Äneide

Äneide

Die Aeneis (veraltet auch Äneide) ist das von Vergil auf der Grundlage früherer Überlieferungen gestaltete Epos von der Flucht des Aeneas aus dem brennenden Troja und seinen Irrfahrten, die ihn schließlich nach Latium führen, wo er zum Stammvater der Römer wird. Die Aeneis erzählt also einen der Gründungsmythen des römischen Reiches. Das Epos, an dem Vergil zwischen 29 v. Chr. und seinem Tod 19 v. Chr. arbeitete, besteht aus zwölf Büchern mit insgesamt etwa 10.000 hexametrischen Versen.

Inhaltsverzeichnis

Aufbau und Inhalt

Federico Barocci: Aeneas’ Flucht aus Troja, 1598

Der Aufbau der Aeneis verbindet mehrere Gliederungskonzepte. Am auffälligsten ist die Aufteilung in eine „odysseische“ und eine „iliadische“ Hälfte: Die ersten sechs Bücher der Aeneis übernehmen viele Motive aus Homers Odyssee (z. B. Seesturm, Irrfahrten, Abstieg in die Unterwelt). In den weiteren sechs Büchern, die die Kämpfe in Latium beschreiben, orientiert Vergil sich vornehmlich an der Ilias. Ferner gibt es Vierer-, Dreier-und Zweiergruppen.

Die Bücher 1 und 4 bilden einen Rahmen: Aeneas landet nach einem Seesturm, den er dem Zorn der Juno verdankt, an der Küste Karthagos. Dort wird er von Königin Dido gastlich aufgenommen. Venus, die Mutter Aeneas’, sorgt aus Angst um ihren Sohn dafür, dass sich Dido in den Gast verliebt. Zu diesem Zweck nimmt Amor, der Gott der Liebe, die Gestalt des Ascanius, des Sohnes des Aeneas, an; Ascanius selbst wird von Venus eingeschläfert und an ihren Kultort Idalium gebracht. Als sich Amor als Ascanius beim abendlichen Gastmahl auf Didos Schoß setzt, „vergiftet“ er die Königin mit Liebesleidenschaft zu Aeneas. (Liebe wird als Gift und zerstörerische Flamme dargestellt.)

In den Büchern 2 und 3 erzählt Aeneas bei diesem Gastmahl am Hofe Didos rückblickend vom Untergang Trojas und seinen Irrfahrten.

Im 2. Buch flieht er auf Geheiß Jupiters aus der brennenden Stadt, um ein neues Troja zu gründen. Er kann seinen Sohn Ascanius (Iulus), seinen Vater Anchises und die Penaten retten, nicht aber seine Frau Kreusa.

Im 3. Buch berichtet Aeneas von seiner bisherigen Reise (von Troja nach Karthago): Nach der Abfahrt aus dem zerstörten Troja landet Aeneas zunächst in Thrakien, wo er eine Stadt nach seinem Namen zu gründen gedenkt. Doch als er die für das Opfer nötigen Zweige einiger Sträucher auf einem nahe gelegenen Hügel ausreißen möchte, tropft Blut aus ihnen hervor. Aeneas befindet sich auf einem Grabhügel, wie die Stimme des Bestatteten – es handelt sich um Polydorus, einen jungen Sohn des Priamos –, die aus dem Inneren des Hügels dringt, verrät; die Zweige sind die Speere, mit denen der thrakische König Polymestor ihn ermordet hat. In der Versammlung wird der Beschluss gefasst, den Landsmann ordentlich zu bestatten und daraufhin das befleckte Land zu verlassen.

Auf Delos werden die Trojaner von König Anius empfangen; der dortige Orakelgott Apollo trägt den Trojanern auf, ihre „alte Mutter“ (antiqua mater) zu suchen; dort werde ihren künftigen Generationen die Weltherrschaft zuteil. Anchises, der Vater des Aeneas, deutet den Spruch auf die Kultheimat der Großen Mutter (Magna Mater) Kybele, nämlich Kreta, wohin die Trojaner auch gleich aufbrechen.

Die neu gegründete Stadt auf Kreta wird jedoch bald von einer Seuche heimgesucht, einer gefährlichen Dürre im Hochsommer; Tiere und Menschen lassen ihr Leben. Als Anchises eine Rückkehr zum Orakelgott erwägt, erscheinen in der Nacht dem Aeneas im Auftrag des Apollo die Penaten, die Staatsgötter, und berichten ihm vom Unwillen des obersten Gottes Jupiter: Hier auf seiner Insel sei es ihnen nicht vergönnt zu bleiben, sie sollen vielmehr ihre Fahrt fortsetzen und Hesperien, auch Italien genannt, suchen.

Nach der Abfahrt aus Kreta geraten die Trojaner in einen dreitägigen Seesturm, der ihnen jede Orientierung raubt. Am vierten Tag landen sie auf den Strophaden, wo sie unbeaufsichtigte Rinder- und Kleintierherden vorfinden. Ausgehungert schlachten sie sie als Opfer für Jupiter und machen sich ans Schmausen, da greifen die Harpyien an und beflecken die Speisen mit ihren Ausscheidungen. Wiederholte Opferversuche werden durch immer neue Angriffe der widerlichen Vogelwesen vereitelt. Da entschließt sich Aeneas zum Krieg und legt einen Hinterhalt; mit dieser List werden die Harpyien zurückgetrieben, doch eine von ihnen namens Celaeno prophezeit ihnen mit Berufung auf die höchsten Autoritäten Apollo und Jupiter fluchartig eine schlimme Hungersnot bei ihrer Ankunft in Italien: sie werden sogar Tische verzehren müssen.

