Geschichte der Juden in Litauen

Geschichte der Juden in Litauen

Die Geschichte der Juden in Litauen geht ins frühe Mittelalter zurück. Die ersten Juden waren wahrscheinlich von Südosten ins Gebiet des späteren Großfürstentums Litauen eingewandert.[1] In bedeutend größerer Zahl wanderten aschkenasische Juden ab dem 12. Jahrhundert in Folge der Judenverfolgungen während der Zeit der Kreuzzüge und der großen Pest sowie zahlreicher lokaler Massaker und Vertreibungen aus deutschsprachigen Gebieten ostwärts zuerst in die slawischen und dann auch in die baltischen Länder. Die zumeist religiös toleranten polnischen und litauischen Herrscher förderten die Ansiedlung jüdischer Einwanderer, deren Kenntnisse und Kontakte für die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Länder von großem Nutzen war. Im Laufe der Neuzeit wuchs die Zahl der jüdischen Bevölkerung und der jüdischen Gemeinden, denen eine weitgehende Autonomie in inneren Angelegenheiten zugestanden wurde, und allmählich entwickelte sich das Großfürstentum Litauen im 17. und 18. Jahrhundert zu einem der Zentren des Ostjudentums mit Wilna, das als „Jerusalem Litauens“ oder „Jerusalem des Nordens“ bezeichnet wurde, als seinem Mittelpunkt.

Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges lebten mehr als eine Million Juden auf dem Gebiet des historischen Litauen, verteilt auf sechs Staaten: Lettische SSR: 94.000, Litauische SSR: 147.000, Polen: 505.000, Russische SFSR: 4.000, Weißrussische SSR: 375.000, Ukrainische SSR: 32.000. Mehr als 90% von ihnen wurden während der deutschen Besatzung 1941-1945 von Deutschen und ihren lokalen Helfern ermordet.[2]

Die hölzerne Synagoge in Wolpa bei Grodno. Erbaut 1643, niedergebrannt 1942

Inhaltsverzeichnis

Lituania

Die Existenz von Juden in Litauen ist für das Jahr 997 bezeugt.[3] In Eishyshok, litauisch Eišiškės, einer kleinen Stadt südlich von Wilna wurden jüdische Grabsteine gefunden, die bis ins späte 11. Jahrhundert zurückgehen.[4] Der Historiker Abraham Harkabi vertrat die Auffassung, dass Juden aus Babylonien und anderen Gebieten des Vorderen Orients im 9. und 10. Jahrhundert nach Litauen eingewandert sind. Weniger spekulativ ist die Annahme, dass Juden sich nach dem Untergang des Chasarenreiches ab dem 10. Jahrhundert in den befestigten Städten Litauens als internationale Händler niederliessen, insbesondere in Grodno, Kowno, Minsk und Pinsk. Sie standen als servi camarae regis unter dem Schutz der Fürsten.[5] Simon Dubnow nimmt an, dass Juden bereits in Folge des ersten Kreuzzuges Ende des 11. Jahrhunderts aus deutschsprachigen Gebieten nach Litauen eingewandert sind.[3]

Großfürstentum Litauen

Aufstieg zur Großmacht

Großfürstentum Litauen und Königreich Polen, 15. J.h.
Gelb: Großfürstentum Litauen

Der Legende nach soll bereits Großfürst Gediminas den Juden Litauens kurz nach 1320, zur Zeit der Gründung der Stadt Wilna, ein Privileg erteilt haben. Die ältesten belegten Privilegien sind die des Großfürsten Vytautas von 1388 für die Juden von Brest-Litowsk und Trakai, der vormaligen Hauptstadt Litauens, die sich an ältere polnische Vorbilder halten.[6] Im Jahr danach erteilte Vytautas den Juden von Grodno ein außergewöhnlich umfassendes Privileg, das Eigentum, Freizügigkeit und freie Religionsausübung garantierte. Aus dem Privileg geht hervor, dass die Juden seit längerem in der Stadt gelebt hatten, Land besaßen und in zahlreichen Wirtschaftszweigen tätig waren, dass sie als Handwerker und Händler die gleichen Rechte wie die Christen hatten und eine Synagoge und einen eigenen Friedhof besaßen. Die Juden bildeten im Großfürstentum Litauen, im Unterschied zu Polen, demnach bereits zu diesem Zeitpunkt einen „dritten Stand“, der wirtschaftlich den christlichen Städtebewohnern gleichgestellt war.[7] Unter Großfürst Vytautas wurden auch von der Halbinsel Krim stammende Karäer in Trakai angesiedelt. Die Zahl der Juden im damaligen Großfürstentum wird auf 6000 geschätzt.[8]

