Berliner Kongress

Berliner Kongress
Berliner Kongress (Gemälde von Anton von Werner, 1881, 3,60 × 6,15 m im Berliner Rathaus). Erkennbar sind links im Vordergrund Gortschakow im Gespräch mit Disraeli, in der Mitte Bismarck zwischen Andrássy und Schuwalow; rechts im Hintergrund neben Bismarcks Oberarm Friedrich August von Holstein, die graue Eminenz des Auswärtigen Amts

Der Berliner Kongress war eine Versammlung von Vertretern der europäischen Großmächte Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Frankreich, Vereinigtes Königreich, Italien und Russland sowie des Osmanischen Reiches, auf der die Balkankrise beendet und eine neue Friedensordnung für Südosteuropa ausgehandelt wurde. Der in Berlin stattfindende Kongress begann am 13. Juni 1878 und endete am 13. Juli 1878 mit der Unterzeichnung des Berliner Vertrages.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Aufstände der orthodoxen Bevölkerung gegen die osmanische Herrschaft in der Herzegowina und im späteren Bulgarien, 1875/1876 hatten zuerst zu Kriegserklärungen Serbiens und Montenegros an das Osmanische Reich geführt. Beide Mächte erlitten Niederlagen, weshalb Russland Serbien bereits im Herbst drängte, Frieden zu schließen. Kurz darauf schlug die osmanische Armee auch den bulgarischen Aprilaufstand blutig nieder. Da sich Russland im Zuge des Panslawismus und aus machtpolitischen Erwägungen als Schutzmacht der Bulgaren verstand, drohte ein russisch-osmanischer Krieg. Um dies zu verhindern, tagte von Dezember 1876 bis Januar 1877 in Konstantinopel eine Konferenz der Botschafter der europäischen Großmächte, die von der Hohen Pforte verlangte, auch mit Montenegro Frieden zu schließen und den Bulgaren weitgehende Autonomierechte einzuräumen. Die Großmächte behielten sich vor, die Durchführung dieser Reform zu überwachen. Sultan Abdülhamid II. weigerte sich, eine solche Souveränitätseinschränkung hinzunehmen, woraufhin Russland dem Osmanischen Reich im April 1877 den Krieg erklärte.[1] Bereits im Januar 1877 hatte Österreich-Ungarn den Russen im Budapester Vertrag seine Neutralität zugesagt.

Im Russisch-Osmanischen Krieg musste die osmanische Armee mehrere schwere Niederlagen hinnehmen, Ende 1877 erreichte die Armee des Zaren in Yeșilköy, einem Vorort von Konstantinopel, das Marmarameer. Um eine Besetzung seiner Hauptstadt zu verhindern, war der Sultan im März 1878 gezwungen, nach dem Waffenstillstand von Edirne den Frieden von San Stefano zu unterzeichnen. Das Osmanische Reich musste darin die volle Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens und Montenegros anerkennen und kleinere Gebiete an diese Länder abtreten. Außerdem sollte, wie bereits in der Konferenz von Konstantinopel festgelegt, ein großbulgarischer Staat geschaffen werden, der quer über den Balkan vom Schwarzen Meer bis an den Ohridsee (heute die Grenze zwischen Albanien und Mazedonien) und im Süden bis an die Ägäis reichen sollte. Dieser Frieden bedeutete für das Osmanische Reich den Verlust fast sämtlicher europäischen Besitzungen, für Russland, dessen Truppen unter Generalgouverneur Alexander Michailowitsch Dondukow-Korsakow den neu geschaffenen Satellitenstaat besetzt hielten, die Vorherrschaft auf der Balkanhalbinsel und einen Zugang zum Mittelmeer.

