Geheimes Deutschland

Geheimes Deutschland

Der Begriff Geheimes Deutschland entstammt dem George-Kreis, wo er mit verschiedenen Bedeutungen verwendet wurde: der Historiker Eckhart Grünewald definiert ihn als „eine Gruppe von Personen, die dieses [d. i. das Geheime Deutschland] verkörpern oder verheißen, zugleich als Vision eines Deutschland, das eine ‚innerliche Einheit‘ nach Vorstellungen Stefan Georges darstellt; schließlich wird dieser Begriff synonym gebraucht für den George-Kreis“.[1]

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

Vorgeschichte bei Lagarde und Langbehn

Ernst Kantorowicz wies 1933 darauf hin, dass die Idee des geheimen Deutschland bereits eine Vorgeschichte bei Paul de Lagarde und Julius Langbehn habe.[2] Bei Lagarde, einem erfolgreichen und vielgelesenen deutschnationalen Kulturphilosophen, findet sich zwar der Begriff selbst nicht. Die Verbindung des Geheimen mit dem Nationalen wird hier aber bereits gezogen, etwa in der Schrift Über die gegenwärtige Lage des Deutschen Reichs von 1875: „Gäbe es wenigstens Verschworene unter uns, einen heimlich offenen Bund, der für das große Morgen sänne und schaffte, und an den, wenn ihn auch in diesen umgekehrten Pfingsttagen die Menge nicht verstehn würde, alle sich anschließen könnten, deren unausgesprochenem Sehnen er das Wort böte“.[3] George kommentierte diese sehnsuchtsvollen Vorstellungen später bei einer gemeinsamen Lagarde-Lesung mit den Worten: „Jetzt gibt es Verschworene. Und am schönsten ist so eine Verschwörung ganz am Anfang“.[4] An einer anderen Stelle nimmt Lagarde ebenfalls spätere Georgesche Gedanken vorweg: „Das Deutschland welches wir lieben und zu sehen begehren, hat nie existiert, und wird vielleicht nie existieren. Das Ideal ist eben etwas, das zugleich ist und nicht ist [...]. Die Menschen gedeihen nur an der geheimnisvollen Wärme eines nie gesehenen Sternes [...]. Deutschland würde gegründet werden, indem wir gegen die jetzt gültigen Laster ersichtlich undeutsch beeinflußter Zeit uns verneinend verhielten, indem wir zur Abwehr und Bekämpfung dieser Laster einen offenen Bund schlössen, welcher der äußerlichen Kennzeichen und Symbole so wenig entbehren dürfte wie der strengsten Zucht [...]“.[5]

Im populären Buch Rembrandt als Erzieher des nach diesem Buch „Rembrandtdeutscher“ genannten Kulturkritikers Julius Langbehn tritt dann 1890 die Figur des „heimlichen Kaisers“ der deutschen auf.

Frühe Verwendung im George-Kreis

Zum ersten Mal wurde er 1910 von Karl Wolfskehl in einem Beitrag für das erste Jahrbuch für die geistige Bewegung benutzt. In seinem Aufsatz Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur nutzte er den Begriff für die Dichtung Stefan Georges, den er damit vom „offiziellen“ Deutschland des damaligen Kaiserreiches absetzte.[6] In der Folgezeit wurde der Begriff ebenfalls verwendet, so in einer Rede Norbert von Hellingraths, eines Freundes Wolfskehls und Georges, über Hölderlin und die Deutschen aus dem Jahr 1915.[7] George selbst wählte ihn in den 1920er Jahren als Titel für eines seiner Gedichte (entstanden frühestens im Sommer 1922), das mit den Zeilen „Reiss mich an deinen rand / Abgrund – doch wirre mich nicht!“ beginnt. 1928 wurde es in seinem letzten Gedichtband Das neue Reich veröffentlicht.[8] In dieser Zeit wurde der Begriff vor allem verwendet, wenn es darum ging, öffentlich eine versteckte Botschaft an eingeweihte Kreismitglieder zu senden.

Wohl 1924 legte einer der Kreismitglieder – vielleicht Erika Wolters, die Frau von Friedrich Wolters – am Grab des Stauferkaisers Friedrich II., der im Kreis eine besondere Verehrung erfuhr, in Palermo einen Kranz nieder, der auf das Geheime Deutschland verwies.[9] Auf diesen Kranz spielte der Mediävist Ernst Kantorowicz, ein enger Vertrauter Georges, in der Vorbemerkung zu seinem 1927 erschienenen großen Werk über den Stauferkaiser Friedrich II. an: „Als im Mai 1924 das Königreich Italien die Siebenhundertjahrfeier der Universität Neapel beging, einer Stiftung des Hohenstaufen Friedrich II., lag an des Kaisers Sarkophag im Dom zu Palermo ein Kranz mit der Inschrift: SEINEN KAISERN UND HELDEN / DAS GEHEIME DEUTSCHLAND“.[10] Später nutzte der jüdischstämmige Kantorowicz den Begriff als Titel seiner letzten, am 14. November 1933 in Frankfurt am Main gehaltenen Vorlesung, in der er sich noch einmal zu George und seiner Ideenwelt bekannte.[11]