Im 14. und 15. Jahrhundert wuchsen der Wohlstand und Einfluss der jüdischen Gemeinden. Es entstand eine wohlhabende russifizierte jüdische Schicht von Händlern, Grossgrundbesitzern und Steuereintreibern, die Mehrheit der Juden lebte dagegen in ärmlichen Verhältnissen. 1495 wurden die Juden überraschenderweise von Großfürst Alexander aus Litauen ausgewiesen. Die litauischen Juden ließen sich im benachbarten Polen nieder und durften, nachdem Alexander nach dem Tod seines Bruders die polnische Krone geerbt hatte, 1503 nach Litauen zurückkehren. Auch die Haltung seiner Nachfolger Sigismund I. und Sigismund II. August gegenüber den Juden war oft widersprüchlich. Im Jahr 1528 wurde den Juden, auf Drängen der städtischen Burger, die Niederlassung und der Handel in Wilna und danach auch in Kaunas von Großfürst Sigismund verboten, der aber gleichzeitig Juden als Steuereinnehmer für beide Städte ernannte und die Privilegien der Juden im Statut von 1529 bestätigte. Im Statut von 1566 wurde Jüdinnen und Juden jedoch das Tragen einer gelben Kopfbedeckung zur Unterscheidung von der christlichen Bevölkerung vorgeschrieben.

Adelsrepublik der polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen

Adelsrepublik der polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen.
Gelb: Großfürstentum Litauen

Durch die von Sigismund II. August geschaffene Lubliner Union vom 12. August 1569 wurde die im 14. Jahrhundert entstandene Personalunion von Litauen und Polen in eine Realunion umgewandelt. Wolhynien, Podolien und die Ukraine wurden von Litauen abgetrennt und wurden polnisch. Das als Großfürstentum Litauen als Teil der Union verbleibende Gebiet, in dem damals 10.000 bis 25.000 Juden gelebt haben dürften, stimmt mit dem in der jüdische Kulturgeschichte als „Litauen“ bezeichneten Gebiet weitgehend überein.[9]

Lite

Es wird jiddisch Lite (ליטא, auch ליטע oder ליטה), hebräisch Lita, in der aschkenasischen Aussprache Lito, genannt und umfasst das heutige Litauen, Lettland, Weißrussland, Teile des Nordosten Polens, die nördliche und östliche Ukraine und reicht bis nach Russland hinein. Der älteste Beleg für die Bezeichnung Lite findet sich in den Responsen von Israel Isserlein aus Regensburg aus dem 15. Jahrhundert,[10] der Name dürfte jedoch einiges älter sein. Der westliche Teil Litauens wird jiddisch häufig Samet (זאַמעט) (Žemaitija), der östliche Reisen (רייסן) (Reussen) genannt. Die förmliche jüdische Bezeichnung für das Großfürstentum Litauen lautete dagegen hebräisch medinas Lito (מְדִינַת לִיטָא) (Staat Litauen) oder häufiger medinois Lito (Staaten Litauens).

