Carpe diem

Carpe diem
Carpe diem auf einer Sonnenuhr

Carpe diem (deutsch: „Ernte/Genieße/Nutze den Tag“) ist eine lateinische Redewendung, die aus einer Ode des römischen Dichters Horaz (* 65 v. Chr.; † 8 v. Chr.) stammt.[1] Sie ist im Kontext des Gedichtes eine Aufforderung, die knappe Lebenszeit heute zu nutzen und nicht auf den nächsten Tag zu vertrauen. Die Intention ist epikureisch und nicht, wie oft oberflächlich falsch verstanden, hedonistisch gemeint.

Inhaltsverzeichnis

Autor, Quelle und Parodie

Horaz (eigentlich: Quintus Horatius Flaccus) schrieb vier Lyrikbücher, die „Carmina“, die insgesamt 104 Gedichte enthalten. Die ersten drei verfasste er um 23 v. Chr. und das vierte um 13 v. Chr. Themen sind vor allem Liebe und Politik, aber auch Freundschaft, Alltäglichkeiten des Lebens und Fragen aus der Philosophie. Im Unterschied zu seinen griechischen Vorgängern war Horaz nur Dichter und nicht Musiker. Deshalb waren seine „Oden“ nicht vertont. Horaz liebte es, in einem Gedicht die verschiedensten Themen zusammenzufügen. Oft verwendete er verhaltene, hintergründige Aussagen. Mittel dazu waren treffende Bilder, Aussparungen, Offenlassungen und leise Untertöne. Viele seiner Gedichte beginnen wuchtig und klingen leicht und heiter aus.

Carmen I,11

(Siehe Wikisource)[2]

Tu ne quaesieris (scire nefas) quem mihi, quem tibi
finem di dederint, Leuconoe, nec Babylonios
temptaris numeros. Ut melius quicquid erit pati!
Seu pluris hiemes seu tribuit Iuppiter ultimam,

quae nunc oppositis debilitat pumicibus mare
Tyrrhenum, sapias, vina liques et spatio brevi
spem longam reseces. Dum loquimur, fugerit invida
aetas: carpe diem, quam minimum credula postero.

Eine Übersetzung

Frag nicht (denn es wissen ist Frevel), welches Ende die Götter mir, welches sie dir,
Leukonoe, zugedacht haben, und versuche dich nicht an babylonischer Astrologie!
Wie viel besser doch, was immer sein wird, zu ertragen!
Ob Jupiter noch mehr der Winter uns zugeteilt hat oder den letzten,

der jetzt an entgegenstehenden Klippen das Tyrrhenische Meer bricht
– lebe mit Verstand, kläre den Wein und beschränke ferne Hoffnung auf kurze Dauer!
Noch während wir reden, wird die missgünstige Zeit schon
entflohen sein: Genieße den Tag, möglichst wenig vertrauend auf den folgenden!

Das Metrum (Versmaß) der Ode ist der in der lateinischen Lyrik relativ seltene asclepiadeus maior (Großer Asclepiadeus), der wie folgt aufgebaut ist:
x x | — v v — | — v v — | — v v — | v x
Beispiel:

spēm lōngām rĕsĕcēs. Dūm lŏquĭmūr, fūgĕrĭt īnvĭda
aētās: cārpĕ dĭēm, quām mĭnĭmūm crēdŭlă pōstĕrō.

Christian Morgenstern parodierte das berühmte Lied des Horaz 1896 als „Studentenscherz“. Er griff dabei nicht nur den Inhalt des Vorbildes auf, sondern ahmte auch das Metrum nach.[3]

Horatius travestitus I, 11

Laß das Fragen doch sein! Sorg dich doch nicht über den Tag hinaus!
Martha! Geh nicht mehr hin, bitte, zu der dummen Zigeunerin!
Nimm dein Los, wie es fällt! Lieber Gott, ob dies Jahr das letzte ist,
das beisammen uns sieht, oder ob wir alt wie Methusalem
werden: sieh’s doch nur ein: das, lieber Schatz, steht nicht in unsrer Macht.
Amüsier dich, und laß Wein und Konfekt schmecken dir wie bisher!
Seufzen macht mich nervös. Nun aber Schluß! All das ist Zeitverlust!
Küssen Sie mich, mon amie! Heute ist heut! Après nous le déluge!

