beleidigte der Hauptmann den Ortsvorsteher zunächst, packte ihn dann am Kragen und würgte ihn.[67] Für den Mariologen Matthias Scheeben war das der Anlass, in einem Artikel in der Kölnischen Volkszeitung zu beklagen, die Armee hätte sich in Marpingen aufgeführt, als befände sie sich in Feindesland.[68] Erst am 28. Juli wurde die Kompanie auf Befehl der Obersten Heeresleitung für die Rheinprovinz wieder abgezogen. Zur Kontrolle des Dorfes wurden statt ihrer in Marpingen zusätzliche Gendarmen stationiert.[69] Diese Gendarmen unterstanden dem Kriegsministerium und waren in ihrer täglichen Arbeit an die Weisungen des Oberpräsidenten beziehungsweise seiner örtlichen Vertreter, nämlich des Regierungspräsidenten und der Landräte gebunden.

Strafrechtliche Untersuchung

Am 14. Juli traf Regierungspräsident Wolff aus Trier in Marpingen ein, der gemeinsam mit Hugo Besser und dem Kreisphysikus Dr. Brauneck mit den Voruntersuchungen des Falls begann. Nach einem ersten Gespräch mit Pfarrer Jakob Neureuter verhörte er die drei visionären Kinder sowie zwei Personen, die behaupteten, geheilt worden zu sein. Der Regierungspräsident, der sehr schnell zu der Überzeugung kam, dass „die Anstifter des Wunders nur darauf ausgingen, die leichtgläubige Bevölkerung zu betrügen“,[70] verfolgte im Wesentlichen zwei Strategien: Die strafrechtliche Verfolgung der von ihm vermuteten Anstifter und die Verhinderung des Zugangs zum Härtelwald, um der Massenbewegung ihre Dynamik zu nehmen. Die strafrechtliche Untersuchung begann am 16. Juli unter Leitung von Untersuchungsrichter Ernst Remelé und Oberprokurator Pattberg aus Saarbrücken. Verhört wurden hunderte von Zeugen, darunter die Eltern der drei Seherinnen, Pfarrer Neureuter und die erwachsenen Visionäre. Die drei Mädchen, die als erstes von der Erscheinung berichtet hatten, wurden besonders strengen Verhören unterworfen. Margaretha Kunz behauptete später, sie wäre insgesamt achtundzwanzigmal verhört worden.[71] Die Protokolle der Verhöre und der ergänzenden Unterlagen sind im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Erhalten geblieben ist eine 500-seitige Zusammenfassung durch den Untersuchungsrichter Emil Kleber, die nach Ansicht von David Blackbourn darauf schließen lässt, dass sich das ursprünglich von Ernst Remelé und seinen Kollegen zusammengetragene Material auf 3.500 Seiten erstreckte.[72]

Die Verhöre zielten darauf ab, die „Mechanik des Betruges“ zu entdecken und kreisten um die Fragen, wer den Kindern Geld angeboten habe, wer die Rolle der Jungfrau Maria im Wald gespielt haben könne und wer dazu beigetragen habe, die Visionen publik zu machen. Bereits am 16. Juli wurden die Elternhäuser der jungen Seherinnen durchsucht, um Hinweise auf finanzielle Vorteile durch die Erscheinungen zu finden. Durch Gegenüberstellungen aller Marpinger Frauen zwischen 25 und 50 Jahren und zahlreiche Einzelbefragungen versuchten die Untersuchungsrichter die Frau zu ermitteln, die im Härtelwald das Kreuz am Erscheinungsort aufgestellt habe. Auch disziplinarische Maßnahmen wurden eingeleitet: Pfarrer Jakob Neureuter wurde seines Amtes als Schulinspektor enthoben, die Marpinger Lehrerin André wurde im August 1876 gegen ihren Willen nach Tholey versetzt. Als im September 1876 noch immer keine verwendbaren Ergebnisse der Voruntersuchungen vorlagen, beauftragte der preußische Innenminister Friedrich zu Eulenburg den Berliner Detektiv Leopold Friedrich Wilhelm Freiherr von Meerscheidt-Hüllesem in Marpingen verdeckt zu ermitteln, um den „Schwindel von Marpingen“ aufzudecken.[73] Er wurde mit Papieren ausgestattet, die es ihm erlaubten, vor Ort als James Marlow, irischer Reporter des New York Herald, aufzutreten. In Marpingen versuchte er unter anderem durch Hetztiraden auf die preußische Polizei die Marpinger Bevölkerung davon zu überzeugen, dass er auf ihrer Seite stünde. Der Detektiv wurde daraufhin von Gendarmen festgenommen und erst durch seine Verhaftung erfuhr der Oberprokurator Pattberg von der Anwesenheit des Berliner Detektivs.[74] Der Detektiv erregte mit einem übertriebenen Verhalten sehr früh Misstrauen unter den Marpinger Einwohnern, seine dubiosen Untersuchungsergebnisse überzeugten auch die örtlichen Justizbehörden nicht, sie leiteten aber eine neue Phase eines massiven staatlichen Vorgehens gegen die vermeintlichen Rädelsführer der Marpinger Marienerscheinungen ein. Die Büroräume der katholischen Zeitung Germania wurden durchsucht und dabei 27 Dokumente beschlagnahmt, die sich auf die Marpinger Marienerscheinungen bezogen. Kurz danach kam es zum Teil zu mehrmaligen Hausdurchsuchungen bei den Pfarrern von Marpingen, Alsweiler, Heusweiler und Urexweiler sowie mehreren Marpinger Bürgern. Der Marpinger Volksschullehrer Bungert, der seit 36 Jahren in Marpingen unterrichtete, wurde beamtenrechtlich zurückgestuft und zum 1. November nach Bliesen versetzt. Pfarrer Jakob Neureuter wurde am 27. Oktober 1876 verhaftet und nach Saarbrücken gebracht. Dem folgte am 30. Oktober die Verhaftung des Alsweiler Kaplans Schneider und am 31. Oktober die Verhaftung des Gemeindeförsters Karl Altmeyer, des Marpinger Feldhüters Jakob Langendörfer, der vier Marpinger Männer, die behauptet hatten, die Jungfrau gesehen zu haben und Angela Kles. Letztere verdächtigte man, das Kreuz im Härtelwald mit Blumen geschmückt und unter den Pilgern Geld eingesammelt zu haben.[75] Edmund Prinz von Radziwill, zu dem Zeitpunkt Vikar in Ostrów Wielkopolski und einer der Marpinger Pilger, wurde wegen Beleidigung des Bürgermeisters Woytt zu 20 Mark Geldstrafe verurteilt. Pfarrer Eich, der während einer der Hausdurchsuchungen die Beschlagnahmungen eines Notizbuches als „einfältig“ bezeichnete, erhielt wegen Beleidigung eine Geldstrafe von 30 Goldmark. Zahlreiche Geistliche, die ihre Gemeindemitglieder auf der Wallfahrt nach Marpingen begleiteten, wurden wegen illegaler gottesdienstlicher Betätigung angezeigt.[76]