Nach Ithaka, der Heimat ihres Erzfeindes Odysseus, die sie im Vorbeifahren verfluchen, gelangen die Trojaner an den Strand von Actium, wo Aeneas Wettspiele veranstaltet und am dortigen Apollotempel den Schild des Griechen Abas weiht. (Die Station verweist implizit auf die Bedeutung des Orts als Schauplatz der Schlacht von Actium.)

Um die Zeit des Wintereinbruchs kommen die Trojaner dann in Buthrotum an; dort hat Helenus, ein Sohn des Priamus, die Herrschaft über die Griechen übernommen, ihm zur Seite steht Andromache, die Witwe des vor Troja im Zweikampf gegen Achill gefallenen Hektor, des Bruders des Helenus. Ihr begegnet Aeneas zuerst, als sie gerade am Kenotaph ihres früheren Mannes opfert. Als sie die Trojaner erblickt, bricht sie in eine Art hysterischen Anfall aus und hält Aeneas zunächst für einen Geist. Erst allmählich kehrt ihre Besinnung zurück, und sie berichtet von ihrem Schicksal nach dem Fall Trojas – zunächst Sklavin und Bettgenossin des Pyrrhus, dann Gemahlin des Helenus. Da kommt Helenus herbei und zeigt ihnen die Stadt: eine Replik Trojas, komplett mit Burg und gleichnamigen Flüssen. Aeneas umarmt weinend die Pfosten der Scheinheimat. Nach Tagen der Bewirtung gemahnen günstige Winde zur Abfahrt. Helenus erteilt dem Aeneas in seiner Funktion als Priester des Apollo eine ausgedehnte Prophezeiung über den weiteren Fahrtverlauf und wie er sich zu verhalten habe. Insbesondere ein Opfer an Juno vor der Überfahrt von Sizilien nach Italien wird ihm nahegelegt. Nach Geschenken und Abschiedsworten setzen die Trojaner in einer nächtlichen Fahrt vom Fuße des Kerauniagebirges an die Ostküste Italiens über.

Freudig begrüßen die Trojaner von See aus die neue Heimat. Doch es kann kein Bleiben geben: Wie sie von Helenus erfahren haben, ist die Gegend von feindlich gesinnten Griechen besiedelt. Nach einem Opfer an Juno und Minerva am Tempel in Castrum Minervae und einem Omen von vier weißen Pferden, das Krieg, aber letztendlich auch Frieden verheißt, fahren die Trojaner Richtung Sizilien.

An der Straße von Messina gewahren die Trojaner die Rauchschwaden des Ätna und steuern den Anweisungen des Helenus zufolge hart links, um Scylla zu entgehen; sie geraten jedoch in die Charybdis und werden gegen Nacht orientierungslos an die Gestade der Kyklopen gespült. Dort begegnen sie am nächsten Tag dem verwahrlosten Achaemenides, einem Gefährten des Odysseus, der von diesem in der Höhle des Kyklopen Polyphem zurückgelassen wurde. Er bittet die Trojaner, ihn mitzunehmen, obwohl er Gefährte ihres bitteren Feindes sei, um ihn vor den Ungeheuern zu retten. Anchises reicht dem einstigen Feind die Hand. Gerade noch rechtzeitig entkommen sie durch eilige Abfahrt dem Polyphem, der einen gewaltigen Schrei ausstößt, als er sie nicht mehr erreichen kann. Da eilen die anderen Kyklopen herbei und bleiben drohend am Gestade stehen, ohne dass auch sie etwas ausrichten könnten. Achaemenides führt sie nun an den Städten Siziliens vorbei. In Drepanum (heute Trapani) an der Westküste Siziliens stirbt Anchises, der Vater des Aeneas, unerwartet an Erschöpfung. Die Erzählung erreicht hier eine bemerkenswerte Kürze: Weder von der Bestattung des Vaters noch von der gastlichen Aufnahme durch Acestes berichtet Aeneas genau. Von Drepanum aus verschlug „ein Gott“ ihn nach Karthago, so endet der Held seine Erzählung.

Der Tod Didos, Illustration um 400 n. Chr. (Vergilius Vaticanus)

Im 4. Buch entbrennt Dido offen für Aeneas. Venus und Juno, die Beschützerin Didos, schließen ein Zweckbündnis, und es kommt während eines Unwetters bei einer Jagd zur Liebesvereinigung in einer Höhle, begleitet von einer Art kosmischer Parodie eines Hochzeitsritus. Aeneas und Dido werden ein Paar; Dido nennt ihr Zusammensein „eheähnliche Verbindung“ (coniugium im Gegensatz zu conubium, der Rechtsform der Ehe), verbrämt damit aber, so der Dichter, nur ihre Schuld: denn sie hat geschworen, ihrem ermordeten Gatten Sychaeus eine univira (Frau eines Mannes) zu bleiben. Das Gerücht von der Affäre gelangt schließlich zu den Ohren Jupiters. Der sendet Merkur los, um Aeneas an seinen Schicksalsauftrag zu erinnern. Aeneas gehorcht sofort und rüstet zur Abfahrt. Als Dido davon erfährt, macht sie ihm verzweifelte Vorhaltungen. Aeneas aber bleibt fest. Heimlich reist er ab. Darauf tötet Dido sich selbst auf einem Scheiterhaufen mit einem Schwert, einem Geschenk des Aeneas. Doch zuvor schwört sie selbst Rache, beschwört einen Rächer herauf und schafft so die Grundlage für den späteren Konflikt zwischen Rom und Karthago (punische Kriege). Das Buch schließt mit dem Tod der karthagischen Königin: Juno erbarmt sich ihres langen Todeskampfes und entsendet die Götterbotin Iris. Diese steigt in einem Regenbogen herab und schneidet Dido eine Locke ab, um sie der Unterwelt zu weihen. Da verlässt den Körper die Lebenswärme.

