Bildnis Gertrude Stein (Picasso)

Bildnis Gertrude Stein (Picasso)
Bildnis Gertrude Stein
Pablo Picasso, 1906
Öl auf Leinwand, 99,6 cm × 81,3 cm
The Metropolitan Museum of Art, New York City

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(Bitte Urheberrechte beachten)

Als Bildnis Gertrude Stein (Portrait of Gertrude Stein) wird ein Gemälde des spanischen Künstlers Pablo Picasso aus dem Jahr 1906 (Zervos I, 352. D.B. XXI, 10) geführt[1], das die US-amerikanische Schriftstellerin und Kunstsammlerin Gertrude Stein zeigt. Steins Gesicht, das einer archaischen Maske ähnelt, weist als Formexperiment voraus auf den Kubismus.

Das Gemälde befand sich bis zu Gertrude Steins Tod im Jahr 1946 in ihrem Besitz. Sie vermachte es dem Metropolitan Museum of Art in New York, wo es bis heute den Besuchern zugänglich ist.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Relief aus Osuna, 1. Jh. v. Chr.

Seit dem Winter 1905/1906 arbeitete Picasso nach seiner sogenannten „Rosa Periode“ verstärkt mit formalen Experimenten. Dabei griff er ebenso auf Traditionen zurück wie auch auf neue gestalterische Ausdrucksmittel, wie sie zum Beispiel in der Ausstellung 1905 von den Fauves im Salon d’Automne in Paris gezeigt worden waren. Der Herbstsalon hatte neben einer Ingres-Retrospektive auch zehn Arbeiten Paul Cézannes präsentiert, dessen „Ansatz, Form und Farbe in eigenständiger, nicht der Naturerscheinung, sondern ausschließlich malerischen Gesetzen gehorchender Weise einzusetzen“, Picassos eigenen Intentionen entsprach. Impulse erhielt er zudem durch iberische Kunstwerke, ausgegraben bei Osuna in Andalusien, die der Louvre in Paris seit 1903 zeigte und in deren sogenannten „primitiven“ und „klobigen“ Formen Picasso eine elementare und ursprüngliche Ausdrucksform erkannte.[2]

Beschreibung

J.-D. Ingres: Monsieur Bertin, 1838, Louvre, Paris

Gertrude Stein wird in einem Halbporträt gezeigt, auf einem im Hintergrund angedeuteten Fauteuil sitzend. Picasso wählte für sein Modell die Pose der Denkerin, die an eine weibliche Version des Gemäldes Monsieur Bertin, von Ingres im Jahr 1838 gemalt, erinnert.[3]

Die Hände verdeutlichen ihre Haltung unter einem dunklen, mantelartigen Kleidungsstück: Sie stützt ihren rechten Unterarm auf den Schenkel, die linke Hand, ebenfalls aufgestützt, hebt die Schulter. Dadurch entsteht eine geschlossene Form des Körpers, deren Rundung sich in der im Hintergrund dargestellten Lehne wiederholt. Das Gemälde ist in der Farbigkeit reduziert zugunsten eines traditionellen Hell-Dunkel-Kontrastes, mit dem das Gesicht der Porträtierten, das weiße Halstuch, gehalten von einer Spange, und die Hände hervorgehoben werden.

Das Gesicht zeigt ein Dreiviertelprofil. Betont sind die Linien der Augen, der Nase und der Oberlippe, wodurch das Gesicht die Wirkung eines Schnitzwerks erhält; der leere Blick der Augen erinnert an den Ausdruck antiker Skulpturen. Der Schattenwurf des Halstuchs und die linear betonten Hände greifen, wenngleich traditioneller gemalt, diese Formgebung auf und setzen sie fort in der Intention, einen Kontrast zwischen dem scharf geschnittenen, hellen Zentrum von Gesicht, Halstuch sowie Händen und dem wenig definierten, dunklen Körper vor dem vage angedeuteten Hintergrund zu erreichen.