Maßnahmen gegen die drei Visionärinnen

Am 6. November hatten die drei achtjährigen Seherinnen vor dem Vormundschaftsgericht St. Wendel zu erscheinen. Der Friedensrichter fand die Visionärinnen für schuldig, die öffentliche Ordnung bedroht, groben Unfug getrieben und sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil verschafft zu haben. Als Minderjährige waren die drei Mädchen strafrechtlich nicht zu belangen, der Richter fand es jedoch für zulässig, die drei Mädchen in eine Besserungsanstalt einzuliefern. Diese Einlieferung fand nicht sofort statt, sondern erfolgte drei Tage später, am 9. November 1876. Den Eltern wurde dabei zunächst vorgetäuscht, die Kinder sollten lediglich in Marpingen erneut verhört werden. Erst als die Kinder in der Gewalt der Gendarmerie waren, erfuhren die Eltern, dass die Kinder nach Saarbrücken gebracht werden sollten. Drei Elternteile folgten den Kindern bis nach Saarbrücken, wobei die Behörden jeglichen Kontakt zwischen Kindern und Eltern unterbanden. Die Mädchen wurden in das protestantische Prinz-Wilhelm- und Mariannen-Institut eingeliefert[77], wovon die Eltern nur unter der Hand von einem Gerichtsdiener erfuhren. Nach dem vergeblichen Versuch der Eltern, in Saarbrücken einen Rechtsanwalt zu finden, der sie vertreten würde, reisten die Eltern am nächsten Tag wieder nach Marpingen zurück. Die Mädchen wurden fünf Wochen in Saarbrücken festgehalten, wobei den Eltern jeglicher Zutritt zu ihren Kindern verwehrt blieb.[78]

Das Urteil des Vormundschaftsgerichts St. Wendel wurde von einer Reihe von Juristen als zweifelhaft eingestuft. Das willkürliche Vorgehen bei der Vollstreckung des Urteils erwies sich im juristischen und politischen Nachspiel der Marpinger Marienerscheinungen als einer der wesentlichen Angriffspunkte gegen die preußischen Behörden.

Die Sperrung des Härtelwaldes

Der Härtelwald, der ursprüngliche Erscheinungsort, sowie angrenzende Waldstücke wurde von den preußischen Behörden weiträumig abgesperrt, um weitere Wallfahrten und Prozessionen zu unterbinden. Nach dem Abzug der Infanteriekompanie waren zunächst Gendarme für die Absperrung zuständig. Ab Februar 1877 wurden diese durch eine Kompanie des Rheinischen Jäger-Bataillon Nr. 8 verstärkt.

Das Betretungsverbot des Härtelwaldes und der angrenzenden Waldstücke wurde sehr rigide umgesetzt. Jeder, der auch nur geringfügig von den erlaubten Wegen abwich, wurde wegen Waldfrevel vorgeladen. Vereinzelt scheint es dabei auch zu Vorfällen gekommen zu sein, bei denen Gesetzesverstöße sowohl durch die Gendarmerie als auch Angehörigen des Jäger-Bataillons provoziert wurden. Einzelne Bergleute wurden vorgeladen, weil sie auf dem Weg von oder zu ihren Arbeitsplätzen in den saarländischen Zechen Abkürzungen durch den Wald genommen hatten. Marpinger Bauern, die den Weg durchqueren mussten, um auf ihren eigenen Grund und Boden zu gelangen, wurden mit Geldstrafen belegt. Auch das Sammeln von Laubstreu und Viehfutter im Wald, auf das Bauern im Spätfrühjahr zurückgriffen, wenn die eingelagerten Vorräte knapp wurde, wurde zum Teil mit drastischen Geldstrafen geahndet. Zu wie vielen Vorladungen es insgesamt kam, lässt sich auf Grund der nicht mehr vollständigen Quellen nicht mehr rekonstruieren, aber allein zwischen dem 6. August und dem 2. September 1877 kam es zu insgesamt 86 Anzeigen.[79] Für die Marpinger Dorfbevölkerung stellte dies eine erhebliche finanzielle Belastung insbesondere dann dar, wenn mehrere Angehörige einer Familie mit Geldstrafen belegt wurden.