Das Vorgehen der russischen Außenpolitik rief die anderen Großmächte auf den Plan. Österreich-Ungarn fürchtete, seinen Einfluss auf dem Balkan zu verlieren, sei es durch eine russische Hegemonie, sei es durch die Errichtung eines Gesamtstaates aller Balkanslawen. Großbritannien fürchtete um seine Handelsbeziehungen mit dem Osmanischen Reich und sah das Gleichgewicht der Kräfte auf dem Balkan bedroht, das es seit dem Krimkrieg (1853–1856) bewachte. Premierminister Benjamin Disraeli ließ 5.000 Gurkhas auf Malta stationieren, britische Fregatten liefen ins Marmarameer ein. Die Regierung in Wien nahm Kriegskredite auf und versetzte die Garnisonen an der Grenze zu Russland in Alarmbereitschaft. Ein Krieg zwischen den Großmächten schien unmittelbar bevorzustehen. Auf der Balkanhalbinsel formierte sich inzwischen schon bewaffneter Widerstand der muslimischen Bevölkerung gegen die Loslösung ihrer Wohngebiete vom Osmanischen Reich. Österreich-Ungarn sah sich für einen Krieg gegen Russland aber nicht gerüstet, weshalb Außenminister Gyula Andrássy vorschlug, eine diplomatische Lösung auf einem Kongress der Großmächte zu finden. Der russische Außenminister Fürst Alexander Michailowitsch Gortschakow willigte ein und schlug als Ort Berlin vor. Das Deutsche Reich verfolgte als einzige Großmacht keine eigenen Interessen auf dem Balkan.[2] Dies hatte Reichskanzler Otto von Bismarck am 5. Dezember 1876 vor dem Deutschen Reichstag ausgesprochen, als er sagte, auf dem ganzen Balkan sehe er „für Deutschland kein Interesse […], welches auch nur […] die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre“.[3] Im Februar 1878 erklärte er dann ebenfalls vor dem Reichstag, er wolle nicht der „Schiedsrichter“ in der Orientalischen Frage sein, sei aber bereit, die Rolle eines „ehrlichen Maklers, der das Geschäft wirklich zu Stande bringen will“ zu spielen.[4] Er verlangte aber, dass sich die drei streitenden Parteien grundsätzlich vorab einigten.

Die Briten griffen diesen Ansatz gerne auf, weil sie in bilateralen Verhandlungen ihre Interessen besser durchsetzen zu können hofften als in der multilateralen Kongressdiplomatie. Sie schlossen daher drei getrennte Vorabkommen ab.[5] Bei den Beratungen von Außenminister Lord Salisbury mit dem russischen Botschafter Pjotr Andrejewitsch Schuwalow war man sich am 30. Mai 1878 einig, dass es kein Großbulgarien geben würde. Gortschakow ließ aber bitten, das Ergebnis der Vorverhandlungen erst in Berlin zu ratifizieren, weil er auf Unterstützung der russischen Position durch die Deutschen hoffte. Salisbury gestand auch zu, dass die Entscheidungen in Berlin nur einstimmig getroffen werden sollten, wodurch Russland ein Veto-Recht behielt. Mit Österreich-Ungarn verständigte sich Salisbury am 6. Juni ebenfalls in London, dass das neue Bulgarien seine Südgrenze am Balkangebirge haben und die Österreicher Bosnien-Herzegowinas besetzen sollten, womit sich die Russen bereits im Januar 1877 einverstanden erklärt hatten. Auch die Osmanen waren zu einer Vorabsprache mit den Briten bereit. Sie befürchteten, dass die Einigung der streitenden Großmächte auf ihre Kosten gehen würde. Daher schlossen sie am 4. Juni 1878 in Konstantinopel ein Geheimabkommen mit den Briten, die ihnen ihre asiatischen Besitzungen garantierten und zusagten, einen russischen Zugriff auf die Meerengen zu vereiteln. Im Gegenzug erhielt Großbritannien das Recht, die Insel Zypern zu besetzen und zu verwalten, die formell unter osmanischer Souveränität blieb. Im Ausgleich hierfür erklärte sich Großbritannien bereit, eine französische Übernahme Tunesiens anzuerkennen, ein Ansinnen, das auch von Bismarck unterstützt wurde.