Entstehung

Das Bildnis entstand seit Ende 1905 in einer Reihe von Sitzungen – nach späteren unterschiedlichen Aussagen der Porträtierten seien es 80 oder 90 gewesen –, in denen der Maler die Körperfülle der amerikanischen Kunstsammlerin und Dichterin zum Anlass nahm, mit den Formen frei zu verfahren.

Im Frühjahr 1906 vollendete Picasso das Werk in einer ersten Phase, war aber mit der Ausführung des Gesichts seines Porträts unzufrieden. Stein schilderte die Situation in ihrer Autobiografie so: „Eines Tages malte er plötzlich den ganzen Kopf. Ich sehe dich überhaupt nicht mehr, erklärte er gereizt.“ Die Arbeit am Porträt wurde anschließend unterbrochen.[4] Kurz vor einem Ferienaufenthalt, den er gemeinsam im Mai 1906 mit Fernande Olivier in Spanien verbrachte, übermalte er das Gesicht und vollendete es im Herbst desselben Jahres, ohne dass Stein noch einmal Modell gesessen hatte.[5] Stein fand Picassos Werk sehr gelungen und resümierte: „Die einzige Abbildung von mir auf der ich für mich immer Ich bin.“ [6]

Einordnung

Selbstbildnis mit Palette
Pablo Picasso, 1906
Öl auf Leinwand, 92 cm × 73 cm
Philadelphia Museum of Art (A. E. Gallatin Collection), Philadelphia

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(Bitte Urheberrechte beachten)

Das Bildnis der Gertrude Stein wird zusammen mit dem ebenfalls im Jahr 1906 entstandenen Selbstporträt mit Palette als Höhepunkt von Picassos Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur seit 1905 angesehen, bei der er Proportion und Form gezielt missachtete auf der Suche nach einem „eigenständigen Charakter des Malens“.[7] Die blockartige, unregelmäßige Form des Kopfes nebst Augen und Nase, die wie angesetzt wirken, vermeidet den Anschein, dass ein lebender Mensch abgebildetet ist, zugunsten eines Zusammenhalts der Flächen, der malerisch seine eigene Form erzeugt.[8]

Diesen Ansatz verfolgte Picasso in einer Reihe von Studien weiter, insbesondere auch in der Bearbeitung des eigenen Gesichts. Die radikale, die schwarze Linie betonende Darstellung im Selbstbildnis aus dem Frühling 1907[Bild 1], im Porträt der Gertrude Stein bereits angedeutet, verdeutlicht den gestalterischen Fundus, aus dem die Demoiselles im Sommer 1907 entstanden, die den Beginn einer neuen Stilrichtung, genannt Kubismus, markierten.[9]

Präsenz im Werk Steins

In Gertrude Steins autobiografischer Erzählung The Autobiography of Alice B. Toklas von 1933, in der Stein ihre Freundin Alice als Ich-Erzählerin auftreten lässt und sich selbst in der dritten Person darstellt, berichtet Alice von einer Geselligkeit bei Stein, bei der auch Picasso zugegen ist. Alice bemerkt Picasso gegenüber, dass ihr das Porträt der Hausherrin gefalle. Picasso antwortet darauf, dass jedermann findet, sie sieht nicht so aus, was aber nichts mache: sie wird.[10] Die Passage aus Steins Werk verselbständigte sich aus ihrer Quelle zur unabhängigen Anekdote, so zum Beispiel in der Beschreibung des Gemäldes auf der offiziellen Website des Metropolitan Museum of Art.[11]

Mitte der 1920er Jahre ließ sich Stein ihr Haar sehr kurz schneiden. Was geschah, als sie danach Picasso begegnete, beschrieb sie in ihrer Autobiographie. Picasso rief aus: „Gertrude, was ist, was ist. Was ist was, Pablo, sagte sie. Laß mich sehen, sagte er. Sie ließ ihn sehen. Und mein Portrait, sagte er ernst. Dann fügte er mit milderer Miene hinzu, mais, quand même, tout y est, trotzdem ist alles da.[12]