Litwak

Die jiddische Bezeichnung für einen Juden aus Litauen ist Litwak (ליטוואק), plural Litwakes, weiblich Litwitschke, plural Litwitschkes. Der Ausdruck – ursprünglich pejorativ – ist erst im 19. Jahrhundert belegt. Das Adjektiv litwisch bezeichnet insbesondere das litauische Jiddisch, Litwischer, weiblich Litwische, plural Litwische, dürfte früher jedoch auch die übliche jiddische Bezeichnung für die litauischen Juden gewesen sein. Nicht-jüdische Litauer werden jiddisch dagegen als Litwiner oder Litwin, weiblich Litwinerin oder Litwinerke bezeichnet.[11]

Litwisch

Zwei Juden beim Studium eines Folianten in Pinsk; Fotografie von Alter Kacyzne, erschienen am 19. Oktober 1924 im Forverts, New York

Aschkenasische jüdische Gesellschaften waren drei- oder viersprachig. Die Kenntnis der beiden „heiligen Sprachen“ Aramäisch und Hebräisch, in denen der Tenach, der Talmud und die weiteren rabbinischen Schriften sowie die Kabbalah überliefert sind, war Männern vorbehalten. Sie wurden nicht nur gelernt und gelesen und in der Liturgie verwendet, sondern von den jüdischen Gelehrten auch geschrieben. Die allgemeine Umgangssprache der Litwakes war dagegen Jiddisch. Der litwische ostjiddische Dialekt wird in der Sprachwissenschaft als Nordostjiddisch bezeichnet. Er unterscheidet sich sowohl vom polnischen Zentralostjiddisch wie vom ukrainischen Südostjiddisch, die einander näher stehen und als südliches Ostjiddisch zusammengefasst werden. Das Nordostjiddisch hat die Vokalqualitäten der Originalsprachen, hauptsächlich Deutsch und Hebräisch, meist bewahrt, beispielsweise suchən (suchen), said (Seide) gegenüber südlichem Ostjiddisch siichən, saad, kennt aber keine Vokallängen; sun kann sowohl „Sohn“ wie „Sonne“ heißen. Zentraljiddisches oj wojnən (wohnen) und aj wajnən (weinen) fallen zu ej wejnən zusammen; du wejnst kann im Nordostjiddischen sowohl „du wohnst“ wie auch „du weinst“ bedeuten. Ein weiteres Merkmal, an dem Litwakes sofort erkannt wurden, ist der Zusammenfall der Sibilanten s und sch zu s, schabəs (Schabbat) wird zu sabəs. In der jiddischen Dialektologie wird diese Eigenheit des litauischen Jiddisch als sabəsdiker losən (sabbatliche, gehobene Sprache) bezeichnet.[12] Das litauische Jiddisch kennt, im Gegensatz zu den anderen ostjiddischen Dialekten keine sächlichen Substantive und unterscheidet nicht zwischen Dativ und Akkusativ.[13]

Die jüdischen Gemeinden

Die jüdischen Gemeinden, hebräisch kehillot, singular kehillah (קְהִלָּה), der größeren Städte begannen sich bereits im 14. Jahrhundert zu organisieren. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gab es im Großfürstentum Litauen fünfzehn kehillot, die ihrerseits kleinere Gemeinden in ihrer Umgebung kontrollierten. Den Gemeinden standen drei bis fünf gewählte Mitglieder vor, die sich jährlich im Amt des Parnas, des Vorstehers, ablösten. Daneben bestand die Gemeindeverwaltung, hebräisch kahal (קָּהָל), aus Richtern, Verwaltern der gemeindeeigenen Institutionen, Aufsehern, Steuereinschätzern und -eintreibern und anderen mehr. Die Gemeinden unterhielten Synagogen, Schulen, wohltätigen Einrichtungen, Bäder, Schlachthöfe und Friedhöfe.

Hof der Großen Synagoge in Wilna, vor 1930

Der Kahal wachte über die Religionsausübung, er war zuständig für alle familienrechtlichen Angelegenheiten, ihm oblag die Eintreibung der Steuern, mit denen sich die Gemeinden finanzierten. So gingen vier Prozent des Kaufpreises von Grundstücken an die Gemeinde, Fleisch wurde mit zehn bis zwanzig Prozent besteuert, und bei Bedarf wurden weitere Steuern erhoben. Über das System der Chasaka wurde die Gewerbetätigkeit kontrolliert und vor der nichtjüdischen Konkurrenz geschützt.[14] Die Interessen der Gemeinden gegenüber Behörden, Adel und König wurde von Fürsprechern, den von den Gemeinden enlöhnten Schtadlanim wahrgenommen. Die Rechtsprechung lag in den Händen der Rabbiner, die in der Regel für eine bestimmte Zeitspanne gewählt wurden. In einzelnen Fällen konnte das Amt eines Gemeinderabbiners jedoch auch käuflich erworben werden.[15]