Das 5. Buch wird gerne als das „Buch der Spiele“ bezeichnet und beschreibt den zweiten Aufenthalt des Aeneas auf Sizilien.

Am Anfang des Buchs befindet sich Aeneas mitten auf dem Meer, von wo er den Schein des nun bereits brennenden Scheiterhaufens Didos erblickt: ein böses Omen, dessen genauer Bedeutung er sich jedoch nicht sicher sein kann. Ziel der Fahrt ist wieder Italien, doch Aeneas wird erneut durch einen Seesturm gezwungen, den Kurs zu ändern und nach Sizilien zurückzukehren, wo er vom dortigen König Acestes freundlich aufgenommen wird.

Anlässlich des Todestages seines Vaters, den er hier vor einem Jahr bestattet hat, opfert Aeneas am Grab. Eine Schlange zeigt sich und frisst die auf den Altären dargebotenen Speisen. Unschlüssig, ob es sich um eine Grabesschlange oder den Genius des Ortes handelt, nimmt Aeneas sie doch als günstiges Zeichen. Zudem hält der Held Leichenspiele mit den Bewerben Regatta, Wettlauf, Boxkampf, Bogenschießen ab, die einen großen Teil des Buchs einnehmen. Zuletzt und als Überraschung lässt Aeneas das sogenannte Trojaspiel (Troiae lusus), eine Reiterparade der trojanischen Jünglinge, aufführen.

An diesem Höhepunkt der Festlichkeiten entsendet die immer noch von Schmerz erfüllte Göttin Juno die Botin Iris, Göttin des Regenbogens. Diese erblickt die trojanischen Mütter, die den Spielen nicht beiwohnen dürfen und stattdessen auf einer Klippe um Anchises klagen; der Wunsch nach einer Stadt und dem Ende der Irrfahrten wird laut. Iris nimmt die Gestalt der erkrankten und daher nicht anwesenden Beroe an und mischt sich unter die Mütter. In einer Trugrede berichtet sie, dass ihr Cassandra im Traum dazu geraten habe, die Schiffe zu verbrennen, da hier das Ziel der Reise erreicht sei, worauf sie auch gleich eine Fackel auf die Schiffe wirft. Da ergreift Pyrgo, die Amme des Priamus, das Wort und verweist darauf, dass die echte Beroe erkrankt sei – sie habe sie eben erst besucht – und dass diese hier in vielem einer Göttin ähnele. Noch sind die Mütter unschlüssig, da gibt sich Iris in einem eindrucksvollen Abgang mit Regenbogen endgültig als Göttin zu erkennen. Die Mütter geraten in Raserei und setzen mit den Fackeln von den Altären Neptuns die Flotte in Brand. Als die beim Trojaspiel versammelten Männer den Rauch aufsteigen sehen, reitet Ascanius, der das Trojaspiel anführte, auf seinem Pferd zur Flotte und kann die Mütter zur Besinnung bringen und „von Juno befreien“. Doch erst als Aeneas den höchsten Gott Jupiter um Hilfe bittet, der als Antwort auf das Gebet des Helden einen gewaltigen Regenguss auf die Flotte niedergehen lässt, wird das Feuer gelöscht. Von den Schiffen sind vier verloren. Aeneas scheint nun gezwungen, den überschüssigen Teil seiner Gefolgschaft auf der Insel zurückzulassen und eine Stadt für sie zu gründen; so auch sein älterer Ratgeber Nautes. Doch ist Aeneas noch immer zwischen Weiterfahrt und Bleiben hin- und hergerissen. Da erscheint ihm in der Nacht der Geist seines Vaters Anchises, bekräftigt den Ratschlag des Nautes mit dem Hinweis, dass in Latium ein kriegerisches Volk zu besiegen sei und daher nur die Stärksten mitfahren sollten, und gibt seinem Sohn den Auftrag, ihn im Elysium zu besuchen, wo er ihm näheres erzählen könne. Aeneas gründet nun die Stadt und benennt sie nach Acestes, ihrem Herrscher (gemeint ist das historische Segesta).

Nach einem tränenreichen Abschied von den Müttern, die nun doch gerne mitkommen wollten, segelt die Flotte nach Italien ab. Venus kann in einem Göttergespräch bei dem dem Aeneas freundlich gesinnten Meeresgott Neptun erwirken, dass die Fahrt gefahrlos verläuft, doch kündigt dieser an, dass ein Mensch sein Leben lassen wird: unum pro multis dabitur caput („ein Haupt wird anstelle von vielen hingegeben werden“). Auf der nächtlichen Überfahrt – die Mannschaft schläft, die Winde treiben die Flotte von selbst – erscheint gegen Mitternacht Somnus, der Gott des Schlafs, bei dem immer wachsamen und dem Meer gegenüber misstrauischen Palinurus, dem Steuermann des Flaggschiffs, schläfert ihn ein und stößt ihn mitsamt dem Steuer ins Meer. Als Aeneas es merkt – sie fahren gerade an den Gestaden der Sirenen vorüber –, übernimmt er selbst das Steuer und klagt unter Tränen um den verlorenen Gefährten.