Gegenwehr

Georg Friedrich Dasbach, Publizist und Abgeordneter der Zentrumspartei

Die Sperrung des Härtelwaldes löste die ersten juristischen Schritte der Marpinger Bevölkerung gegen den Militäreinsatz und die daraus resultierenden Übergriffe aus. Da in Marpingen eine einheimische bürgerliche Schicht völlig fehlte, waren es neben Pfarrer Neureuter der Mindener Kaplan Felix Dicke, der Müller Johann Thomé, der Kirchenrechner Fuchs und der aus Baden hinzugekommene katholische Gelehrte Dr. Nikolaus Thoemes, die vor Ort Aussagen der Dorfbewohner sammelten, um eine formelle Beschwerde an die Verwaltung in Trier zu richten. Diese wurde vom Regierungspräsidenten abgewiesen, fast zeitgleich erließ der Regierungspräsident eine Bekanntmachung, wonach die Kosten für die Einquartierung der Armee in Marpingen in Höhe von 4.000 Goldmark über eine lokale Steuererhöhung durch das Dorf zu tragen sei. Die drohende Strafsteuer löste eine Reihe weiterer formeller Beschwerden aus, die im Wesentlichen durch Pfarrer Neureuter und Dr. Thoemes formuliert wurden. Das beachtliche Material, das zusammengetragen worden war, nutzten sowohl Matthias Scheeben und Dr. Thoemes, um in Artikeln, die in verschiedenen katholischen Zeitungen veröffentlicht wurden, die Zwangsmaßnahmen des Staates an die Öffentlichkeit zu tragen.[80] Die Berichterstattung verschärfte sich, als die Verhaftungen zunahmen und schließlich die drei minderjährigen Visionärinnen in die Saarbrücker Besserungsanstalt eingeliefert wurden. Mittelpunkt der Berichterstattung waren nicht mehr die Marienerscheinungen, die von zahlreichen katholischen Geistlichen und Laien sowieso angezweifelt wurden, sondern die Maßnahmen seitens des preußischen Staates.

Die Marpinger Bevölkerung fand verhältnismäßig wenig Unterstützung bei der Parteiführung der Zentrumspartei. Dazu kann die angegriffene Gesundheit von Ludwig Windthorst in dieser Zeit beigetragen haben. Es waren eher Außenseiter der Zentrumspartei wie Edmund Prinz von Radziwill und die Publizisten Georg Friedrich Dasbach und Paul Majunke, die sich für die Marpinger einsetzten. Insbesondere Edmund Prinz von Radziwill verstand sich explizit als Anwalt der Marpinger Bevölkerung und reichte unter anderem Beschwerde beim Justizministerium in Berlin ein, um gegen die Einsperrung der Kinder zu protestieren.[81]

Einlenken des Staates

Die ersten Gerichtsurteile

Bereits im November 1876 brachen die strafrechtlichen Vorwürfe der Regierung in sich zusammen. Am 17. November mussten die vier erwachsenen Visionäre aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Am 19. November verwarf das Landgericht Saarbrücken die Entscheidung des Vormundschaftsgerichts St. Wendel, die Kinder in das Prinz-Wilhelm- und Mariannen-Institut einzuweisen. Da die Regierung unverzüglich erklärte, Revision einzulegen, wurde die Entlassung der Mädchen weitere zwölf Tage aufgeschoben. Am 30. Januar bestätigte das Obertribunal Berlin die Entscheidung des Landgerichts und verwarf das Revisionsbegehren des Staates. Am 1. Dezember 1876 wurden Kaplan Schneider und Pfarrer Jakob Neureuter aus der Haft entlassen.[82] Die Marpinger Gemeinde empfing ihren Pfarrer mit dem festlichen Willkommen, das Dutzenden von Kulturkampfpriestern in jener Zeit bereitet wurde. Die jungen Marpinger Männer ritten ihm auf der Straße nach St. Wendel entgegen und gaben ihm das Ehrengeleit zurück ins Dorf.[83] Am 20. Dezember wurden dann auch der Gemeindeförster Karl Altmeyer, Feldhüter Jakob Langendorf und Angela Kles freigelassen.

Der Übereifer der Gendarmen in Marpingen wurde nicht direkt von den Gerichten geahndet. Allerdings wurden bei den Verhandlungen vor dem Friedensgericht Tholey und St. Wendel zahlreiche Pilger und im Härtelwald festgenommene Personen entweder freigesprochen oder zu Geldstrafen verurteilt, die nur symbolischen Charakter hatten. Einen noch größeren Gesichtsverlust bedeutete es für den preußischen Staat, als der wegen Verleumdung der preußischen Armee angeklagte Matthias Scheeben am 14. April 1877 freigesprochen wurde. Basis der Anklage war Scheebens Artikel, in dem er festgehalten hatte, die Armee habe sich in Marpingen wie in Feindesland verhalten. Die Zuchtpolizeikammer in Köln kam zu dem Ergebnis, dass Scheebens Behauptungen im Wesentlichen der Wahrheit entsprochen hätten und stellte darüber hinaus fest, dass sich Hauptmann Fragstein-Riemsdorff und seine Offiziere schwer kompromittiert hätten. Die zuständige Appellationskammer des Kölner Landgerichts bestätigte knapp einen Monat später das Urteil erneut.[84] Dagegen wurde der Alsweiler Bürgermeister Wilhelm Woytt am 7. Juli 1877 für schuldig befunden, eine Marpinger Dorbewohnerin misshandelt zu haben, die bei ihm um die Erlaubnis zum Betreten des Härtelwaldes nachgesucht hatte.