Verlauf und Ergebnisse

Die 1878 in Berlin neu gezogenen Grenzen auf dem Balkan
Die Grenzen in Transkaukasien nach dem
Frieden von Adrianopel (1.),
Frieden von San Stefano (2.)
und dem Berliner Kongress (3.)

Auf Einladung Bismarcks kamen die europäischen Diplomaten am 13. Juni 1878 in Berlin zusammen. Sie tagten einen Monat lang in der Reichskanzlei. Außer den Vertretern der Großmächte und des Osmanischen Reiches waren auch je ein Vertreter Griechenlands, Rumäniens und Serbiens anwesend, die zwar kein Stimmrecht hatten, aber je nach Geschick in informellen Gesprächen einige Vorteile für ihre Staaten erreichen konnten. Die Bulgaren, deren Staat noch nicht international anerkannt war und die zum Zeitpunkt des Kongresses auch nicht über eine Regierung verfügten, waren in Berlin nicht vertreten. Es war der letzte Kongress zur Regelung internationaler Streitfragen, an dem ausschließlich europäische Mächte teilnahmen.[6]

Der Kongress tagte unter Bismarcks Vorsitz in zwanzig Vollsitzungen, zahllosen Kommissionsberatungen, internen Besprechungen und Arbeitsessen, für die der Hotelier August F. W. Borchardt opulente Büfetts anrichtete. Dafür zahlte ihm die Reichskasse pro Tag 500 Reichsmark, was seine Ausgaben nach eigenen Angaben aber nicht deckte. Kongresssprache war Französisch, nur der britische Premierminister Disraeli beharrte darauf, Englisch zu reden.[2] Bismarck entwarf die dichtgedrängten Tagesordnungen der Sitzungen und drängte auf rasche Erledigung, da seine angegriffene Gesundheit ihn zwinge, möglichst bald nach Bad Kissingen zur Kur abzureisen. Stockten die Verhandlungen über Punkte, die in London nicht hinreichend vorberaten waren, suchte er nach Kompromissen oder drohte mehr oder minder unverhohlen: Die osmanische Gesandtschaft, mit der er rüde umzugehen pflegte, empfing er beispielsweise einmal in voller Uniform einschließlich Pickelhaube.[7]

Gortschakows Hoffnung, Bismarck würde den russischen Aspirationen gegen die britischen Bedenken stärker zum Durchbruch verhelfen, erfüllten sich nicht. Allenfalls moralisch unterstützte der Reichskanzler die russische Position, die wegen gesundheitlicher Probleme Gortschakows hauptsächlich durch Botschafter Schuwalow vertreten wurde. Der Kongress bestätigte in seinen ersten sieben Vollsitzungen bis zum 26. Juni vielmehr weitgehend die Ergebnisse der Londoner Vorberatungen: Der Friede von San Stefano wurde beinahe gänzlich demontiert: Statt eines unter russischem Einfluss stehenden Großbulgariens wurde nun ein selbstregiertes, unter osmanischer Suzeränität bleibendes Fürstentum Bulgarien eingerichtet, dessen Gebiet auf das Territorium der ehemaligen osmanischen Donau-Provinz (das Gebiet zwischen der unteren Donau und dem Balkangebirge) und im Südwesten das Becken von Sofia bis hin zum Rila-Gebirge beschränkt war. Die Oberthrakische Tiefebene südlich des Balkan blieb als autonome Provinz Ostrumelien innerhalb des Osmanischen Reiches. Makedonien wurde wieder der Hohen Pforte unterstellt und blieb bis 1912 die zentrale Provinz Rumeliens. Die Souveränität Serbiens, Montenegros und Rumäniens wurde dagegen vollumfänglich bestätigt. Letzteres musste zum Ausgleich für Russlands Machtverlust Gebiete im südlichen Bessarabien abtreten und wurde mit dem nördlichen Teil der Dobrudscha einschließlich des wichtigen Schwarzmeerhafen Constanța entschädigt.