Nach der Landung an der Westküste Italiens (Buch 6) steigt Aeneas mit der Sibylle von Cumae in die Unterwelt ab. Dort erfährt er durch Anchises von der künftigen Größe und dem Geschichtsauftrag Roms, der Stadt, die aus seiner Gründung entstehen wird. Außerdem begegnet er dort der durch Suizid gestorbenen Dido, die ihn jedoch ignoriert. Sie ist noch immer von der tiefen Wunde gezeichnet.

Mit Buch 7 beginnt die Geschichte der Kämpfe des Aeneas. Er landet in Latium, dem verheißenen Land, und wird dort von König Latinus freundlich aufgenommen. Latinus verspricht ihm seine Tochter Lavinia zur Frau. Juno interveniert vermittels der Furie Allecto und hetzt den Fürsten der Rutuler, Turnus, der seinerseits Lavinia begehrt, zum Krieg gegen Aeneas auf.

Rat der Götter. Illustration in einem spätantiken Codex (Vergilius Romanus)

In Buch 8 sucht Aeneas auf den Ratschlag des Flussgottes Tiberinus Verbündete bei Euander von Arkadien, der an der Stätte des zukünftigen Rom siedelt, und im Anschluss daran auch bei den noch weiter nördlich gelegenen Etruskern, die gegen ihren grausamen Tyrannen Mezentius, einen Mitstreiter des Turnus, aufbegehren. Außerdem erhält Aeneas von seiner Mutter Venus einen von Vulcanus gefertigten Schild, auf dem wichtige Ereignisse der römischen Geschichte dargestellt sind (die sogenannte Schildbeschreibung).

Währenddessen (Buch 9) geraten die Trojaner in größte Gefahr: Juno entsendet Iris, die Turnus auf die günstige Gelegenheit hinweist, in der Abwesenheit des Aeneas gegen das Lager der Trojaner zu ziehen. Turnus greift mit dem vollen Truppenaufgebot an, und als sich ihm niemand auf offenem Feld stellt – so der Auftrag des Aenas –, macht er sich daran, die Flotte in Brand zu stecken. Da greift Cybele mit Zustimmung Jupiters ein und rettet die Schiffe, die aus den Fichten ihres Heiligen Hains am Ida gefertigt wurden, indem sie sie in Nymphen verwandelt. Turnus deutet das Zeichen dennoch zuversichtlich gegen die Trojaner.

In der Nacht versucht das Freundespaar Nisus und Euryalus, das schon im Wettlauf des 5. Buchs auftrat, in einem Ausfall die Nachricht von der Belagerung zu Aeneas zu bringen, der ja fern vom Lager bei den Etruskern ist. Die beiden richten im feindlichen Lager ein Blutbad an. Später werden sie jedoch von einer berittenen Verstärkung des Feindes am Glänzen eines erbeuteten Helms entdeckt. Sie sterben den Heldentod, ihre abgeschlagenen Köpfe werden auf Lanzen aufgespießt und am nächsten Tag vor den Augen der entsetzten Trojanern vorgeführt. Die Klagen der Mutter des Euryalus stellen eine Gefährdung für die Moral der Truppe dar; sie wird rechtzeitig beiseite geführt. Im Laufe der anschließenden Kämpfe kann Turnus ins Lager eindringen, jedoch allein; er wird erfolgreich zurückgeschlagen und rettet sich mit einem Sprung in den Tiber.

In Buch 10 beendet Jupiter eine Götterversammlung damit, dass er den Kampfparteien freie Hand gibt: Das Schicksal wird seinen Weg finden. Das Kriegsglück wendet sich für die Trojaner: Aeneas kommt zurück und verteidigt das Lager. Dabei stirbt Pallas, der jugendliche Sohn des Euander, im Kampf gegen Turnus.

Buch 11 berichtet von Leichenfeiern und einem Waffenstillstand, daneben von weiteren Kämpfen unter vermehrtem Einsatz von Kavallerie, in denen die amazonenhafte Kriegerin Camilla auf italischer Seite ins Zentrum der Darstellung rückt.

Im letzten Buch greift Juno anfangs noch einmal für Turnus ein. Danach kommt es aber zum entscheidenden Zweikampf zwischen ihm und Aeneas. Aeneas siegt; Turnus fleht um Gnade. Aeneas hält inne; da fällt sein Blick auf das Wehrgehenk, das Turnus dem getöteten Pallas abgenommen hat, und zornentflammt tötet er den besiegten Gegner.

Textbeispiel: Das Ende der Aeneis (12, 940–952)

Et iam iamque magis cunctantem flectere sermo
coeperat, infelix umero cum apparuit alto
balteus et notis fulserunt cingula bullis
Pallantis pueri, victum quem vulnere Turnus
straverat atque umeris inimicum insigne gerebat.
ille, oculis postquam saevi monimenta doloris
exuviasque hausit, furiis accensus et ira
terribilis: ’tune hinc spoliis indute meorum
eripiare mihi? Pallas te hoc vulnere, Pallas
immolat et poenam scelerato ex sanguine sumit.'
hoc dicens ferrum adverso sub pectore condit
fervidus; ast illi solvuntur frigore membra
vitaque cum gemitu fugit indignata sub umbras.