Der Fall Marpingen vor dem preußischen Landtag

Trotz der eindeutigen Gerichtsurteile weigerten sich die zuständigen Verwaltungsbehörden bis hin zur Provinzregierung in Koblenz, die verschiedenen über Marpingen verhängten Maßnahmen zurückzunehmen. Der Zentrumspolitiker Julius Bachem brachte deswegen gemeinsam mit drei weiteren Mitgliedern des Zentrums einen von 77 Fraktionsmitgliedern unterzeichneten Antrag im preußischen Abgeordnetenhaus ein, der die Regierung aufforderte, die Angelegenheit zu prüfen. Verlangt wurde unter anderem die Rückerstattung der über Marpingen verhängten Strafsteuer von 4.000 Mark, die Aufhebung des Zutrittsverbots für den Härtelwald sowie disziplinarische Maßnahmen gegen die Beamten, die unvorschriftsmäßig und gesetzwidrig gehandelt hatten.[85] Am 16. Januar fand im Abgeordnetenhaus eine fast fünfstündige Debatte über die Marpinger Ereignisse statt. Julius Bachem, der die Debatte eröffnete, betonte gleich zu Beginn, dass die Erscheinung selbst oder ihre theologische Würdigung für seinen Antrag unerheblich seien. Julius Bachem räumte ein, dass es in Folge der Marpinger Erscheinungen an anderen Orten zu versuchten Betrügereien gekommen sei. Er betonte aber, dass die jeweilige örtliche Geistlichkeit bereit und fähig gewesen sein, diesen Schwindeleien zu begegnen. Bachem leitete dann zu einer Auflistung der von amtlicher Seite begangenen Fehler über. Den Militäreinsatz in Marpingen bezeichnete er als rechtswidrig, wobei Bachem es jedoch vermied, das Militär direkt zur Zielscheibe seiner Kritik zu machen. Den anschließenden Gendarmerieeinsatz, bei dem Gendarmen aus der gesamten Rheinprovinz zusammengezogen worden waren, nannte er unverhältnismäßig. Im letzten Teil seiner Rede wandte er sich gegen die Rolle, die Regierungspräsident Wolff, der Kreissekretär Besser, der Geheimpolizist Leopold Friedrich Wilhelm Freiherr von Meerscheidt-Hüllesem und der Alsweiler Bürgermeister Wilhelm Woytt gespielt hatten.[86]

Auf Bachems Rede antwortete an Stelle des erkrankten preußischen Innenminister Eulenburg der liberal gesinnte Landwirtschaftsminister Karl Rudolf Friedenthal, der zunächst zu begründen suchte, warum die Behandlung der Angelegenheit im Parlament unzweckmäßig war. Er führte dann weiter aus, dass ohne staatliches Eingreifen sich die Wallfahrten nach Marpingen zu einer Aufruhrbewegung hätten entwickeln können und verteidigte damit die Hinzuziehung des Militärs als korrekt. In der Verteidigung der Handlungen einzelner Beamter blieb Karl Rudolf Friedenthal vage und wies auf die bereits stattgefundenen Prozesse hin. Die an seine Rede anschließende Debatte wurde immer stürmischer, Ludwig Windthorst, der Führer der Zentrumspartei, der das letzte Wort hatte, wurde sogar ausgezischt.[87] Alle Anträge der Zentrumspartei wurden – wie angesichts der Mehrheiten im Parlament zu erwarten war – abgelehnt. Linksliberale Zeitungen wiesen jedoch auf die Schwächen in der Argumentation der Regierung hin und den meisten Beobachtern und Beteiligten war klar, dass die Verteidiger des staatlichen Handelns in Marpingen eine Kulturkampf-Politik würdigten, von der Otto von Bismarck gerade zunehmend Abstand nahm.[88]

Der letzte Prozess

Der letzte Prozess in Zusammenhang mit den Marienerscheinungen begann im März 1879. 19 Personen wurden vor der Zuchtpolizeikammer Saarbrücken angeklagt: Die vier noch lebenden Elternteile der drei Mädchen, Susanna Leists Schwester Margaretha, die Geistlichen Neureuter, Eich, Schneider, Schwaab und Dicke, der Publizist Thoemes aus Baden, sechs erwachsene Männer, die behaupteten, die Erscheinung gesehen zu haben, die Lehrerin André und der Förster Altmeyer. Die Anklage auf Aufruhr oder Landesfriedensbruch waren nach mehr als zwei Jahren Ermittlung fallengelassen worden. 17 der Personen waren wegen Betruges, Versuch des Betruges und Beihilfe zum Betrug angeklagt. Pfarrer Eich und dem Gemeindeförster Altmeyer wurde vorgeworfen, gegen die öffentliche Ordnung verstoßen zu haben.[89] Verteidigt wurden die Angeklagten vom Rechtsanwalt Simons vom Zuchtpolizeigericht Saarbrücken sowie von Julius Bachem, der bereits in mehreren Gerichtsprozessen des Kulturkampfes als Verteidiger fungiert hatte. Der Staat bot im Verlauf der zweiwöchigen Verhandlung nicht weniger als 170 Zeugen auf, während sich die Verteidigung auf 26 begrenzte. Trotz des Fülle des Materials gelang es der Anklage nicht, einen überzeugenden Fall zu konstruieren. Viele der von der Anklage geladenen Zeugen weigerten sich, belastende Aussagen zu machen und konnten oder wollten sich nicht mehr an Details von Zeit, Ort oder involvierte Personen erinnern. Das Gericht verwarnte zahlreiche der Zeugen und ließ die Witwe Blies aus Marpingen noch im Gerichtssaal wegen Verdachts auf Meineid verhaften, was sie mit den Worten kommentierte: „Das ist der Weg für mich zum Himmel“.[90]