Vom 26. Juni an befassten sich die europäischen Staatsmänner in mehreren Sitzungen mit den neuen Grenzen der übrigen südosteuropäischen Staaten. Serbien erhielt Gebietserweiterungen an seiner Südgrenze: Außer dem schon in San Stefano gewonnenen Gebiet um Niš wurden nun auch Pirot und Vranje serbisch. Montenegro wurde um mehr als ein Drittel seiner Fläche vergrößert und bekam mit Bar erstmals einen Hafen; all dies ging auf Kosten des Osmanischen Reiches. Der griechische Außenminister Theodoros Deligiannis konnte die Zustimmung der Großmächte für Gebietserweiterungen an der griechischen Nordgrenze erringen. Die genaue Grenzziehung sollten Griechenland und das Osmanische Reich später bilateral aushandeln. 1881 erfolgte daraufhin der Übertrag Thessaliens an Griechenland. Frankreich wurde für seine Zustimmung zum Berliner Vertrag die Annexion des osmanischen Vasallenstaats Tunis in Aussicht gestellt, die ebenfalls 1881 erfolgte.

Österreich-Ungarn erhielt, wie im Budapester Vertrag vom Januar 1877 vorgesehen, das Recht, Bosnien-Herzegowina zu besetzen, das eine Mischbevölkerung von orthodoxen Serben, katholischen Kroaten und Muslimen aufwies. Auch im Sandschak von Novi Pazar wurde ihm der Unterhalt von Truppen zugestanden, der ansonsten aber beim Osmanischen Reich blieb. Dies diente dem Zweck, eine südslawische und damit prorussische Machtbildung auf dem Balkan zu verhindern, wenn etwa Serbien und Montenegro sich vereinigten. Dementsprechend groß war die Empörung der Serben. Auch die Osmanen protestierten, bekamen aber von Andrássy in einer geheimen Abmachung zugesichert, die Regierung in Wien sei bereit, diese Okkupation „als provisorische zu betrachten“.

Gegen Ende des Kongresses wurden die russischen Territorialgewinne in Transkaukasien (Ardahan, Batumi und Kars) bestätigt und die finanziellen Folgen des Krieges (Entschädigungen, osmanische Staatsschulden) beraten. Am 13. Juli 1878 wurden die erzielten Ergebnisse im von den Großmächten und dem Osmanischen Reich unterzeichneten Berliner Vertrag festgehalten.

Folgen

Obwohl die Russen bei nüchterner Betrachtung der Lage das Maximum dessen erlangt hatten, was ohne Krieg erreichbar war,[8] empfanden sie den Berliner Vertrag als Niederlage: Ihre Ordnungsvorstellungen für Südosteuropa hatten sich nicht durchsetzen lassen, der ersehnte direkte Zugang zum Mittelmeer war ihnen verwehrt worden. Die Rivalität Österreichs und Russlands auf dem Balkan vertiefte sich und wurde zu einer Konstante in der europäischen Politik bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Presse unter dem Einfluss des panslawistischen Publizisten Michail Nikiforowitsch Katkow schäumte, Kosaken demonstrierten, allgemein gab man entweder dem Botschafter in London Pjotr Schuwalow oder Bismarck die Schuld.[9]

In der Folgezeit verschlechterte sich auch das deutsch-russische Verhältnis, denn der Außenminister Gortschakow und seine Anhänger lasteten das Verhandlungsergebnis nicht zuletzt dem Wirken Bismarcks an. Zar Alexander II. beklagte sich im so genannten Ohrfeigenbrief vom August 1879 bitter bei seinem Onkel Kaiser Wilhelm I. über Bismarcks Verhalten. Russland kündigte nun das Dreikaiserabkommen, welches aber im Juni 1881 als Dreikaiserbund noch einmal wiederhergestellt wurde. Infolge der bulgarischen Krise 1885, die zur Annexion Ostrumeliens durch Bulgarien führte, lösten sich die Bündnisbeziehungen zwischen den drei europäischen Kaiserreichen endgültig auf. Im Zentrum der deutschen Bündnispolitik stand nun der 1879 mit Österreich-Ungarn geschlossene Zweibund, während Russland sich Frankreich annäherte.