„Und schon mehr und mehr hatte Turnus’ Rede begonnen, Aeneas in seinem Zögern umzustimmen, da geriet ihm oben an der Schulter der unglückselige Schwertgurt in den Blick, und mit wohlbekannter Verzierung glänzte das Wehrgehenk des jungen Pallas, den, schon besiegt, Turnus mit dem Todesstoß niedergestreckt hatte; und jetzt trug der den Schmuck des Gegners auf der Schulter! Und Aeneas sprach, nachdem er mit seinen Augen dieses Mahnmal für seinen grausamen Schmerz, die Kriegsbeute, erfasst hatte, von rasendem Zorn entbrannt schrecklich: „Sollst du, mit Beutestücken von meinen Leuten bekleidet, mir entkommen? Pallas, Pallas opfert dich mit diesem Stoß und nimmt Rache an Verbrecherblut!“ Und indem er dies spricht, stößt er wütend das Schwert in die ihm zugewandte Brust; doch jenem erschlaffen in Todeskälte die Glieder, und seufzend flieht empört sein Leben zu den Schatten.“

Zusammenschau

Die Aeneis ist ein Epos auf die Größe Roms und feiert die niemals endende Herrschaft (imperium sine fine) der Römer. Zugleich wirbt die Aeneis um Mitgefühl für die Opfer der römischen Hegemonie, die im Macht- und Intrigenspiel der Götter, im sinnlosen Aufbegehren Junos gegen das Schicksal (fatum) ihr Leben lassen. Auf den modernen Leser mögen Aeneas’ bedingungslose Hingabe an sein Ziel und seine starke Bindung an Autoritäten wie seinen Vater Anchises und an die Weisungen der Götter ungewohnt wirken; aber in der Gestalt des Aeneas hat Vergil auch das Ideal des römischen Princeps dargestellt und einen Helden geschaffen, der sich nicht durch kriegerisches Draufgängertum auszeichnet, sondern durch sein Pflichtbewusstsein (pietas), das ihn alle eigenen Belange hintan stellen lässt.

Vergils Quellen

Die wichtigsten Vorlagen für die Aeneis sind natürlich die homerischen Klassiker Ilias und Odyssee. Viele Haupt- und Nebenmotive, ja ganze Textpassagen sind eng an Homer angelehnt (beispielsweise Aeneas im Seesturm und das Beinahe-Ertrinken des Achilles in einem Fluss). Dabei geht es Vergil freilich nicht um bloßes Nachahmen sondern um künstlerischen Wettstreit; nicht ohne Grund kondensiert er die je 24 Bücher Homers auf genau zwölf.

Neben Homer spielt auch das hellenistische Epos Argonautika des Apollonios von Rhodos eine große Rolle, am deutlichsten in der Gestaltung der Liebeserzählung zwischen Dido und Aeneas nach derjenigen zwischen Jason und Medea (wohl auch in der lateinischen Übersetzung des Varro Atacinus, die bis auf wenige Fragmente verloren ist).

Die wichtigsten lateinischen Vorlagen sind das Bellum Poenicum des Gnaeus Naevius und besonders die Annales des Ennius, zur Zeit Vergils das klassische römische Epos. Ennius wird an zentralen Stellen teilweise wörtlich zitiert. Die Aeneas-Sage steht aber in Naevius’ Bellum Poenicum nicht im Vordergrund, sondern wird als Ursache für die Punischen Kriege angeführt. Die Annales des Ennius unterscheiden sich vom Bellum Poenicum und der Aeneis besonders darin, dass keine Beschränkung auf ein einziges Thema vorliegt, sondern sie ein fortlaufendes Gedicht bilden.

Entstehungsgeschichte der Aeneis

Bereits in den Georgica findet sich eine Andeutung auf Vergils Absicht, ein Epos zu schreiben. Es heißt dort (Georg. III 46–48):

Mox tamen ardentis accingar dicere pugnas / Caesaris et nomen fama tot ferre per annos / Tithoni prima quot abest ab origine Caesar
(„Aber dann rüst’ ich mich bald, die heißen Schlachten zu singen / Cäsars, daß sein Name so viele Jahre durchtöne, / Als von Tithonus an bis herab auf Cäsar er zählet.“ Übersetzung: Johann Heinrich Voß).

Augustus war an diesem Vorhaben sehr interessiert und bat um Entwürfe. Vergil soll zunächst Prosafassungen erstellt haben, die er später in willkürlicher Reihenfolge ins Hexameter übertrug. In öffentlichen Vorlesungen trug Vergil einzelne Ausschnitte vor und beobachtete die Wirkung auf das Publikum. Er versuchte, sehr detailgenau zu schreiben, und stellte hohe Ansprüche an sein Schaffen. Daher verfügte er auch, dass bei seinem Tod das unvollendete Werk vernichtet werden sollte. Als er jedoch starb, ohne die Aeneis vollenden zu können, befahl Augustus den Nachlassverwaltern, Varius und Plotius Tucca, Vergils Wunsch nach Vernichtung zu missachten und die Aeneis so wenig bearbeitet wie möglich zu veröffentlichen. So sind in dem Werk zahlreiche Halbverse stehen geblieben; das tatsächliche Ausmaß der Überarbeitung der Aeneis durch Vergils Dichterkollegen ist jedoch schwer zu bestimmen und in der Forschung umstritten.

Weiterwirken

Auch unvollendet wurde die Aeneis sofort als Meisterwerk erkannt. Sie wurde schon kurz nach ihrer Veröffentlichung zur Schullektüre, wobei sie das Epos des Ennius als Klassiker völlig verdrängte. Auf diese Weise war sie äußerst einflussreich für die weitere antike und christlich-antike Literatur. Es gab sogar Übersetzungen ins Griechische. Lucans Pharsalia war ein Gegenentwurf zur Aeneis, ohne freilich je deren Bedeutung zu erreichen. Bis in die Spätantike galt Vergils Werk als vorbildlich; so orientierte sich noch Corippus an seiner Epik. Zudem wurde Ende des 4./Anfang des 5. Jahrhunderts vom so genannten Symmachuskreis eine verbesserte Neuausgabe erstellt, die sich heute im Vatikan befindet (Cod. Vat. lat. 3225; Vergilius Vaticanus).