Barock

Kirchturm in Saara mit dem Text „Nütze die Zeit“ auf dem Zifferblatt

Der Begriff wurde im Barock ein Schlüsselzitat. Durch die Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges geprägt, bildete sich im 17. Jahrhundert ein starkes Vergänglichkeitsgefühl (Vanitas, Alles ist eitel oder Memento mori, Bedenke, dass du sterben musst). Aus der so empfundenen Sinnlosigkeit allen Tuns bildete sich im Gegensatz dazu das Gefühl, das „Hier und Jetzt“ nutzen zu müssen und Vergnügungen zuzulassen: das carpe diem („Denke nicht an die Ewigkeit (das ist eitel), sondern nutze die Zeit, die dir bleibt, für dein Vergnügen!“) Die Verspieltheit und Sinnlichkeit der Kunstepoche des Barock wird zentral auf dieses Motiv zurückgeführt. Exemplarisch für das Motiv des carpe diem im Barock ist ein Gedicht von Martin Opitz von 1624:[4]

Carpe diem

Ich empfinde fast ein Grauen,
dass ich, Plato, für und für
bin gesessen über dir.
Es ist Zeit hinaus zuschauen
und sich bei den frischen Quellen
in dem Grünen zu ergehn,
wo die schönen Blumen stehn
und die Fischer Netze stellen!

Wozu dient das Studieren
als zu lauter Ungemach!
Unterdessen läuft die Bach
unsers Lebens, das wir führen,
ehe wir es inne werden,
auf unser letztes Ende hin:
dann kömmt ohne Geist und Sinn
alles in die Erden.

Holla, Junger, geh und frage,
wo der beste Trunk mag sein,
nimm den Krug und fülle Wein!
Alles Trauern, Leid und Klage,
wie wir Menschen täglich haben,
eh uns Clotho* fortgerafft,
will ich in den süßen Saft,
den die Traube gibt, vergraben.

Kaufe gleichfalls auch Melonen
und vergiss des Zuckers nicht,
schaue nur, dass nichts gebricht!
Jener mag der Heller schonen,
der bei seinem Gold und Schätzen
tolle sich zu kränken pflegt
und nicht satt zu Bette legt;
ich will, weil ich kann mich letzten!

Bitte meine guten Brüder
auf die Musik und auf ein Glas!
Kein Ding schickt mich, dünkt mich, bass
als gut Trank und gute Lieder.
Lass ich gleich nicht viel zu erben,
ei, so hab ich edlen Wein!
Will mit andren lustig sein,
muss ich gleich alleine sterben.

(* gemeint ist die Moire Klotho)

Variationen

  • Die von Horaz' Gedicht vermittelte Haltung, den Augenblick zu genießen und das Leben von der positiven Seite zu nehmen, ist auch zu anderen Zeiten zu finden, so im antiken Ägypten. In der Geschichte des Lebensmüden steht in der 68. Zeile: Schemes heru nefer s:mech mech (keine ägyptologische Umschrift, sondern ägyptologische Aussprache), dt. Folge den schönen Tagen und vergiss die Sorgen!
  • Hierher gehören auch die zahlreichen Variationen, die sich um die verwandten Motti des Memento mori und des dem griechischen Arzt Hippokrates zugeschriebenen und von Seneca überlieferten Vita brevis, ars longa ranken.
  • Das populäre, auf mittelalterliche Ursprünge zurückgehende Studentenlied Gaudeamus igitur variiert ebenfalls dasselbe Thema.
  • Mehrere Sonette von William Shakespeare thematisieren das Carpe diem, darunter auch einige seiner bekannten Procreation Sonnets.
  • Berühmt wurde das Gedicht des englischen Barockdichters To His Coy Mistress von Andrew Marvell (1621-1678), mit dem der Liebhaber seine spröde Schöne angesichts der Kurzlebigkeit ihrer Jugend zum (sexuellen) Genuss verführen will.
  • Dasselbe Ziel verfolgt Robert Herricks To the Virgins, to Make Much of Time, in dem die jungen Damen daran erinnert werden, wie vergänglich ihre Schönheit ist.
  • Auch in vielen europäischen Sprichwörtern findet sich diese Lebenseinstellung.

Trivia

Siehe auch

Wiktionary Wiktionary: carpe diem – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
 Commons: Carpe diem – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Die Sentenz „Carpe diem!“ stammt aus der Schlusszeile des um 23 v. Chr. entstandenen Carmen 1,11.
  2.  : Quintus Horatius Flaccus - Carmina: Carmen 1,11
  3. siehe Christian-Morgenstern-Archiv, Übersetzung bei 12koerbe.de
  4. siehe Wikisource: Martin Opitz - Gedichte: Carpe Diem

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