Um 1930 wurde der Begriff auch außerhalb des George-Kreises gelegentlich verwendet, so etwa in einer Schrift Friedrich Glums.[12]


Der genaue Inhalt des Begriffs ist schwer zu bestimmen, weil er eine ganze Ideenwelt beinhaltet. Häufig verwendeten die Georgeaner ihn synonym zu dem innerhalb des Freundeskreises gebrauchten Wort „Staat“ für den George-Kreis. Wiederbelebt wurde der Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg durch Edgar Salin und Marion Gräfin Dönhoff, die öffentlichkeitswirksam behaupteten, der Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg habe vor seiner Erschießung die Worte „Es lebe das geheime Deutschland!“ ausgerufen. Historisch belegt ist durch Ohrenzeugen der Ausruf „Es lebe das heilige Deutschland!“, dennoch ist unbestritten, dass Stauffenberg, der für die Identitätsbildung der Deutschen nach dem Untergang des nationalsozialistischen „Dritten Reiches“ eine zentrale Bedeutung hat, zum George-Kreis gehörte und sich dem „Geheimen Deutschland“ zugehörig fühlte.

2006 hat sich der Philosoph Manfred Riedel in seinem Buch Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg um eine erneute Deutung bemüht, verknüpft mit einer versuchten Wiederbelebung der damit verbundenen Ideen und Wertvorstellungen.[13]

Quellen

  • Ernst Kantorowicz: Das Geheime Deutschland. Vorlesung, gehalten bei Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am 14. November 1933. Edition von Eckhart Grünewald. In: Robert L. Benson, Johannes Fried (Hrsg.): Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt. Steiner, Stuttgart 1997, S. 77–93 (auch in: George-Jahrbuch, Band 3, 2000, S. 156–175).

Literatur

  • Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister: Stefan Georges Nachleben. C. H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-59225-6
  • Eckhart Grünewald: Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk „Kaiser Friedrich der Zweite“. Steiner, Wiesbaden 1982, insbesondere S. 74–80.

Weblinks

Anmerkungen

  1. Eckhart Grünewald: Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk Kaiser Friedrich der Zweite. Wiesbaden 1982, S. 76.
  2. Ernst Kantorowicz: Das Geheime Deutschland. In: Robert Benson, Johannes Fried: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung. Stuttgart 1997, S. 77–93, hier S. 78. Dort heißt es sogar, Lagarde habe den Begriff „geprägt“, was aber bisher nicht bestätigt werden konnte.
  3. Paul de Lagarde: Über die gegenwärtige Lage des Deutschen Reichs. Ein Bericht [1875]. In: Paul de Lagarde: Schriften für das deutsche Volk. 2 Bände, München 1924, Band 1, S. 114–194, S. 145, hier zitiert nach Eckhart Grünewald: Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk „Kaiser Friedrich der Zweite“. Wiesbaden 1982, S. 78.
  4. Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George. Helmut Küpper vormals Georg Bondi, Düsseldorf/München 1963, S. 50.
  5. Paul de Lagarde: Die Religion der Zukunft [1878]. In: Paul de Lagarde: Schriften für das deutsche Volk. Band 1, München 1924, S. 251–286, hier S. 279 f. Hier zitiert nach Eckhart Grünewald: Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk „Kaiser Friedrich der Zweite“. Wiesbaden 1982, S. 78, vgl. auch dort, Anm. 95.
  6. Karl Wolfskehl, Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur, in: Jahrbuch für die geistige Bewegung, Band 1, Berlin 1910, S. 1–18, hier S. 14f.
  7. Norbert von Hellingrath, Hölderlin und die Deutschen. Vortrag, in: Norbert von Hellingrath, Hölderlin-Vermächtnis, München 1936, S. 123–153, hier S. 124f. Dazu Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, Pantheon, München 2008, S. 409.
  8. Stefan George, Geheimes Deutschland, hier zitiert nach: Stefan George, Die Gedichte. Tage und Taten, Klett-Cotta, Stuttgart 2003, S. 797–801, hier S. 798. Zum biographischen Hintergrund des Gedichts vgl. etwa Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, Pantheon, München 2008, S. 555f.
  9. Dazu Karlauf, Stefan George, S. 557f. mit der Vermutung, Erika Wolters habe den Kranz niedergelegt.
  10. Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Georg Bondi Verlag, Berlin 1927, Vorbemerkung (unpaginiert).
  11. Gedruckt in: Ernst Kantorowicz, Das Geheime Deutschland, herausgegeben von Eckhart Grünewald, in: Robert L. Benson, Johannes Fried (Hrsg.), Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt, Steiner, Stuttgart 1997, S. 77–93 (auch in: George-Jahrbuch, Band 3, 2000, S. 156–175). Vgl. dazu Eckhart Grünewald, „Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!“ Ernst Kantorowicz spricht am 14. November 1933 über das „Geheime Deutschland“, in: Benson, Fried (Hrsg.), Ernst Kantorowicz, S. 57–76 (auch in: George-Jahrbuch, Band 3, 2000, S. 131–155).
  12. Friedrich Glum: Das geheime Deutschland: Die Aristokratie der demokratischen Gesinnung. G. Stilke, Berlin 1930.
  13. Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln 2006.

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