Die Handschriftentradition der Aeneis wurde bruchlos ins Mittelalter geführt. Im Mittelalter galt Vergil als „der Dichter“. Ein wichtiges Werk der altfranzösischen Literatur ist der auf der Aeneis basierende Roman d'Énéas. Dessen Übersetzung wiederum durch Heinrich von Veldeke etwa 1183 markiert den Beginn der höfischen deutschen Literatur in der Volkssprache. Am Beginn der Renaissance entwarf Dante seine Göttliche Komödie auf der Folie des sechsten Buches der Aeneis. Die Dido-Geschichte findet sich bei Boccaccio („Amorosa Visione“) und bei Petrarca, in der mittelenglischen Literatur bei Geoffrey Chaucer („Legend of Good Women“, „House of Fame“). Es gab sogar Versuche, das Ende der Aeneis durch ein dreizehntes Buch abzurunden. Daneben erschienen mehr und mehr nationalsprachliche Übersetzungen der Aeneis, in Deutschland zuerst durch Thomas Murner im Jahr 1515, in Spanien durch Enrique de Villena (1427/28). In der deutschen Klassik und besonders in der Romantik hingegen sank das Ansehen der Aeneis, da man Vergil als Epigonen verstand und das „Originalgenie“ Homer bevorzugte. Erst im 20. Jahrhundert setzte neues Interesse an Vergils Epos ein.

Kontroversen um die Aeneis

Aeneas und Dido

Die Geschichte um Aeneas und Dido lässt sich, wie die Rezeptionsgeschichte gezeigt hat, auf zwei völlig entgegengesetzte Weisen lesen: Als Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, wobei der Held selbstlos im Dienst der höheren Sache, in der Verpflichtung seinem Sohn Ascanius gegenüber, der einst in Italien herrschen soll, und nicht zuletzt auf Geheiß des obersten Gottes auf persönliches Glück verzichtet, oder als Konflikt zwischen wahrhaftiger Liebe und gefühlsverachtender männlicher Kälte. Der Autor selbst lässt keinen Zweifel, wohin er den Leser lenken will: Bei aller Sympathie für Didos Leiden ist ihre Liebe unerlaubt, „culpa“; Aeneas begeht einen Fehler, als er sich auf die Affäre einlässt, zögert dann aber nicht, seinen eigenen Gefühlen zum Trotz, sich dem Willen der Götter zu fügen. Didos Tränen können seinen Trennungsentschluss nicht ändern: mens immota manet, lacrimae volvuntur inanes. („Seine Haltung bleibt unbewegt, die Tränen fließen eitel.“ Hierzu muss angemerkt werden, dass es umstritten ist, ob in diesem Vers die Tränen Didos oder nicht vielmehr diejenigen des Aeneas gemeint sind [so etwa Nicholas Horsfall].) Die zweite Deutungsweise findet sich zuerst in Ovids Heroides.

Aeneas und Turnus

Aeneas tötet einen Wehrlosen. Das ist das abrupte Ende der Aeneis; und es hat viele Leser nicht befriedigt. Schon Lactantius befand, freilich einen christlichen pietas-Begriff ansetzend, Aeneas erweise sich hier als impius. Wie verträgt sich sein Verhalten mit der Bestimmung der Römer, wie sie im sechsten Buch formuliert wird: „parcere subiectis et debellare superbos“ (Unterworfene zu schonen und die Überheblichen niederzuringen)? Auch hier scheint der auktoriale Standpunkt recht deutlich: Entscheidend ist, dass, als Aeneas schon Gnade gewähren will, sein Blick auf das Wehrgehenk des Pallas fällt. Der Kampf des Turnus gegen Pallas war unfair. Turnus hätte das Kampfangebot eines offensichtlich unterlegenen Jugendlichen nicht annehmen dürfen. Dass er es dennoch tat, dann auch noch die Leiche verhöhnte und ihr die Ausrüstung raubte, zeigt, wie vieles andere, Turnus zwar nicht als Erzschurken, aber doch als Verkörperung des furor impius, des pflichtvergessenen Nachgebens gegenüber niederen Instinkten. Turnus ist eine Gestalt, die dem homerischen Achilleus nachempfunden ist, unbeherrscht und grenzenlos in seinen Leidenschaften, bewusst als Kontrastfigur zum „neuen Helden“ Aeneas geschaffen. Die Rache, die Aeneas Euander für seinen Sohn gelobt hat, ist eine Verpflichtung. Im Hintergrund ist wohl auch die Stilisierung des Augustus als Rächer der Mörder des Caesar spürbar, wie sie Jahre später im Mars-Ultor-Tempel (für den rächenden Kriegsgott) offenbar wurde. Es befremdet dennoch, dass Aeneas die Rachetat „furiis accensus et ira“ (von Raserei und Zorn entflammt) ausführt.