Der Rat des Landes

Den Gemeinden übergeordnet war der im 16. Jahrhundert als Vertretung der jüdischen Gemeinden der Adelsrepublik entstandene Rat der Länder, hebräisch Wa'ad ha Aratzot (וַעד הָאֲרָצוֹת). Er hatte sich aus den rabbinischen Gerichten entwickelt, die anlässlich der großen Märkte in Lublin tagten, die von vielen jüdischen Gemeindevorstehern und Händlern besucht wurden. Für Litauen sind bereits ab 1533 gewählte Vertreter belegt, die im Namen aller Juden Litauens auftraten, in den 1560er Jahren wurde das Eintreiben der Steuern zentralisiert. Die Delegierten, je drei Vertreter der Regionen (Länder) Brest-Litowsk mit rund 30 Untergemeinden, Pinsk mit 8 und Grodno mit 7 Untergemeinden und drei Rabbiner versammelten sich jeweils alle drei Jahre in Brest-Litowsk. 1623 spalteten sich die drei litauischen Gemeinden vom Rat der Länder ab und gründeten den Rat des Großfürstentums Litauen, hebräisch Wa'ad medinas Lito (וַעד מְדִינַת לִיטָא). Wilna kam als eigene Gemeinde 1687, Slutsk als letzte 1691 hinzu. Der litauische Rat, eine oligarchische Vertretung der jüdischen Gemeinden, an deren Wahl nur eine kleine Minderheit der Juden teilnehmen konnte, tagte nach der Abspaltung bis zu seiner Auflösung 1764 gesamthaft 37 Mal, in den ersten 30 Jahren im Durchschnitt alle zwei Jahre, danach wesentlich seltener. Über die Verhandlungen und Beschlüße wurde Buch geführt. Die Bücher, hebräisch pinkas, des litauischen Rates sind vollständig erhalten und wurden vom Historiker Simon Dubnow veröffentlicht.[16] Der litauische Rat war zwar unabhängig, die Vertretung der Juden vor der zentralen Regierung der Adelsrepublik wurde jedoch vom Rat der Länder wahrgenommen. Nach außen bestand die Hauptaufgabe des Rats in der Festlegung der Steuern für die einzelnen Gemeinden, für deren Ablieferung er verantwortlich war, nach innen regelte er das zivile, religiöse und wirtschaftliche Leben der Juden Litauens, oft auch mit dem Mittel des Banns,[17] hebräisch cherem (חֵרֶם).

Entstehung der jüdischen Kultur

Die frühen jüdischen Gelehrten, die in Litauen gewirkt haben, stammten aus anderen Teilen Europas, später erlangten aus Litauen stammende Gelehrte über Litauen hinaus Bekanntheit und wurden ihrerseits in anderen Teilen Europas tätig. Als erster litauischer jüdischer Gelehrte mit überregionaler Bedeutung gilt der 1449 vermutlich im litauischen Šeduva geborene Moses ben Jakob von Kiev, auch als Moses ha-Golah, Moses der Exilierte, bekannt, der sich nach zahlreichen Wanderungen auf der Krim niederließ, wo er ums Jahr 1520 starb.[18] Salomon ben Jechiel Luria, geboren vermutlich 1510 in Brest-Litowsk, Maharschal oder Raschal genannt, war einer der frühen litauisch-jüdischen rabbinischen Autoritäten, hebräisch posek (פּוֹסֵק). Luria, der seine eigene Methode der Gesetzesinterpretation entwickelte und in seiner 1567 in Lublin gegründeten Jeschiwa lehrte, vertrat in seinen Talmudkommentaren und Responsen, die Aufschluss über die jüdische Kultur in Litauen und Polen des 16. Jahrhunderts geben, eine betont aschkenasische Haltung.[19] Joschua Hoeschel ben Josef, 1578 in Wilna geboren, war als Rabbiner in mehreren Städten in Litauen und Polen tätig, bevor er Vorsteher der Jeschiwa und Rabbiner in Krakau wurde, wo er 1648 starb. Sein bekanntester Schüler war der wahrscheinlich 1621 in Amstibovo (Mścibów, weißruss Mstibava (Мсьцібава) heute in Weissrussland) geborene und 1662 in Holleschau in Mähren verstorbene Sabbatai ben Meir ha-Kohen, Schach genannt, der unter anderem einen Kommentar zum Schulchan Aruch verfasst hat, der in den meisten Ausgaben des Schulchan Aruchs mitabgedruckt ist.[20]