Insgesamt war der Kongress für das Deutsche Reich aber ein großer Erfolg, da die Mächte die faktische Stellung der neuen europäischen Großmacht durch ihren Besuch in Berlin anerkannten. Auch konnte Bismarck demonstrieren, dass er die deutsche Machtstellung nicht zu weiterer nationaler Expansion einzusetzen gedachte: Das Reich zeigte sich demonstrativ saturiert. Theodor Schieder sieht in der bismarckschen Kongressdiplomatie eine erfolgreiche Verwirklichung des im Kissinger Diktat vom Juni 1877 entworfenen Idealbilds „nicht … irgendeines Ländererwerbs, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden.“[6]

Für Österreich-Ungarn war der Berliner Kongress nur vordergründig ein Erfolg. Außer den verschlechterten Beziehungen zu Russland folgten daraus große innenpolitische Probleme bezüglich der staatlichen Integration Bosniens. Auf die Dauer machte sich auch der Unmut Serbiens bemerkbar, dessen Regierung sich Hoffnung auf Gebietsgewinne in Bosnien gemacht hatte. Unmittelbar nach 1878 war in Serbien aber der Zorn auf Russland größer, denn man fühlte sich von seinem großen slawischen Verbündeten zu Gunsten Bulgariens im Stich gelassen.

Appell der mazedonischen Bulgaren an die Großmächte gegen die Entscheidungen vom Berliner Kongress

Auf dem Balkan führte dies zu einem scharfen serbisch-bulgarischen Antagonismus. In drei Kriegen (Serbisch-Bulgarischer Krieg 1885/1886, Zweiter Balkankrieg 1913, Erster Weltkrieg) standen sich beide Länder als Feinde gegenüber und kämpften um den Besitz Mazedoniens. Für die Bulgaren war der Berliner Friedensvertrag eine große Enttäuschung.[10] Sie waren mit den gezogenen engen Grenzen erwartungsgemäß unzufrieden. Als Reaktion gegen die Entscheidungen des Berliner Kongresses brach im Herbst 1878 im Nordosten Makedoniens der Kresna-Raslog-Aufstand aus, der allerdings von regulären osmanischen Truppen unterdrückt werden konnte.[10] Die bulgarische Außenpolitik war bis zum Ersten Weltkrieg konstant darauf ausgerichtet, jene Gebiete zu gewinnen, die Russland den Bulgaren in San Stefano versprochen hatte.

Für das Osmanische Reich war das Ergebnis des Berliner Kongresses zwiespältig. Auf der einen Seite stand es deutlich besser da, als es bei einer Verwirklichung des Friedensvertrags von San Stefano der Fall gewesen wäre. Auch hatten die Großmächte die Vertreter der Hohen Pforte in Berlin als Teilnehmer des „europäischen öffentlichen Rechts und Konzerts“ anerkannt, wie sie es 1856 im Dritten Pariser Frieden zugesagt hatten.[11] Gleichwohl waren die Verluste gegenüber dem Zustand vor Ausbruch der Orientalischen Krise gravierend, und es war deutlich, dass das Osmanische Reich nur Objekt der Verhandlungen, aber kaum verantwortlich gestaltender Teilnehmer war. Der Berliner Kongress und die ausländische Verwaltung seiner Staatsschulden, die das bankrotte Osmanenreich 1881 zugestehen musste, zeigten, dass das einst mächtige Reich zum Kranken Mann am Bosporus geworden war:[12] ein Spielball der Großmächte, das seine Territorien nur deshalb nicht gänzlich verlor, weil Großbritannien, Russland und Österreich-Ungarn sich nicht über die Verteilung einigen konnten. Hinzu kam das Problem des Nationalismus der Balkanvölker, dem in Berlin zumindest teilweise nachgegeben worden war. Er entlud sich Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren antitürkischen Aufständen und führte im Ersten Balkankrieg zum Verlust aller europäischen Provinzen des Reichs.

