Episodisches Gedächtnis

Episodisches Gedächtnis

Das episodische Gedächtnis ist Teil des deklarativen Langzeitgedächtnisses.

Inhaltsverzeichnis

Struktur

Das episodische Gedächtnis ist eine Subkomponente des Langzeitgedächtnisses (LZG). Die anatomischen Substrate sind der Hippocampus, Frontallappen und Temporallappen. Diese Strukturen tragen zur episodischen Gedächtnisleistung bei.

Auf der zu erinnernden Information basierend werden zwei Typen des deklarativen Langzeitgedächtnisses unterschieden:

Das semantische Gedächtnis, welches Wissen über Fakten und generelle Aspekte der Welt erinnert, und das episodische Gedächtnis, das persönliche Erlebnisse als solche beinhaltet. Das episodische Gedächtnis ermöglicht also den Abruf vergangener Erfahrungen, die in einer bestimmten Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt gebildet wurden. Es ist zur mentalen Zeitreise sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft fähig. Für den Erinnerer bedeutet dies, sich selbst als Beteiligten an einem vergangenen Geschehen zu erfahren; für den Forscher, die Selbstwahrnehmung des Involvierten zu erkunden (Tulving, 1985).[1]

Funktion

Die Prozesse des episodischen Gedächtnisses sind verantwortlich für das Enkodieren, Speichern und Abrufen von spezifischen Ereignissen und Episoden, die Menschen in ihrem Leben erfahren haben. Diese Ereignisse und Episoden haben in einem bestimmten Kontext stattgefunden und werden auf diese kontextgebundene Weise enkodiert und abgerufen. Im Laufe der Entwicklung zeigen episodische Gedächtnisleistungen im Kindes- und Jugendalter einen steilen Anstieg, bleiben über das junge und mittlere Erwachsenenalter stabil und nehmen im Alter wieder ab.

Die Operationen des episodischen Gedächtnisses basieren auf dem semantischen Gedächtnis (Wissenssystem), gehen aber darüber hinaus. Der Abruf aus dem episodischen Gedächtnis erfordert eine besondere geistige Einstellung, die 'Abrufmodus' genannt wird. Die neuronalen Komponenten des episodischen Gedächtnisses bauen auf einem weit verzweigten Netzwerk in den kortikalen und subkortikalen Hirnregionen, das sich mit den Netzwerken anderer Gedächtnissysteme überschneidet, jedoch weit über diese hinausgeht. Die Essenz des episodischen Gedächtnisses macht die Verbindung dreier Konzepte aus, des Selbst, des autonoetischen Bewusstseins und der subjektiven Zeit (Markowitsch & Welzer, 2005).[2]

Endel Tulving beschreibt das episodische Gedächtnis als ein evolutionär spät entstandenes, sich ontogenetisch spät entwickelndes und früh abbauendes Gedächtnissystem. Es ist verletzlicher gegenüber neuronalen Dysfunktionen als andere Gedächtnissysteme und wahrscheinlich nur dem Menschen eigen. "Es erlaubt mentales Zeitreisen durch die subjektive Zeit - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Dieses mentale Zeitreisen erlaubt dem 'Besitzer' von episodischem Gedächtnis (dem 'Selbst'), durch das Medium des autonoetischen Bewusstseins seine eigenen vorangegangenen "gedachten" Erfahrungen zu erinnern, wie auch über mögliche zukünftige Erfahrungen zu denken" (Tulving, 2005, übersetzt von Markowitsch & Welzer, 2005).[2]

Nach Ansicht von Conway (2001)[3] sollte das ursprüngliche Konzept von Tulving überarbeitet werden: für Conway ist das episodische Gedächtnis ein System, das erfahrungsnahe, sehr zusammenhangsspezifische und detailreiche Sinneswahrnehmungen kürzlich erlebter Erfahrungen und Ereignisse enthält. Diese Erlebnisse bleiben nur für kurze Zeitabschnitte haften (Minuten oder Stunden). Sie bleiben nur dann dauerhaft im Gedächtnis, wenn sie mit autobiografischen Inhalten gekoppelt werden.