Kosakenaufstand unter Chmielnicki

Die Juden Litauens waren weniger betroffen vom Aufstand der Kosaken unter Chmielnicki von 1648/49 als die Juden der Ukraine und Polens, wo Tausende von Juden auf brutale Weise umgebracht und viele von mit den Kosaken verbündeten Tartaren als Sklaven verkauft worden waren. Zahlreiche Juden flüchteten nach Litauen und der litauische Rat ließ eine Sondersteuer erheben, um der im Judentum wichtigen Verpflichtung, gefangene Juden freizukaufen, nachkommen zu können. Der Mehrheit der Juden Wilnas gelang im Jahr 1655 die Flucht, als die Stadt von den mit Chmielnicki verbündeten russischen Truppen angegriffen und weitgehend zerstört wurde. Viele von ihnen wanderten nach Westen und ließen sich in Samet nieder oder wanderten weiter nach Kurland und Preußen.

Verschuldung der Gemeinden

Als Folge des Chmielnicki-Aufstands und der auf dem Gebiet des Großfürstentums Litauen ausgetragenen Russisch-Polnischen Kriege waren die Juden und die jüdischen Gemeinden verarmt und mussten Geld aufnehmen. Ihre wichtigsten Geldgeber waren Äbte und Adlige. Im 18. Jahrhundert folgte die Insolvenz der jüdischen Gemeinden. Nach der Auflösung des Rats des Großfürstentums Litauen 1764 wurde eine Kopfsteuer für alle Juden ab dem zweiten Lebensjahr eingeführt. Gemäß der zu diesem Zweck durchgeführten Volkszählung lebten damals 157.649 Juden im Großfürstentum Litauen.[8]

Teilungen Polens

Der Tod Berek Joselewiczs, Gemälde von Henryk Pillati, 1867

Durch die Teilungen Polens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das Gebiet des ehemaligen Großfürstentums Litauen Teil Russlands. Polnisch-Livland und die weißrussischen Gebiete bis zur Düna waren bereits 1772 in der ersten Teilung von Russland annektiert worden, in der zweiten Teilung 1793 gelangte der Rest Weißrusslands und die östlichen Gebiete Litauens ans Zarenreich und mit der dritten Teilung 1795 hatte sich Russland das ehemalig Großfürstentum Litauen vollständig einverleibt.

Unter den Juden Polen-Litauens gab es eine kleine Zahl, die sich aktiv an den polnischen Reformbestrebungen unter dem letzten polnischen König Stanisław II August Poniatowski beteiligten, so der frühe jüdische Aufklärer, hebräisch maskil (מַשְׂכִּיל), Menachem Mendel Lefin (1749–1826).[21]

Nach der ersten Teilung rief die jüdische Gemeinde Wilnas die Juden zur Unterstützung der Aufständischen unter Kościuszko auf und sammelte Geld, ihr Vorsteher belieferte die polnischen Truppen mit Munition, die jüdischen Schneider lieferten gratis Uniformen.[22] Am weitesten ging der 1794 im litauischen Kretinga geborene, als polnischer Patriot verehrte Berek Joselewicz, der ein jüdisches Regiment aufstellte und im Kościuszko-Aufstand gegen die russischen Truppen befehligte und 1809 in der Schlacht bei Kock gegen Österreich fiel.[23]