Uneingeschränkt zufrieden mit den Ergebnissen des Berliner Kongresses war die britische Regierung, denn man hatte Russland erfolgreich aus dem Mittelmeer ferngehalten und zusätzlich Zypern als Flottenbasis gewonnen. Außenminister Lord Salisbury wurde für seine Verhandlungserfolge mit dem Hosenbandorden ausgezeichnet. Premierminister Disraeli äußerte sich daher auch sehr zufrieden über Bismarcks Verhandlungsführung. Das deutsch-britische Verhältnis war noch lange danach von einer gegenseitigen wohlwollenden Neutralität geprägt.

Wertung

Die Wertung des Berliner Kongresses und seiner Ergebnisse ist in der historischen Forschung umstritten. Wegen des offen imperialistischen Feilschens über Territorien ohne jede Rücksicht auf die nationalen Rechte der ansässigen Bevölkerung und wegen der kurzfristigen und kurzsichtigen Politik, die sich dabei zeigte, ist er zum Teil heftig kritisiert worden.[13] Der britische Historiker A.J.P. Taylor urteilt, dass der Friede von San Stefano Südosteuropa größere Stabilität gebracht hätte; der Berliner Vertrag habe dagegen nur eine wacklige und instabile Wiederherstellung der osmanischen Herrschaft über die Balkanvölker gebracht, die nicht von langer Dauer habe sein können.[14] Dem wird die Wahrung des Friedens in Europa gegenübergestellt, auch wenn dies nur für die Beziehungen zwischen den europäischen Großmächten galt und die Verhältnisse auf dem Balkan auch in der Folgezeit krisenhaft und friedensgefährdend blieben.[15]

Vertreter

Deutsches Reich
Frankreich
Großbritannien
Italien
  • Graf Lodovico Corti, Außenminister
  • Marquis Eduardo de Launay, Botschafter in Berlin
Osmanisches Reich
Österreich-Ungarn
Russisches Kaiserreich
Rumänien
Griechenland
Serbien

