Bootsflüchtling

Bootsflüchtling
Somalisches Flüchtlingsboot im Indischen Ozean

Der Begriff Boatpeople wurde in den 1970er Jahren aus dem amerikanischen Sprachgebrauch übernommen. Er bezeichnete ursprünglich die in der Folge des Vietnamkrieges in Südostasien geflohenen Menschen, zumeist vietnamesischer Herkunft. Heute wird er auch für Personen in anderen Weltregionen verwendet, die in Booten fliehen. Solche Fluchten werden meist mit ungeeigneten und zudem überladenen Booten unternommen. Die Ursachen von Bootsflucht reichen heute, wie bei jeder Flucht, von individueller Verfolgung – die eine Person im rechtlichen Sinne als Flüchtling qualifiziert – über allgemeine Unsicherheit und bewaffnete Konflikte bis hin zur Suche nach besseren Lebensbedingungen.

Inhaltsverzeichnis

Südostasien

Rettung vietnamesischer Boatpeople durch ein Schiff der US-Marine, 1979
Vietnamesisches Bootsflüchtlingsmädchen in Malaysia, 1980

Der Vietnamkrieg endete am 30. April 1975 mit dem Sieg des kommunistischen Nordvietnam und der Wiedervereinigung Vietnams unter kommunistischer Herrschaft. Wegen der Kriegsfolgen, aus Angst vor Repressalien, Hunger und Verschlechterung der Lebensbedingungen aufgrund des kommunistischen Wirtschaftssystems flohen weiterhin zahlreiche Vietnamesen aus dem Land. An Land war Vietnam jedoch ausschließlich von Staaten umgeben, die sich kaum als Zuflucht eigneten (Kambodscha, Laos, Volksrepublik China). Aus diesem Grund versuchten viele die Flucht auf dem Seeweg. Über 1,6 Millionen Vietnamesen versuchten per Boot über das Südchinesische Meer in eine bessere Welt zu gelangen. Man nannte diese Leute Boat People. Im ursprünglichen Sprachraum spricht man genauer von indochinese boat people (indochinesische Bootsflüchtlinge), da der Kriegsschauplatz auch Kambodscha betraf.

Die meisten Boote trugen zwischen 150 und 600 Personen, waren jedoch immer überladen und baufällig. Oft kenterten die Boote in den unberechenbaren Monsun-Winden oder sie wurden von Piraten angegriffen. Viele dieser Piraten hielten sich auf dem Meer vor Thailand auf, um die Boat People zu überfallen. Wegen dieser Umstände wählten die Flüchtlinge zunehmend den längeren Seeweg nach Malaysia, obwohl die Risiken dieser Reise größer waren. Häufig litten die Flüchtlinge unter Nahrungsmangel, Wasserknappheit und Krankheiten, oder die Sonne verbrannte ihnen den Rücken. Oft erreichten diese Boote die Küste jedoch nicht. Fast 250.000 Boat People fanden im Südchinesischen Meer den Tod. Immer wieder wurden Familien auseinander gerissen und diese fanden sich, wenn überhaupt, erst Jahre später in einer neuen Heimat wieder. Wer diese Strapazen überlebte und an eine Küste Südostasiens gespült wurde, hatte mit weiteren Schwierigkeiten zu kämpfen. Die meisten Boat People landeten in geschlossenen Lagern, wo sie um Asyl in anderen Ländern ersuchen konnten. Oftmals wurden sie ohne viel Aufsehen mit neuen Vorräten und Wasser wieder auf See geschickt, da die umliegenden Auffanglager hoffnungslos überfüllt waren. Erst Ende der achtziger Jahre ebbte der Flüchtlingsstrom ab, weil immer weniger Boat People Aufnahme in Drittländern fanden.

Der deutsche Journalist Rupert Neudeck gründete mit Gleichgesinnten das private Hilfskomitee Ein Schiff für Vietnam. Mit dem Komitee charterten sie den Frachter Cap Anamur und bauten ihn zu einem Hospitalschiff um. Gleichzeitig liefen in ganz Deutschland die ersten Spendenaktionen an. Mit einem Team aus freiwilligen Technikern, Logistikern, Ärzten und Pflegern an Bord erreichte das Schiff am 13. August 1979 unter seinem Kapitän Klaus Buck das Südchinesische Meer.

Schon früh wurde über die Medien bekannt, dass Neudeck nicht nur die Rettung der Flüchtlinge plante, sondern auch für deren Aufnahme in Deutschland sorgen wollte. Dies brachte ihm den Vorwurf ein, dadurch noch mehr Vietnamesen zur Flucht zu ermutigen und die Lage letztlich zu verschlimmern. Es kam zu Konflikten mit den deutschen Behörden, die aber aufgrund des öffentlichen Interesses zu einem Kompromiss führten: Man war seitens der Bundesrepublik bereit, denjenigen Flüchtlingen Asyl zu gewähren, die direkt von der Cap Anamur aufgenommen wurden, nicht aber denjenigen, die von Schiffen anderer Nationalität bereits gerettet und übergeben wurden. In den ersten drei Jahren konnten über 9500 Bootsflüchtlinge gerettet werden. Im Juli 1982 beschloss die deutsche Regierung einen Aufnahmestopp. Die Helfer mussten vorübergehend ihre Arbeit einstellen.