Unzweifelhaft hatten Marpinger Einwohner von den Pilgern materiell profitiert. Auch die Eltern der drei Seherinnen hatten für die Beherbergung von Logiergästen Geld genommen. Mit keiner der Zeugenaussagen konnte aber belegt werden, dass Geldgier die Erscheinungen überhaupt erst ausgelöst hatte oder, dass Wallfahrtsmedaillen oder ähnliches bereits vor den Erscheinungen bestellt worden waren.[91] Den moralischen sowie kriminologischen Zusammenbruch der Anklage markierte das Verhör des Berliner Detektivs Leopold Friedrich Wilhelm Freiherr von Meerscheidt-Hüllesem durch die Verteidigung, bei dem es Julius Bachem weitgehend gelang, den Detektiv zu diskreditieren. Zu Sprache kamen unter anderem sein erster Bericht über Marpingen, in dem der Detektiv die Marpinger Bürger als „franzosenfreundlich“ bezeichnete, seine Empfehlungen, zwei der minderjährigen Seherinnen in eine Irrenanstalt einzuliefern und sein mehrfaches Drängen, Pfarrer Neureuter zu verhaften. Zur Sprache kam auch, dass der Detektiv Margaretha Kunz, einer der drei minderjährigen Seherinnen, fünf Mark angeboten hatte. Der Detektiv wollte sich erst nach Verlesen der entsprechenden Stelle einer früheren Aussage an diesen Vorfall erinnern und ließ die Frage der Verteidigung, ob Margaretha Kunz das Geld tatsächlich angenommen oder ihm nicht vielmehr das Geld vor die Füße geworfen habe, unbeantwortet. Sie wurde auch nicht mehr durch ein weiteres Kreuzverhör aufgeklärt, da der Detektiv von seiner Berliner Behörde zurückberufen wurde. Die zwei Bedürftigen, an die damals die fünf Mark weiter geschenkt worden waren, mussten gleichfalls nicht mehr in den Zeugenstand, weil das Gericht der Argumentation der Verteidigung folgte. Der vorsitzende Richter referierte stattdessen zwei beim Gericht eingegangene Briefe des Berliner Detektivs, in denen dieser mehrere Punkte früherer Aussagen korrigierte. Darin hielt Meerscheidt-Hüllesem auch fest, dass sein Schluss, Margaretha Kunz habe die fünf Mark genommen, „so wohl doch nicht richtig“ sei.[92]

In seinem Schlussplädoyer forderte Oberprokurator Pattberg Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren für Magdalena Kunz, Mutter einer der Seherinnen, für Pfarrer Neureuter, für Kaplan Dicke, Dr. Thoemes und vier der erwachsenen Visionäre. Der Oberprokurator begründete dies damit, dass diese Personen die Visionärinnen noch nach ihrem Widerruf aus Motiven der persönlichen Bereicherungen und materieller Vorteile für die Pfarrkirche in ihren Lügen ermutigt hätten. Julius Bachem dagegen beantragte Freispruch für alle. Das Gericht vertagte sich für drei Wochen, am 5. April 1879 verkündeten die Richter den Freispruch für alle Beschuldigten. Die Kosten des Verfahrens hatte der Staat zu tragen.[93]

Die katholische Presse feierte die Freisprüche und hinterfragte, ob nicht schon die Voruntersuchungen eindeutig gezeigt hätten, dass es an faktischen Beweisen für den Betrugsvorwurf gefehlt habe. Ein kritischer Kommentator schätzte die Kosten für Voruntersuchung und Prozess auf mehr als 100.000 Mark. Bereits am 9. April 1879 wurden fast alle in Marpingen stationierten Gendarme abgezogen. Die letzten zwei Gendarme wurden im November 1879 an einen anderen Einsatzort versetzt. Im Mai 1879 wurde der freigesprochene Gemeindeförster Altmeyer, der vom Dienst suspendiert worden war, unter voller Rückerstattung seiner Bezüge wieder in sein Amt eingesetzt. 1880 vermeldete das preußische Militärwochenblatt, dass mehrere Offiziere des 4. Rheinischen Infanterieregimentes in Saarlouis, zu dem die 1876 in Marpingen stationierte Kompanie gehörte, am 2. März 1880 mit Pension zur Disposition gestellt wurden. Dazu zählten neben dem Oberst von Schön, dem Kommandanten des 4. Rheinischen Infanterieregiments auch Hauptmann Fragstein-Riemsdorff.[94]

Die Reaktion der römisch-katholischen Kirche

Johann Theodor Laurent

Das Konzil von Trient hatte bereits im 16. Jahrhundert festgelegt, dass einer privaten Offenbarung eine kanonische Untersuchung zu folgen habe. Im Falle der Marpinger Marienerscheinungen verzögerte sich die Einleitung einer offiziellen kirchlichen Untersuchung, weil in Folge des Kulturkampfes die Führung der Diözese in den Untergrund getrieben worden war. In Ermangelung eines Bischofs oder eines Generalvikars wurde die Diözese durch drei apostolische Geheimdelegate geleitet, deren Kraft aber von den durch den Kulturkampf aufgeworfenen Problemen weitgehend gebunden war. Ein positives Urteil der Kirche über die Marpinger Marienerscheinung hätte in den 1870er Jahren die politischen Spannungen zwischen der Diözese und der Regierung der Rheinprovinz verschärft.[95]