In ihren Darstellungen von Picasso, erschienen 1938, erzählt Gertrude Stein von einem reichen Sammler, der sich bei ihr erkundigte, wie viel sie für ihr Bildnis bezahlt habe. Ihre Antwort war: „nichts“, was den Sammler zutiefst erschütterte. Sie habe Picasso davon erzählt, der die Reaktion verständlich fand, da seinerzeit, so Picasso laut Stein, der Unterschied zwischen Verkauf und Geschenk unbedeutend (negligible) gewesen sei.[13]

Literatur

  • Siegfried Gohr: Ich suche nicht, ich finde. Pablo Picasso – Leben und Werk. DuMont, Köln 2006, ISBN 978-3-8321-7743-0
  • William Rubin: Pablo Picasso. A Retrospective, with 758 plates, 208 in colour, and 181 reference illustrations, The Museum of Modern Art, New York, Thames and Hudson, London 1980, ISBN 0-500-27194-1 (deutsch: Pablo Picasso. Retrospektive im Museum of Modern Art, New York. Prestel, München 1980)
  • Gertrude Stein: The Autobiography of Alice B. Toklas. Harcourt, Brace, New York 1933; dt. Autobiographie von Alice B. Toklas, aus dem Amerikanischen von Roseli Bontjes van Beek und Saskia Bontjes van Beek. Arche, Hamburg 2006, ISBN 978-3-716-02348-8
  • Carsten-Peter Warncke: Pablo Picasso. 1881–1973. Zwei Bände, hrsg. von Ingo F. Walther, Köln 1991. Band I: Werke 1890−1936, S. 143–153, ISBN 3-8228-0425-8
  • Christian Zervos: Catalogue Raisonné des Œuvres de Pablo Picasso, 1895–1973, Éditions Cahiers d’Art, Paris (34 Bände)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Christian Zervos: Catalogue Raisonné des Œuvres de Pablo Picasso, 1895–1973, Éditions Cahiers d’Art, Paris
  2. Carsten-Peter Warncke: Pablo Picasso (Bd. 1, 1991), S. 143
  3. Siegfried Gohr: Ich suche nicht, ich finde, S. 61
  4. Siegfried Gohr: Ich suche nicht, ich finde, S. 59–61
  5. William Rubin: Pablo Picasso. A Retrospective, with 758 plates, 208 in colour, and 181 reference illustrations. The Museum of Modern Art, New York, Thames and Hudson, London 1980, S. 59
  6. Brenda Wineapple: Schwester Bruder Gertrude und Leo Stein. Arche, Zürich-Hamburg 1998, ISBN 3-7160-2233-0, S. 488
  7. Carsten-Peter Warncke: Pablo Picasso (Bd. 1, 1991), S. 144
  8. Carsten-Peter Warncke: Pablo Picasso (Bd. 1, 1991), S. 144 f.
  9. Carsten-Peter Warncke: Pablo Picasso (Bd. 1, 1991), S. 153
  10. Nach: Annegeret Heitmann (u. a.): Bi–Textualität. Inszenierungen des Paares. (Geschlechterdifferenz & Literatur, Bd. 12) Berlin 2001, S. 85
  11.  :„When someone commented that Stein did not look like her portrait, Picasso replied, She will.“ Links: Collection Database, Description
  12. Gertrude Stein: Autobiographie von Alice B. Toklas, S. 78
  13. Gertrude Stein: Picasso. London 1938. Nachdruck Mineola, N.Y. 1984, S. 8

Abbildungen

  1. Pablo Picasso: Selbstbildnis, Paris, Frühjahr 1907. Öl auf Leinwand, 50 × 46 cm (Zervos II*, 8; DR 25). Národni Galerie, Prag

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