Der starke Rückhalt in der deutschen Bevölkerung, die mit ihren Spenden diese Aktion unterstützte und ermöglichte, führte 1982 zur Gründung der Hilfsorganisation Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte e.V. Nach öffentlichen Protesten und der Intervention von prominenten Unterstützern wie Heinrich Böll, Alfred Biolek und Freimut Duve erlaubte die Bundesregierung wieder die Aufnahme der Flüchtlinge. Die Rettungsaktion wurde noch bis 1986 fortgeführt, wobei rund 1000 weitere Menschen gerettet werden konnten. Die meisten dieser Flüchtlinge leben heute noch in Deutschland, viele durften im Laufe der Jahre ihre Familienangehörigen nachholen.

Bootsflüchtlinge heute

Bootsflüchtlinge aus Haiti

Die Fälle von Flucht mit hochseeuntauglichen Booten sind nicht auf Südostasien beschränkt. So wird vermutet, dass seit 1992 mehr als 10.000 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sind. Hierbei handelt es sich um Personen vor allem aus Afrika, aber auch aus Asien und dem Nahen Osten, die aufgrund von Verfolgung, bewaffneten Konflikten oder wirtschaftlichen Problemen nach Europa gelangen wollen. Sie starten meist von Nordafrika aus, um Spanien, Malta oder Italien zu erreichen. Eine kürzere Route innerhalb des Mittelmeers führt von Albanien nach Italien. Die Europäische Union versucht diese illegale Migration zu unterbinden. Dies hat dazu geführt, dass afrikanische Bootsflüchtlinge vermehrt den längeren Weg von Westafrika auf die Kanaren auf sich nehmen. Ein dramatischer Fluchtversuch ereignete sich im März 2009. Dabei kenterten vor der Küste Libyens mehrere Boote mit einigen hundert Menschen an Bord. Nur wenige Menschen konnten aus dem Wasser gerettet werden.[1]

Weitere Routen von Bootsflüchtlingen weltweit führen etwa von Kuba und Haiti in die USA oder von den Komoren auf die benachbarte, Frankreich unterstehende und wohlhabendere Insel Mayotte[2]. 2001 ertranken 353 Asylsuchende, die von Indonesien nach Australien zu fahren versuchten, als ihr Schiff, die SIEV-X, sank. Aus Myanmar/Burma und Bangladesh versuchen Bootsflüchtlinge nach Thailand zu gelangen; Anfang 2009 wurde bekannt, dass die thailändische Armee Hunderte aufgegriffene Bootsflüchtlinge aufs offene Meer zurückgeschickt hat[3]. Als besonders gefährlich gilt die Route von Boosaaso über den Golf von Aden nach Jemen, die von Kriegs- und Armutsflüchtlingen aus Somalia und Äthiopien benutzt wird.

Aus Kuba fliehen jährlich einige Tausend Menschen über das offene Meer, bevorzugt in die nur 90 Meilen entfernten USA, aber auch zum Beispiel nach Mexiko mit teilweise abenteuerlichen Bootskonstruktionen, was ihnen den Spitznamen Balseros (span. für Flößer) einbrachte. Zwei größere solche Fluchtbewegungen sind in die Geschichte eingegangen: Zum einen das Mariel Boatlift im Jahre 1980, als innerhalb weniger Monate insgesamt 125.000 Kubaner in Richtung Florida flüchteten, zum anderen 1994, als sich im Rahmen der sogenannten Balsero-Krise wiederum innerhalb kürzester Zeit zehntausende Kubaner auf den Weg über das Meer in die USA machten.

Boatpeople aus dem Blickwinkel der Wissenschaft

Die südostasiatischen Boat People wurden auch aus wissenschaftlicher Perspektive betrachtet, um anhand ihrer Lebensgeschichten das Phänomen der Resilienz näher zu beleuchten. Caplan leistete hier den bedeutendsten Beitrag. Er untersuchte die Familien vietnamesischer Bootsflüchtlinge und stellte fest, dass diese starke Familienwerte hatten. Bildung wurde von den Bootsflüchtlingen besonders hoch bewertet und so erklärt es sich auch, dass viele ihrer Kinder hervorragende Schulleistungen erbrachten. [4]

Weblinks

TV-Reportage

  • Flucht in den Tod. Das Meer, das Dorf und das Schweigen – eine Schiffskatastrophe vor Sizilien; TV-Dokumentation von Marc Wiese und Karl Hoffmann; gesendet am 10. Juli 2005 auf ARTE.

Einzelnachweise

  1. http://www.tagesschau.de/ausland/bootsunglueck102.html
  2. Der Spiegel: Das Insel-Labor
  3. BBC News: Thais 'leave boat people to die'
  4. Nathan Caplan u. a.: The Boat People and Achievement in America. A study of family life, hard work, and cultural values. University of Michigan Press 1989, ISBN-0-472-09397-5; ferner David W. Haines (Hg.): Refugees as immigrants: Cambodians, Laotians and Vietnamese in America. Rowman & Littlefield Publishers 1989, ISBN 0-8476-7553-X; Nathan Caplan u. a.: Indochinese Refugee Families and Academic Achievement, in: Scientific American, Februar 1992, S. 18–24

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