Der erste Schritt in Richtung einer kanonischen Untersuchung war die Aufnahme der drei Mädchen in dem Echternacher Kloster der Schwestern vom armen Kinde Jesus im Mai 1878. Diese erst 1844 von Clara Fey gegründete Kongregation widmete sich vor allem der Betreuung weiblicher Jugendlicher. Da es auf Grund der Vertreibung der geistlichen Orden in der Diözese Trier keine Frauenkloster mehr gab, war die Unterbringung in diesem nahegelegenen luxemburgischen Kloster eine pragmatische Lösung. Johannes Theodor Laurent, der Direktor des Ordens und Titularbischof von Chersones, war ein angesehener Mariologe, der als Titularbischof von Rom mit verschiedenen heiklen Missionen betraut worden war und Deutsch als Muttersprache beherrschte.[96] Laurent, der im Mutterhaus der Schwestern vom armen Kinde Jesus im niederländischen Simpelveld lebte, konnte keine kanonischen Untersuchungen durchführen, weil ihm nicht alle Unterlagen vorlagen. Er befasste sich stattdessen allein mit einer 49-seitigen Aussage der Mädchen, die im November 1878 durch eine von Pfarrer Neureuter beauftragte Ordensfrau protokolliert worden war und untersuchte diese auf ihre innere Schlüssigkeit.

Johannes Theodor Laurent kam in seiner im Mai 1880 verfassten Stellungnahme zu dem Schluss, dass die von den Kindern beschriebenen Erscheinungen der Mutter Gottes unwürdig seien. Dazu zählte das „gespensterartige Nachziehen“ hinter den Kindern her, ihr Erscheinen in Küchen und Scheunen, nachdem der Härtelwald gesperrt worden war, und ihre häufigen Kostümwechsel. In den von der Erscheinung benutzten Worten sah er bloß eine Nachäffung der Marienerscheinungen von Lourdes, einige der Unterhaltungen nannte Laurent „unanständig und unverständig“ und andere drehten sich seiner Ansicht nach um banale Nichtigkeiten. Laurent vermisste bei den Mädchen auch eine Ergriffenheit und Durchdrungenheit von ihrem besonderen religiösen Erlebnis. Die berichteten Heilungen waren aus seiner Sicht nicht angemessen untersucht und die vermeintlichen Heilmethoden, wie beispielsweise das von den Kindern angeleitete Berühren des unsichtbaren Fußes der Jungfrau Maria fand er fragwürdig.[97] Deutlicher wurde Johannes Theodor Laurent in Bezug auf Aspekte der Erscheinungen, die auf Episoden der Evangelien anspielten:[98]

„Wen dies frevelhafte Spielen mit den höchsten Geheimnissen der Religion nicht überzeugt, daß die ganze Erscheinung mit allem was daran hängt, nichts als eine höllische Gaukelei war, der muß um alles Christliche Gefühl und Verständnis gekommen sein.“

Der zentrale Ansatzpunkt für das vernichtende Urteil Laurents war das von den Mädchen berichtete Erscheinen des Teufels in Begleitung der Mutter Gottes, das bereits allen Geistlichen, die sich für die Marpinger Erscheinungen interessiert hatten, Kopfzerbrechen bereitet hatte. Für Laurents war es das Indiz für den „diabolischen Charakter und Ursprung“ der Erscheinungen.[98]

Zum Zeitpunkt der Stellungnahme Laurents gab es in Trier nach wie vor keinen Bischof, der eine vollständige Aufarbeitung der Marpinger Erscheinungen veranlassen konnte oder die Katholiken seiner Diözese über einen Hirtenbrief auf die Zweifelhaftigkeit der Erscheinung hinweisen konnte. In Trier entschied man sich, die Stellungnahme unter Verschluss zu halten und ließ die drei Visionärinnen weiterhin in klösterlicher Abgeschiedenheit leben. Das änderte sich auch nicht als im September 1881 Michael Felix Korum zum neuen Bischof von Trier ernannt wurde. Er widmete sich vor allem dem Wiederaufbau der Diözese Trier. Nach Ansicht von David Blackbourn verzichtete Bischof Korum auf die Veröffentlichung des vernichtenden Materials zu den Marpinger Marienerscheinungen aus Rücksichtnahme gegenüber den betroffenen Familien, aus Scheu vor der peinlichen Lage, in die sich die Kirche durch Veröffentlichung gebracht hätte und weil eine Veröffentlichung dem Wiederaufbau der Diözese vermutlich erheblich geschadet hätte. Im Bistum Regensburg waren fast gleichzeitig zu dem Marpinger Fall Marienerscheinungen berichtet worden, die vom Regensburger Bistum als nicht glaubwürdig verurteilt worden waren. Danach war das Bistum, das von den Folgen des Kulturkampfes erheblich weniger betroffen war, zehn Jahre lang damit beschäftigt, seinem Urteil Geltung zu verschaffen.[99]

Die drei Seherinnen

Keine der drei ursprünglichen Seherinnen erreichte ein hohes Lebensalter. Susanna Leist, die noch während ihres Krankenhausaufenthaltes erkrankte, wurde nach Marpingen zurückgebracht und starb dort im Jahre 1882 im Alter von 14 Jahren.[100] Katharina Hubertus blieb im Orden der Schwestern vom armen Kinde Jesus, wechselte aber in das Mutterhaus dieses Ordens im niederländischen Simpelveld. Dort lebte auch ihre ältere Schwester, die mit Ablegen des Ordensgelübde den Namen Irenäa angenommen hätte. Katharina Hubertus legte ihr Gelübde im Juni 1897 ab und starb als Schwester Hugolina am 24. Dezember 1904 in Aachen.[101]