Litauen als Teil Russlands

Von Ende des 18. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg blieb das ehemaligen Großfürstentums Litauen Teil des zaristischen Russlands. Es bestand aus den Provinzen Grodno, Kowno, Suwalki und Wilna, die oft als polnisch-litauisch betrachtet werden, im Gegensatz zu den weissrussisch-litauischen Provinzen Minsk, Mogilew und Witebsk. Ende des 19. Jahrhunderts lebten etwa 1.5 Millionen Juden, rund ein Achtel der Gesamtbevölkerung, in den Städten und Dörfern dieser Provinzen. In vielen Orten bildeten sie die Bevölkerungsmehrheit; es gab über 300 Orte mit mehr als 1 000 Juden, die zwölf größten zählten mehr als 20 000 Juden: Wilna, Minsk, Bialystok, Witebsk, Daugavpils, Brest-Litowsk, Kowno, Grodno, Mogilew, Pinsk, Bobruisk und Gomel.

Die litauischen Juden litten bedeutend weniger unter antijüdischen Ausschreitungen als die Juden in Polen, Bessarabien und in der Ukraine, selbst Ende des 19. und Anfangs des 20. Jahrhunderts, als überall im Zarenreichs Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung stattfanden, blieb Litauen von Pogromen weitgehend verschont. Die relative Sicherheit, in welcher die Juden Litauens lebten, hat ihre Lebensweise und Kultur, die sich von derjenigen der übrigen Juden Osteuropas unterscheidet, mitgeprägt.[24]

Bekannte Jüdinnen und Juden litauischer Herkunft

Büste des Gaon von Wilna am Ort der ehemaligen großen Synagoge in Wilna
Marc Chagall, Porträt von Jehuda Pen, ca. 1915
Jascha Heifetz, 1953
Al Jolson in blackface.
50-Jahr Jubiläum des ersten Tonfilms The Jazz Singer von 1927

Siehe auch

Literatur

  • Solomon Atamuk: Juden in Litauen. Ein geschichtlicher Überblick vom 14. bis 20. Jahrhundert. Konstanz 2000, ISBN 3-89649-200-4
  • Werner Essen: Die ländlichen Siedlungen in Litauen (mit besonderer Berücksichtigung ihrer Bevölkerungsverhältnisse). Kartenband. Leipzig 1931
  • Masha Greenbaum: The Jews of Lithuania. A history of a remarkable community, 1316-1945. Jerusalem 1995, (englisch) ISBN 965-229-132-3
  • Dovid Katz: Lithuanian Jewish culture. Vilnius 2004, (englisch) ISBN 9955-584-41-6
  • Dov Levin: The Litvaks. A short story of the Jews in Lithuania. Jerusalem 2000, (englisch) ISBN 965-308-084-9
  • Leo Rosenberg: Juden in Litauen. Berlin/München 1918
  • Nancy Schoenburg, Stuart Schoenburg: Lithuanian Jewish communities. Garland, New York & London 1991 (englisch) ISBN 0-8240-4698-6