Götter, Menschen und das Schicksal

Götter sind in der Aeneis allgegenwärtig und greifen in das irdische Geschehen direkt ein. Dennoch sind die Menschen nicht ihre Spielbälle. Die Götter machen sich vielmehr nur deren innere Dispositionen zu Nutze und helfen, wie bei der Höhlenhochzeit, mit Naturereignissen nach. In einem anderen Sinne verkörpern die Götter die fortuna, das ziellose Schicksal, das mal den einen, mal den anderen bevorteilt. Über ihnen aber steht Jupiter, der Vater der Götter und Menschen, der eine andere Form von Schicksal vertritt: nämlich das fatum (Schicksal/Götterspruch, Plural fata), die Teleologie der Geschichte, der sich letztlich jede fortuna beugen muss. Bis sich dieses Schicksal erfüllt, folgen die übrigen Götter, wie die Menschen auch, ihren persönlichen, gefühlsbestimmten Interessen, mal in Einklang mit den fata, mal gegen die fata. So ist Venus von mütterlicher Sorge um ihren Sohn Aeneas geleitet, bringt ihn damit aber unter Umständen auch in große Schwierigkeiten, wie sich in der Dido-Geschichte zeigt. Junos Handlungsmotiv ist der Zorn über erlittene Schmach, die sie nicht aus ihrem Denken tilgen kann. Vergil versucht zu zeigen, dass Aeneas bestrebt ist, sein eigenes Schicksal dem fatum unterzuordnen. Dies ist für ihn oft mit schweren Opfern verbunden (z. B. dem Verlust seiner Frau Creusa beim Auszug aus Troja) und er muss ermahnt werden, dem Weg zu folgen – oftmals durch Ausblicke auf die blühende Zukunft Roms. Indem Aeneas sich aber dem Willen der Götter beugt, wird die Gründung Roms, die in der Aeneis als das Ziel der Geschichte erscheint, als Tat von tiefer pietas dargestellt. Diese Pflichterfüllung wird besonders deutlich, als Aeneas Dido verlässt: Italiam non sponte sequor (IV 361) („Eigener Trieb führt nicht nach Italien mich“, Übers. Hertzberg).

Die Bestimmung Roms, Aeneas und Augustus

Die Glorifizierung des imperialen Roms und seines Herrschers Augustus, auf den als Endziel alle Geschichte hinausläuft, ist für den modernen Leser wohl der problematischste Aspekt der Aeneis. Gleich zu Beginn wird deutlich, dass die Gründung Roms das entfernte Ziel der Aeneis ist: tantae molis erat Romanam condere gentem (I 33). An mehreren Textstellen erscheint Augustus als die Vollendung dieser Entwicklung. Dementsprechend gibt es viele Andeutungen, die einen Bezug zwischen Aeneas und Augustus herstellen. Allerdings muss man die Aeneis aus ihrer Zeit und den Umständen ihrer Entstehung sehen. Nach einem Jahrhundert blutiger Bürgerkriege sahen viele Römer in Augustus einen Heilsbringer. Augustus forderte von Vergil unverhohlen eine Augusteis, ein Ruhmgedicht auf den Herrscher. Vergils Antwort war die Aeneis. In ihr wird der Herrscher in einen Schicksalsplan eingebettet und damit in die Pflicht genommen; Pflicht, pietas, ist ja das Leitmotiv der Aeneis. Augustus muss sich seines Ahnen (als Adoptivsohn Caesars ist Augustus Nachfahre des Iulus, auf den sich die Familie der Julier zurückführt) würdig erweisen. Gleiches gilt analog für das Römische Reich: Seine Macht wird über seinen Auftrag definiert; nicht blanke Eroberung ist das Ziel, sondern Gesetze zu stiften und der Welt den Frieden zu bringen (vgl. VI 851).

Vor dem Hintergrund der augusteischen Restaurationspolitik bedeutet die Betonung der pietas, die Erinnerung an die Sendung Roms, die Beschwörung der römischen Tugenden und die Ablehnung des Bürgerkrieges eine aktive Unterstützung der augusteischen Reformen. Auf diese Weise wird es zu einem Neuanfang kommen und das Goldene Zeitalter wiederkehren. In Augustus werden die Eigenschaften einiger herausragender Personen der frühen römischen Geschichte vereinigt: So erscheint er in der Heldenschau (VI 752–853) als eine Synthese zwischen Romulus als dem Stadtgründer und Numa, der Rom durch Religion und Recht „neu“ gegründet hat. Die oben angesprochenen Ansprüche Vergils an sein Werk werden hier besonders deutlich: Die Anzahl der Verse, die Augustus beschreiben, entspricht der Summe der Romulus und Numa gewidmeten.

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass sich Augustus der Bedeutung der Aeneis für seine Politik bewusst war. Auf einer Volksversammlung soll er beim Anblick von Männern, die nicht die klassische Toga trugen, einen Vers der Aeneis zitiert haben: en Romanos, rerum dominos gentemque togatam! (I 282) („Siehe! Die Römer, die Beherrscher der Welt, das togatragende Geschlecht.“) Anschließend sorgte er dafür, dass man sich nur in der klassischen Tracht auf dem Forum aufhalten durfte.

Two-voices-Theorie

Eine amerikanische Forschungsrichtung seit den 60er Jahren, bekannt als die Harvard School, vertritt die sogenannte Two-voices-Theorie. Nach dieser Auffassung würde Vergil einerseits vordergründig die augusteische Ideologie verherrlichen (public voice), andererseits auf eine subtile Art und Weise auch Kritik an Augustus üben (private voice). Ausgangspunkt dieser Theorie ist wiederum das Ende der Aeneis, wo sich Aeneas (wie ganz ähnlich schon bei Laktanz, s. o.) als moralischer Verlierer erweise.