Bischof Dr. Michael Felix Korum, Trier

Margaretha Kunz, die jüngste der drei Seherinnen, lebte bis 1885 im Kloster in Echternach. Sie verließ es, um als Hausmädchen bei einem Pfarrer in Münster zu leben, wo eine ihrer älteren Schwestern als Novizin bei den Clemensschwestern lebte. In Münster gestand Margaretha Kunz erstmals bei der Osterbeichte 1887 gegenüber einem Priester, dass sie über die Erscheinung gelogen habe. Nachdem sie sich einige Monate später auch der Haushälterin des Pfarrers, für den sie arbeitete, anvertraute, erfuhrt Pfarrer Jakob Neureuter von ihrem Geständnis, auf dessen ausdrücklichen Wunsch Margaretha Kunz im Februar 1888 in das Kloster ST. Joseph im heutigen Toruń ging, wo sie gleichfalls unter dem Namen Maria Althof als Dienstmädchen arbeitete. Dort verfasste sie im Januar 1889 ein umfassendes handschriftliches Geständnis, das mit den Worten beginnt:[102]

„Ich bin eines der drei Kinder, die vor beinahe dreizehn Jahren in Marpingen das Gerücht ausstreuten die Mutter Gottes gesehen zu haben und muß leider das tief demütigende Geständnis machen, dass alles ohne Ausnahme eine einzige grosse Lüge war“

Das Geständnis, in dem Margaretha Kunz auch von ihrer Beichte in Münster berichtet, wurde von einer der Schwestern des Klosters bestätigt und an Bischof Korum in Thrier weitergeleitet. Margaretha Kunz trat nach ihrem Geständnis als Novizin unter dem Namen Maria Stanislaus in den Klarissenorden ein. Gesichert ist, dass Bischof Korum Margaretha Kunz und Katharina Hubertus nach Trier kommen ließ. Bischof Korum entschied sich aber auch danach nicht, diese gemeinsam mit den Untersuchungen von Bischof Laurent an die Öffentlichkeit zu bringen. Auch eine weitere Untersuchung fand offenbar nicht statt. Lediglich aus späteren Niederschriften gibt es Hinweise auf ein 1905 stattgefundenen Gespräch zwischen Bischof Korum und Pfarrer Neureuters Nachfolgern, indem Bischof Korum den Pfarrer informierten, dass beide Ordensschwestern mittlerweile zu dem Schluss gekommen seien, damals einer Täuschung erlegen zu sein.[103] Über den weiteren Lebensweg von Margaretha Kunz sind nur Bruchstücke bekannt, die aber darauf hinweisen, dass sie das ihr auferlegte Stillschweigen über die Erscheinungen einhielt und sie gegenüber anderen Schwestern ihren Glauben an die Echtheit der Erscheinungen bekräftigte. Das ist vermutlich auch der Grund gewesen, dass sie aus dem Klarissenorden wieder ausschied. Sie fand – vermutlich durch Vermittlung von Pfarrer Neureuter – Aufnahme bei den Schwestern von der göttlichen Vorsehung, dem sie als Schwester Olympia 15 Jahre lang angehörte. Sie starb im September 1905 in der Niederlassung dieses Ordens im niederländischen Steyl.[104]

Die Marpinger Marienverehrungsstätte

Mit dem Ende des Kulturkampfes entspannte sich das Verhältnis zwischen dem Deutschen Kaiserreich und der römisch-katholischen Kirche zunehmend. Der Trierer Bischof Korum pries 1891 auf einer Firmungsreise im Dekanat Saarlouis Papst und Kaiser als die „wahren Führer der Arbeiter“.[105] Die Marienerscheinungen in Marpingen hatten zu dem Zeitpunkt ihre politische Brisanz längst verloren, blieben als religiöses Ereignis jedoch in Erinnerung. 1932 gründete sich in Marpingen ein Kapellenverein, der mit Hilfe von Darlehen und spenden sowie unentgeltlicher Arbeitsleistungen daran ging, die von der Marpinger Bevölkerung gewünschte Kapelle am Erscheinungsort doch noch zu errichten. Maßgeblich vorangetrieben wurde dies vom Marpinger Bauunternehmer Heinrich Recktenwald, der damit ein Gelübde erfüllte, das er während des Ersten Weltkrieges abgelegt hatte.[106] 1934 veröffentliche Friedrich Ritter von Lama ein Buch mit dem Titel „Die Muttergottes-Erscheinungen in Marpingen“, deren mangelnde Anerkennung er ein „Opfer des Kulturkampfes“ nannte. Das weit verbreitete Buch wurde mehrfach wieder aufgelegt.[107] In den 1950er Jahre wurde an der Quelle im Härtelwald ein Auffangbecken angelegt und in den 1970er Jahren der steile Anstieg zur Quelle zu einem Kreuzweg mit Stationsbildern ausgebaut. Der Kapellenverein pflegte diese Anlage und unterhielt zeitweilig ein Pilgerheim für auswärtige Besucher. Die Pilger kamen nicht nur aus der näheren Umgebung, sondern auch aus Frankreich, Schweiz, Österreich, England, USA und Kanada.[108]