Abruf und Cueing

Was man aus dem episodischen Gedächtnis erinnert, hängt grundsätzlich davon ab, welche Hinweisreize (Cues) gerade in der wahrgenommenen Umgebung oder im Arbeitsgedächtnis zur Verfügung stehen (zum Beispiel Tulving & Pearlstone, 1966).[4] Es gibt zwei Arten episodischer Hinweisreize: Feature Cues (Hinweis durch Eigenschaften) und Context Cues (Hinweise aus der Umgebung). Feature Cues enthalten Komponenten aus der gesuchten Erinnerung. Im Gegensatz zu Feature Cues beziehen sich Context Cues auf Aspekte des Kontexts, der die Rahmenbedingungen für das Enkodieren definiert hat. Dabei können externe (zum Beispiel Raum, Beleuchtung, anwesende Personen) und interne Kontexte (zum Beispiel Emotionen oder Gedanken) unterschieden werden. Der beste Context Cue ist man selbst: Können Informationen auf Aspekte des eigenen Selbst bezogen werden, ist die Erinnerung besser, als wenn Informationen mit Aspekten anderer Personen oder Objekte in Beziehung gesetzt werden.

Kontextabhängigkeit

Eine episodische Gedächtnisspur eines Ereignisses besteht aus der Information über die beteiligten bekannten Dinge und Personen, die im semantischen Gedächtnis gespeichert wird, und der Kontextinformation, die im episodischen Gedächtnis gespeichert wird. Beispielsweise kann man sich erinnern, welche Lebensmittel man auf den Einkaufszettel geschrieben hat, den man leider zu Hause vergessen hat. Die einzelnen Wörter (zum Beispiel "Knoblauch, Wein, Spülmittel") und ihre Bedeutung sind uns schon lange bekannt, sie sind im semantischen Gedächtnis repräsentiert. Das episodische Gedächtnis speichert die Tatsache, dass wir diese Wörter in einem bestimmten Kontext (auf der heute morgen geschriebenen Einkaufsliste) in einer bestimmten Reihenfolge gesehen haben. Dazu kommen meistens weitere Kontextmerkmale, zum Beispiel der Raum, in dem die Liste geschrieben wurde, das Erlebnis des Aufschreibens, die kognitiven Prozesse beim Planen des Einkaufs, etc.

Enkodierungsspezifität bezeichnet den Umstand, dass Erinnerungen aus dem episodischen Gedächtnis am leichtesten abgerufen werden können, wenn die Umstände des Abrufs denen des Enkodierens ähneln. Enkodierspezifität bezieht sich oft auf äußere Kontexte (zum Beispiel einen Raum). Interne Kontexte können ebenfalls die Erinnerung fördern, wenn sie beim Abruf denen beim Enkodieren ähneln. Dazu zählen die zustandsabhängige Erinnerung (State-Dependent Memory) und die stimmungskongruente Erinnerung (Mood-Congruent Memory). So kann etwa die Erinnerung unter Nikotineinfluss besser sein, wenn die Person beim Lernen im gleichen Zustand war, oder jemand erinnert sich besser an etwas, das er gelernt hat, als er glücklich war, wenn er wieder glücklich ist.

Kontextabhängigkeit des Erinnerns bedeutet, dass neues Material leichter erinnert wird, wenn beim Abruf auch die Einzelheiten der Begleitumstände der Lernsituation wiederhergestellt werden. Beispiel: Wenn man beim Spazierengehen eine gute Idee hatte und sie später wieder vergessen hat, geht man den Weg nochmals ab und erinnert sich wieder an die Idee. Kontextabhängigkeit ist ein Grund dafür, dass es nicht sinnvoll ist, in lauter Umgebung zu lernen (zum Beispiel mit Radio), wenn man in einem stillen Raum getestet wird.

Repräsentationsstufen

Der Inhalt des episodischen Gedächtnisses ist eine Mischung aus vielen verschiedenen Informationsarten. Diese unterschiedlichen Komponenten können als ganze Einheiten oder als getrennte Teile genutzt werden. Wenn wir also etwas erleben, dann erinnern wir uns daran nicht direkt, sondern wir verarbeiten es auf mehreren Stufen. So besteht die Erinnerung an einen Text zum Beispiel aus drei Repräsentationsstufen: Oberflächenform entspricht dem wörtlichen Text, Textbasis ist die abstrakte Repräsentation des Textes und das mentale Modell entspricht eher der mentalen Simulation des beschriebenen Ereignisses als dem Text selbst (van Dijk & Kintsch, 1983).[5] Studien (Kintsch, Welsch, Schmalhofer & Zimny, 1990)[6] haben gezeigt, dass die Erinnerung für die Oberflächenform am schnellsten und die Erinnerung an die abstrakte Textbasis weniger schnell zerfällt (doch auch hier geschieht dies mit der Zeit), während die Erinnerung für das mentale Modell relativ dauerhaft ist und keine großen Veränderungen zeigt. Wenn wir also eine Zeitung lesen, vergessen wir schnell die exakten Wörter im Artikel, aber an die grundlegenden Ideen darin erinnern wir uns noch über eine längere Zeit. Die Erinnerung an die beschriebene Situation als solche jedoch, d. h., wovon der Artikel eigentlich handelte, hält viel länger an und ist das, woran wir uns auch nach relativ langer Zeit noch erinnern können.

