Ökonophysik

Ökonophysik

Die Ökonophysik ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das sich mit der Anwendung von Methoden und Theorien, die ursprünglich der Physik entstammen, auf ökonomische Fragestellungen beschäftigt. In diesem Zusammenhang werden vor allem nicht-lineare Dynamiken, sowie Werkzeuge[1] aus der statistischen Mechanik verwendet. Speziell im Bereich der Finanzmärkte führte diese Herangehensweise zu neuen Erkenntnissen und der Entdeckung robuster[2] Potenzgesetze (das heißt im Jargon der Physik: „Skalenverhalten mit universellen fraktalen Exponenten“).

In der Ökonophysik geht es um die Beschreibung komplexer, dynamischer Systeme durch mathematische Modelle. Dabei nimmt die Ökonophysik für sich jedoch keinesfalls in Anspruch zukünftige Ereignisse wie etwa Börsenkurse vorausberechnen zu können. Schließlich handelt es sich bei einem Börsenkurs um eine einzelne ökonomische Größe, deren Analyse der makroskopischen Herangehensweise dieser Wissenschaft widerspräche. In der Regel hat man es ohnehin nur mit Wahrscheinlichkeitsaussagen zu tun. Die Ökonophysik versucht aber robuste Zusammenhänge beispielsweise in einem Portfolio[3] nachzuweisen, also bei einem größeren System mit verschiedenen Variablen.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte und Grundüberlegung

Der Anfang der 1990er Jahre wird als Beginn der Ökonophysik betrachtet. Die Flut wirtschaftswissenschaftlicher Daten aus den 1980ern und die Unzufriedenheit über traditionelle Erklärungsansätze ermutigte Physiker mithilfe von Erkenntnissen aus der statistischen Mechanik die Ökonomie zu erforschen.

Die eigentliche Initialzündung zu dieser neuen Wissenschaft ist aber Mitte der 1980er Jahre zu suchen, als das Santa Fe Institute gegründet wurde. Maßgeblich von Physikern und Ökonomen geleitet, wurden im Wirtschaftsprogramm des Instituts erste Versuche in Richtung einer grundlegend geänderten Wirtschaftswissenschaft unternommen. Diese nahm Märkte und die Volkswirtschaft als Ergebnis eines Zusammenspiels vieler heterogener Agenten wahr, in dem das Phänomen der sog. Emergenz eine entscheidende Rolle spielt. Sie stand damit in krassem Gegensatz zur neoklassisch geprägten traditionellen Volkswirtschaftslehre, die von homogen agierenden Marktteilnehmern ausgeht und eine rein mikrobasierte Auffassung vertritt. Das bedeutet eine Wirtschaft vom einzelnen „allgemeinen“ Teilnehmer ausgehend durch Aggregation zu modellieren: Eine Herangehensweise, die im Gegensatz zur mehr atomistischen Methode der Physiker steht, die zwar nicht in der Lage ist, viele der bekannten sog. makroökonomischen Gesetzmäßigkeiten der Volkswirtschaftslehre elementar zu erklären, aber von den atomistischen Prozessen ausgeht und sich überwiegend auf Wahrscheinlichkeitsaussagen beschränkt.

Auswirkung auf die traditionelle Volkswirtschaftslehre

Die Entwicklung der Volkswirtschaftslehre zeichnete sich im Laufe der Geschichte wiederholt durch die Übernahme naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, insbesondere aus der Physik aus. Beeinflusst durch die Arbeit Isaac Newtons entwickelte der Philosoph Auguste Comte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Vision der Sozialphysik. Die später folgenden Gleichgewichtstheorien Alfred Marshalls und Francis Edgeworths basierten auf den Arbeiten James Clerk Maxwells und Ludwig Boltzmanns zum statistischen Verhalten individueller Agenten. Diese Form der interdisziplinären Zusammenarbeit bzw. Übernahme von Konzepten kam in den 1930er Jahren nahezu vollständig zum Erliegen und erfuhr erst in den 1980er Jahren eine Renaissance.

Während in diesem Zeitraum in den verbreiteten volkswirtschaftlichen Theorien die Annahme des Homo oeconomicus, des (vereinfacht formuliert) rational handelnden Nutzenmaximierers vorherrschend war, wurde in den Naturwissenschaften fachübergreifend an komplexen adaptiven Systemen geforscht. Die Idee rational handelnder Akteure in einem realen System, wie beispielsweise der Volkswirtschaft, wird als zu stark vereinfacht abgelehnt. Stattdessen entwickelt sich aus dem scheinbar chaotischen Zusammenspiel des Verhaltens der individuell handelnden Agenten ein stabiles Verhalten in der Gesamtheit. Die Makroökonomie entwickelt sich demzufolge aus der Mikroökonomie. Dies steht im Gegensatz zu der traditionell eher starken Trennung dieser beiden Ebenen. Während der Markt in der klassischen Ökonomie ein Gleichgewicht herausbildet in dem die Märkte geräumt sind und Marktpreisverteilungen der Gauß'schen Normalverteilung folgen, sind komplexe Systeme ständigen Schwankungen unterworfen wie Benoit Mandelbrot 1963 in seiner Untersuchung von Börsenkursen zeigte.[4]

Kritik an der Herangehensweise der Ökonophysiker bezieht sich auf die weitgehenden Ignoranz der "Idee, Geschichte und kulturellen Hintergründe des Problems" sowie der Literatur und die Beschränkung auf die reine Datenanalyse und damit die Finanzmärkte, in denen die beste Datenlage vorhanden sei. Das zu untersuchende Feld beinhalte aber ein wesentlich größeres Spektrum in denen die Finanzmärkte nur eine kleine Rolle spielen würden.

Dies hätte zur Folge, dass ein Großteil ökonophysikalischer Aufsätze in physikalischen Wissenschaftsmagazinen und speziell für die Ökonophysik aufgelegten Magazinen wie dem Journal of Economic Interaction and Coordination und von Physikern veröffentlicht wird.[5]

Siehe auch

Nachweise

  1. Duncan K. Foley: Statistical Equilibrium in Economics: Method, Interpretation, and an Example In: XII Workshop on “General Equilibrium: Problems, Prospects and Alternatives” 07-1999 New School University, New York.
  2. „Robust“ heißt hier: „unempfindlich gegen unwesentliche Störungen“, d.h. bei Beibehaltung der „wesentlichen“ Eigenschaften. Es bleibt die Aufgabe, festzustellen, welche Eigenschaften in diesem Sinne „wesentlich“ sind und welche nicht .
  3. Thomas Lux: Applications of Statistical Physics in Finance and Economics In: Economic Working Papers 05-2007 CAU Kiel.
  4. Carbone, A.; Kaniadakis, G.; Scarfone, A. M.; Where do we stand on econophysics?; Physica A, 08.2007, Volume 382, Issue 1, p. xi-xiv.
  5. Ball, Philip; Econophysics: Culture Crash; Nature 441, S. 686-688; 8. Juni 2006

Literatur

Weblinks


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