Literatur

  • David Blackbourn: Marpingen – Das deutsche Lourdes in der Bismarckzeit; Historische Beiträge des Landesarchivs Saarbrücken, Band 6; Saarbrücken 2007; ISBN 978-3-9808556-8-6
  • Michael B. Gross: The War against Catholicism – Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth-Century Germany; The University of Michigan Press, Ann Arbor 2007; ISBN 0-472-11383-6
  • Gabriele Oberhauser: Wallfahrten und Kultstätten im Saarland - Von der Quellenverehrung zur Marienerscheinung. Saarbrücker Druckerei und Verlag, Saarbrücken 1992, ISBN 3-925036-67-9
  • Martin Persch und Bernhard Schneider (Hrsg): Auf dem Weg in die Moderne - Geschichte des Bistums Trier, Band 4, Paulinus Verlag, Trier 2002, ISBN 3-7902-0274-6

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Blackbourn, S. 32
  2. Blackbourn, S. 33
  3. Blackbourn, S. 62f.
  4. Oberhauser, S. 165
  5. Gross, S. 30–32, 35f.
  6. Gross, S. 36f.
  7. Gross, S. 57
  8. Gross, S. 32
  9. Gross, S. 35
  10. Gross, S. 39
  11. Gross, S. 100–102
  12. Gross, S. 68f.
  13. Gross, S. 87–89
  14. Gross, S. 131
  15. Blackbourne, S. 83, 93
  16. Hugh McLoad: Secularisation in Western Europe, 1848–1914; European Studies Series; New York 2000; ISBN 0-312-23511-9; S. 210
  17. Oberhauser, S. 168
  18. Blackbourn, S. 128
  19. Blackbourn, S. 129
  20. Blackbourn, S. 133
  21. Blackbourn, S. 138
  22. Blackbourn, S. 139
  23. Blackbourn, S. 140
  24. Blackbourn, S. 141–143
  25. Blackbourn, S. 147
  26. Oberhauser, S. 166
  27. Blackbourn, S. 153
  28. Blackbourn, S. 165
  29. Blackbourn, S. 166f.
  30. Blackbourn, S. 167
  31. Blackbourn, S. 174–179
  32. Blackbourn, S. 154
  33. Blackbourn, S. 150–153
  34. Blackbourn, S. 152
  35. Blackbourn, S. 155
  36. Blackbourn, S. 156
  37. Blackbourn, S. 180–182
  38. Hugh McLoad: Secularisation in Western Europe, 1848–1914; European Studies Series; New York 2000; ISBN 0-312-23511-9; S. 126 4.
  39. a b Blackbourn, S. 188
  40. Blackbourn, S. 189f.
  41. Blackbourn, S. 189
  42. Hugh McLoad: Secularisation in Western Europe, 18480–1914; European Studies Series, New York 2000; ISBN 0-312-23511-9; S. 99
  43. Blackbourn, S. 193, 198
  44. Blackbourn, S. 239
  45. Blackbourn, S. 235f.
  46. Blackbourn, S. 241
  47. Blackbourn, S. 238
  48. Blackbourn, S. 257
  49. Blackbourn, S. 265
  50. Blackbourn, S. 244
  51. Blackbourn, S. 248–249
  52. Blackbourn, S. 182
  53. Blackbourn, S. 183f.
  54. a b Blackbourn, S. 185
  55. Gross, S. 228–230
  56. Blackbourn, S. 330f.
  57. Gross, S. 229
  58. Blackbourn, S. 245
  59. Blackbourn, S. 247
  60. Blackbourn, S. 298f., 304
  61. Blackbourn, S. 309
  62. Oberhauser, S. 166–167
  63. Blackbourn, S. 271f.
  64. Blackbourn, S. 272
  65. Blackbourn, S. 272f.
  66. Blackbourn, S. 310
  67. Blackbourn, S. 274
  68. Blackbourn, S. 276
  69. Blackbourn, S. 285
  70. Öffentliche Bekanntmachung vom 15. Juli 1876, zitiert nach David Blackbourn, S. 277
  71. Blackbourn, S. 277f.
  72. Blackbourn, S. 278
  73. Oberhauser, S. 167
  74. Blackbourn, S. 278f.
  75. Blackbourn, S. 281f.
  76. Blackbourn, S. 292f.
  77. Oberhauser, S. 167
  78. Blackbourn, S. 283–285
  79. Blackbourn, S. 287f., 290
  80. Blackbourn, S. 320–322
  81. Blackbourn, S. 323–327
  82. Blackbourn, S. 355
  83. Blackbourn, S. 317
  84. Blackbourn, S. 356 und S. 358
  85. Blackbourn, S. 361
  86. Blackbourn, S. 363–368
  87. Blackbourn, S. 374f.
  88. Blackbourn, S. 377
  89. Blackbourn, S. 378
  90. Zitat aus Blackbourn, S. 381. Zur Zahl der Zeugen siehe S. 387f.
  91. Blackbourn, S. 388
  92. Blackbourn, S. 391
  93. Blackbourn, S. 391–393
  94. Blackbourn, S. 393
  95. Blackbourn, S. 395, 400
  96. Blackbourn, S. 404
  97. Blackbourn, S. 406–408
  98. a b Blackbourn, S. 409
  99. Blackbourn, S. 411–419
  100. Blackbourn, S. 411
  101. Blackbourn, S. 412
  102. zitiert nach Blackbourn, S. 113
  103. Blackbourn, S. 413–416
  104. Blackbourn, S. 412, 417 f.
  105. Oberhauser, S. 168
  106. Oberhauser, S. 169
  107. Oberhauser, S. 169
  108. Oberhauser, S. 170

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