Literatur

Quellen
  • Imanuel Geiss (Hrsg.): Der Berliner Kongreß 1878. Protokolle und Materialien. Boldt, Boppard am Rhein 1978, ISBN 3-7646-1729-2 (Schriften des Bundesarchivs 27), (deutsche Quellen).
  • Affaires d'Orient. Congres de Berlin 1878. Documents diplomatiques. Ministère des Affaires Étrangères de France, Paris 1878 (französische Quellen).
  • Correspondence relating to the Congress of Berlin, with the protocols of the Congress. London 1878 (Accounts and Papers 1878, Bd. 83), (britische Quellen).
  • Österreich und der Congress. Von einem Deutsch-Österreicher. Wigand, Leipzig 1878.
Allgemeine Darstellungen
  • Friedrich Benninghoven, Iselin Gundermann u. a. (Hrsg.): Der Berliner Kongreß 1878. Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz zur 100. Wiederkehr der Eröffnung des Berliner Kongresses am 13. Juni 1978. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem 1978 (Katalog mit Zeittafel und Bildquellen).
  • Walther Hubatsch: Der Berliner Kongreß 1878. Ursachen, Folgen und Beurteilungen hundert Jahre danach. In: Gerd Kleinheyer, Paul Mikat (Hrsg.): Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Hermann Conrad. Schöningh, Paderborn u. a. 1979, ISBN 3-506-73334-6, S. 307-328 (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft NF 34).
  • Serge Maiwald: Der Berliner Kongress 1878 und das Völkerrecht. Die Lösung des Balkanproblems im 19. Jahrhundert. Wissenschaftliche Verlags-Gesellschaft, Stuttgart 1948.
  • William Norton Medlicott: The Congress of Berlin and after. A diplomatic history of the Near Eastern settlement. 1878–1880. 2. edition. Cass, London 1963.
  • Ralph Melville, Hans-Jürgen Schröder (Hrsg.): Der Berliner Kongress von 1878. Die Politik der Großmächte und die Probleme der Modernisierung in Südosteuropa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Steiner, Wiesbaden 1982, ISBN 3-515-02939-7 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beiheft 7).
  • Alexander Novotny: Quellen und Studien zur Geschichte des Berliner Kongresses 1878. Böhlau, Graz u. a. 1957 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 44).
  • Bruce Waller: Bismarck at the crossroads. The reorientation of German foreign policy after the Congress of Berlin 1878–1880. University of London – The Athlone Press, London 1974, ISBN 0-485-13135-8 (University of London historical studies 35).
  • F. A. K. Yasamee: Ottoman Diplomacy. Abdülhamid II and the Great Powers 1878–1888. Isis Press, Istanbul 1996, ISBN 975-428-088-6 (Studies on Ottoman Diplomatic History 8), (Zugleich: London, Univ., Diss.).
Einzelfragen
  • Iselin Gundermann: Berlin als Kongressstadt 1878. Haude & Spener, Berlin 1978, ISBN 3-7759-0196-5 (Berlinische Reminiszenzen 49).
Bulgarische Sicht:
  • Sava Penkov: Berlinskijat dogovor i Balkanite. Nauka i Izkustvo, Sofia 1985.
Serbische Sicht:
  • Slobodanka Stojičić (Hrsg.): Berlinski kongres i srpsko pitanje 1878–1908. Studentski Kulturni Centar, Niš 1998.
Bosnien:
  • Lothar Classen: Der völkerrechtliche Status von Bosnien-Herzegowina nach dem Berliner Vertrag vom 13.7.1878. Lang, Frankfurt am Main u. a. 2004, ISBN 3-631-52344-0 (Rechts- und sozialwissenschaftliche Reihe 32), (Zugleich: Hamburg, Univ., Diss., 2003).
Montenegro:
  • Jakob Samuel Fischler: Die Grenzdelimitierung Montenegros nach dem Berliner Kongress von August 1878 bis Oktober 1887. Diss. Wien 1924.

Weblinks

 Commons: Congress of Berlin – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 238
  2. a b Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918, Siedler, Berlin 1994, S. 197
  3. Gregor Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914, Oldenbourg, München 2000, S. 16
  4. Artikel in Hottinger′s Volksblatt über Bismarcks Rede vom 19. Februar 1878 (Wikisource)
  5. Theodor Schieder, Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum I. Weltkrieg (1870-1918), in: ders. (Hrsg.) Handbuch der europäischen Geschichte, Union Verlag, Stuttgart 1968, S. 65
  6. a b Theodor Schieder, Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum I. Weltkrieg (1870-1918), in: ders. (Hrsg.) Handbuch der europäischen Geschichte, Union Verlag, Stuttgart 1968, S. 66
  7. Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichskanzler, Beck, München 1998, S. 165-168
  8. so die Einschätzung von George F. Kennan, The Decline of Bismarck's European Order. Franco-Russian Relations, 1875-1890, Princeton 1979
  9. Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918, Siedler, Berlin 1994, S. 198f
  10. a b Mehmet Hacisalihoglu: Die Jungtürken und die Mazedonische Frage (1890–1918), R. Oldenbourg Verlag, München, 2003, ISBN 3-486-56745-4, S. 48
  11. Gotthard Jäschke, Das Osmanische Reich vom Berliner Kongreß bis zu seinem Ende, in: Theodor Schieder (Hrsg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Union Verlag, Stuttgart 1968, S. 539
  12. Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 240
  13. William Norton Medlicott, The Congress of Berlin and After. A Diplomatic History of the Near Eastern Settlement 1878-1880, 2. Aufl., Routledge, London 1963
  14. A.J.P. Taylor, The Struggle for Mastery in Europe 1848-1918, Oxford University Press, Oxford 1954, S. 253
  15. Theodor Schieder, Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum I. Weltkrieg (1870-1918), in: ders. (Hrsg.) Handbuch der europäischen Geschichte, Union Verlag, Stuttgart 1968, S. 67

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