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Herman Rosenthal: Origin of Lithuanian Jews Artikel „Lithuania“ in: Jewish Encyclopedia, Band 8, New York & London 1904, S. 119 (englisch). Abgerufen: 28. Januar 2010
  2. Dovid Katz: Lithuanian Jewish Culture. Vilnius 2004, S. 22ff. und 323 (englisch)
  3. a b Dovid Katz: Lituanian Jewish Culture. Vilnius 2004, S. 51 (englisch)
  4. Yaffa Eliach: There Once Was a World. Boston 1998 (englisch) ISBN 0-316-23252-1 online
  5. Masha Greenbaum: The Jews of Lithuania. A history of a remarkable community, 1316-1945. Jerusalem 1995, S. 2f. (englisch) ISBN 965-229-132-3
  6. Herman Rosenthal: The Charter of 1388 Artikel „Lithuania“ in: Jewish Encyclopedia, Band 8, New York & London 1904, S. 119 (englisch). Abgerufen: 28. Januar 2010
  7. Haim Ben-Sasson, Ezra Mendelsohn, Stefan Krakowski, Isaiah Trunk, Sara Neshamith, David Sfard, Moshe Avidan, Lena Stanley-Clamp: Poland. Artikel in: Encyclopaedia Judaica, Hrsg.: Michael Berenbaum und Fred Skolnik. Band 16, 2. Auflage, Macmillan Reference, Detroit USA 2007, S. 292, Gale Virtual Reference Library (englisch). Abgerufen: 9. September 2010
  8. a b Dov Levin: Lithuania. Artikel in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, 2 Bände, Yale University Press, New Haven 2008, (englisch) ISBN 978-0-300-11903-9. Abgerufen: 9. September 2010
  9. Dovid Katz: Karte aus: Projekt: An Atlas of Northeastern Yiddish. Abgerufen: 26. Januar 2010
  10. Herman Rosenthal: Lithuania Artikel „Lithuania“ in: Jewish Encyclopedia, Band 8, New York & London 1904, S. 119 (englisch). Abgerufen: 28. Januar 2010
  11. Dovid Katz: Jewish Cultural Correlates of the Grand Duchy of Lithuania, S. 198ff. (englisch). Abgerufen: 26. Januar 2010
  12. Uriel Weinreich: Sabesdiker losn in Yiddish: A problem of linguistic affinity. Slavic Word 8, S. 360-377, Dezember 1952
  13. Dovid Katz: Zur Dialektologie des Jiddischen. In: Werner Besch et. al. (Hrsg.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. W. de Gruyter, Berlin 1983, Halbband 2, S. 1018-1041 ISBN 978-3-11-009571-5 online
  14. Solomon Atamuk: Juden in Litauen. Ein geschichtlicher Überblick vom 14. bis 20. Jahrhundert. Konstanz 2000, S. 23ff. ISBN 3-89649-200-4
  15. Jacob Katz: Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne. C.H. Beck, München 2002, S. 91ff. ISBN 3-406-49518-4
  16. Simon Dubnow (Hrsg.): Pinkas ha-Medinah be-Lita, Berlin 1925
  17. Haim Ben-Sasson: Councils of the Lands. Artikel in: Encyclopaedia Judaica, Hrsg.: Michael Berenbaum und Fred Skolnik. Band 5, 2. Auflage, Macmillan Reference, Detroit USA 2007, S. 239-245, Gale Virtual Reference Library (englisch). Abgerufen: 9. September 2010
  18. Shlomo Eidelberg: Moses ben Jacob of Kiev Artikel in: Encyclopaedia Judaica, Hrsg.: Michael Berenbaum und Fred Skolnik. Band 14, 2. Auflage, Macmillan Reference, Detroit USA 2007, S. 550-551, Gale Virtual Reference Library (englisch). Abgerufen: 14. September 2010
  19. Meir Raffeld: Luria, Shelomoh ben Yeḥi’el Artikel in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, 2 Bände, Yale University Press, New Haven 2008, (englisch). Abgerufen: 15. November 2010
  20. David Bass: Shabetai ben Me’ir ha-Kohen Artikel in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, 2 Bände, Yale University Press, New Haven 2008, (englisch). Abgerufen: 22. September 2010
  21. Moshe Rosman: Poland; Poland before 1795. Artikel in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, 2 Bände, Yale University Press, New Haven 2008, (englisch). Abgerufen: 9. September 2010
  22. Masha Greenbaum: The Jews of Lithuania. A history of a remarkable community, 1316-1945. Jerusalem 1995, S. 69 (englisch)
  23. François Guesnet: Joselewicz, Berek. Artikel in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, 2 Bände, Yale University Press, New Haven 2008, (englisch). Abgerufen: 9. September 2010
  24. Yehuda Slutsky et al.: Lithuania Artikel in: Encyclopaedia Judaica, Hrsg.: Michael Berenbaum und Fred Skolnik. Band 13, 2. Auflage, Macmillan Reference, Detroit USA 2007, S. 117-128, Gale Virtual Reference Library (englisch). Abgerufen: 15. November 2011

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