Autobiografisches Gedächtnis

Häufig wird dem episodischen Gedächtnis das autobiografische Gedächtnis zugeordnet. Unter dem autobiografischen Gedächtnis wird die Erinnerung an die eigene Lebensgeschichte verstanden. Es ist umstritten, ob das episodische und das autobiografische Gedächtnis identisch sind. Endel Tulving und Hans Markowitsch sehen das episodische und das autobiografische Gedächtnis als weitgehend kongruent an. Nur gibt es natürlich autobiografische Daten, die nicht als Episoden erinnert werden: die eigene Geburt (Geburtstag), Geburtsort, usw. Mit der Bezeichnung "episodisch-autobiographisches Gedächtnis" weist Hans Markowitsch auf diese Mehrschichtigkeit hin.

Literatur

  • A. D. Baddeley: Episodic memory. In: A. D. Baddeley, M. W. Eysenck, M. C. Anderson: Memory. Psychology Press, Hove, New York 2009, ISBN 978-1-84872-001-5, S. 93–112.
  • M. A. Conway: Sensory-perceptual episodic memory and its context: autobiographical memory. In: Phil. Trans. R. Soc. Lond. 2001, S. 1375–1384.
  • M. L. Howe, M. L. Courage: The emergence and early development of autobiographical memory. In: Psychological Review. 1997, S. 499–523.
  • Theodor Jäger: Episodische Gedächtnisleistung bei depressiver Symptomatik. Universität des Saarlandes, Saarbrücken, 2006, urn:nbn:de:bsz:291-psydok-6859 PDF; 62KB.
  • W. Kintsch u.a.: Sentence memory: A theoretical analysis. In: Journal of Memory and Language. 29, 1990, S. 133–159.
  • Kramer u.a.: Dissociations in Hippocampal and Frontal Contributions to Episodic Memory Performance. In: Neuropsychology. 2005, S. 799–805.
  • Hans-Joachim Markowitsch: Das Ich und seine Vergangenheit. Wie funktioniert unser Gedächtnis? In: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.): Glanzlichter der Wissenschaft – ein Almanach. Verlag Forschung & Lehre, Bonn 2005, S. 57–63.
  • Hans-Joachim Markowitsch, H. Welzer: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Klett, Stuttgart 2005.
  • K. Nelson: The emergence of autobiographical memory: A social cultural development theory. In: Psychological Review. 2004, S. 486–511.
  • G. Radvansky: Human memory. Pearson, Boston 2006.
  • Endel Tulving: How many memory systems are there? In: American Psychologist. 40, 1985, S. 385–398.
  • Endel Tulving: Episodic memory and autonoesis: Uniquely human? In: H. Terrace, J. Metcalfe (Hrsg.): The missing link in cognition: Evolution of self-knowing consciousness. Oxford University Press, New York 2005.
  • Endel Tulving, Z. Pearlstone: Availability versus accessibility of information in memory for words. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior. 5, 1966, S. 381–391.
  • T. A. van Dijk, W. Kintsch: Strategies of discourse comprehension. Academic Press, New York 1983.
  • H. Welzer, Hans-Joachim Markowitsch: Umrisse einer interdisziplinären Gedächtnisforschung. In: Psychologische Rundschau. 2001, S. 205–214.

Einzelnachweise

  1. E. Tulving: How many memory systems are there? In: American Psychologist. 40. 1985, S. 385-398.
  2. a b J. Markowitsch, H. Welzer: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Klett, Stuttgart 2005.
  3. M. A. Conway: Sensory-perceptual episodic memory and its context: Autobiographical memory. In: Phil. Trans. R. Soc. Lond.. 2001, S. 1375-1384.
  4. E. Tulving, Z. Pearlstone: Availability versus accessibility of information in memory for words. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior. 5, 1966, S. 381–391.
  5. T. A. van Dijk, W. Kintsch: Strategies of discourse comprehension. Academic Press, New York 1983.
  6. W. Kintsch, D. M. Welsch, F. Schmalhofer, S. Zimny: Sentence memory: A theoretical analysis. In: Journal of Memory and Language. 29, 1990, S. 133–159.

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