Die Aeneis heute

Viele Veröffentlichungen zur Aeneis in Fachkreisen täuschen nicht darüber hinweg, dass die Aeneis im allgemeinen kulturellen Diskurs, wenigstens im deutschsprachigen Raum, heute ein Schattendasein z. B. gegenüber Homer führt. Sogar von einem „vergessenen Text des Abendlandes“ ist die Rede (Lit.: Schmitzer). Ein Grund dafür ist sicher, dass gerade in Deutschland das Verständnis der Aeneis zu sehr auf ihren herrscherlobenden, staatstragenden Aspekt eingeengt wurde. Die Theorie der two voices geht vielleicht zu weit, aber sie macht den Blick frei für die Komplexität des Werks. Die zentralen Fragen nach Pflicht und Neigung, nach Staatswohl und eigenem Glück, nach dem Krieg werden eben nicht in Jubelpropaganda ertränkt, sondern vielschichtig und einfühlend als existenzielle Fragen formuliert.

Die Aeneis in neuzeitlicher Kunst und Musik

Die Aeneis hat zahlreiche Bearbeitungen erfahren und auch viele Komponisten zu Vertonungen angeregt. Am bekanntesten sind die Oper La Didone (1641) von Francesco Cavalli, die erste eigenständige englische Oper Dido and Aeneas (1689) von Henry Purcell und die große heroische Oper Les Troyens (entstanden bis 1858) von Hector Berlioz. Ebenfalls der Geschichte von Dido und Aeneas widmen sich Joseph Martin KrausAeneas i Cartago eller Dido och Aeneas (1799) und Franz Danzis Melodram Dido (1811).

Verfilmungen

Zwei Werke aus der Serie der italienischen Sandalenfilme der 60er Jahre greifen auf die Aeneis zurück. In beiden spielt Ex-Mister Universum Steve Reeves den Aeneas: Kampf um Troja (1962) erzählt vom Trojanischen Krieg ab dem Tod Hektors und vom Untergang der Stadt aus der Perspektive des Aeneas, der hier zum Haupthelden der Trojaner und Gegenspieler Achills wird. Äneas, Held von Troja (1962) erzählt, trotz seines Titels, von den Ereignissen in Latium (und nur von diesen; die Reise von Troja nach Latium und die Begegnung mit Dido fehlen zur Gänze). Dass im deutschen Titel Troja statt latium erwähnt wird, kann einerseits von der Rückblende motiviert sein, in der sich Äneas an die Ereignisse in Troja erinnert (Filmausschnitte aus Kampf um Troja). Andererseits wollte man wohl verdeutlichen, dass es sich hier um die Fortsetzung von Kampf um Troja handle. Beide Filme unterscheiden sich merklich von den literarischen Vorlagen, nicht zuletzt durch das beinahe gänzliche Fehlen einer bei Vergil und Homer stark ausgeprägten Götterhandlung.

Für das Fernsehen wurde Die Äneis 1970 von Franco Rossi verfilmt. Die deutsche Erstausstrahlung des Vierteilers begann am 5. November 1972.

Siehe auch

  • Portal:Rom
  • Themenliste Rom

Literatur

Text

  • R. A. B. Mynors (Hrsg.): P. Vergili Maronis Opera. Clarendon Press, Oxford 1969 und Nachdrucke. ISBN 0-19-814653-1.

Übersetzungen

  • Edith und Gerhard Binder (Hrsg./Übers.): P. Vergilius Maro. Aeneis. Lateinisch/ Deutsch. 6 Bde. Reclam, Stuttgart 1994–2005.
  • Volker Ebersbach (Übers.): Aeneis. Prosaübertragung. 4. Auflage. Reclam, Leipzig 2001. ISBN 3-379-00138-4,
  • Johannes Götte (Übers.): Aeneis. Lateinisch-deutsch. 10. Auflage. Artemis & Winkler, Düsseldorf, Zürich 2002. ISBN 3-7608-1648-7.
  • Gerhard Fink: Aeneis (Die Bibliothek der Alten Welt). Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich 2007, ISBN 978-3-538-03101-2.
  • Wilhelm Plankl unter Mitwirkung von Karl Vretska (Übers.): Aeneis. Reclam, Stuttgart 1981 und Nachdrucke. ISBN 3-15-000221-4 (Reclams Universal-Bibliothek, 221)

Sekundärliteratur

  • Karl Büchner: P. Vergilius Maro. In: RE, Bd. 8A (1955), Sp. 1021–1486. Nachdruck unter dem Titel P. Vergilius Maro. Der Dichter der Römer. Stuttgart 1961
  • Richard Heinze: Virgils epische Technik, Teubner, Leipzig 1903, 3. Aufl. 1913; Neudruck Teubner, Stuttgart und Leipzig 1995. ISBN 3-519-07212-2 (Englische Übersetzung online)
  • Niklas Holzberg: Vergil. Der Dichter und sein Werk, Beck, München 2006. ISBN 3-406-53588-7
  • Friedrich Klingner: Virgil. Bucolica, Georgica, Aeneis, Artemis, Zürich, Stuttgart 1967.
  • Viktor Pöschl: Die Dichtkunst Virgils. Bild und Symbol in der Aeneis, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. de Gruyter, Berlin, New York 1977. ISBN 3-11-006885-0
  • Ulrich Schmitzer: Das Abendland braucht keinen Vater mehr. Vergils Aeneis auf dem Weg in die Vergessenheit. In: Aleida Assmann, Michael C. Frank (Hrsg.): Vergessene Texte, UVK, Konstanz 2004, S. 259–286. ISBN 3-87940-787-8. Online
  • Werner Suerbaum: Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-017618-2 (Universal-Bibliothek, 17618)

Weblinks

Audiobeispiele


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