Zwillingserde

Zwillingserde

Die Zwillingserde ist ein Gedankenexperiment, das auf den Philosophen Hilary Putnam zurückgeht. Es begründete das Konzept des semantischen Externalismus. Dieser besagt, dass die Bedeutung eines Wortes nicht a priori bekannt sein kann, sondern dass weitere, externe Faktoren bekannt sein müssen. Der Begriff semantischer Externalismus wird allerdings in der ursprünglichen Form dieses Gedankenexperiments noch nicht eingeführt.

Inhaltsverzeichnis

Situation

Gegeben sei eine Zwillingserde, die in jedem Detail dem Planeten Erde gleicht. Alles dort ist wie auf unserer Erde: Es gibt dieselben Kontinente und Länder, dieselben Sprachen und ein Bewohner, der auf der Erde die Sprache Deutsch spricht, spricht auch auf der Zwillingserde Deutsch. Zu jedem Bewohner unserer Erde (Erdling, engl. earthling) existiert ein Bewohner der Zwillingserde (Zwillingserdling, engl. twin earthling), wobei diese beiden sich in nichts unterscheiden. Wie die Erde ist auch die Zwillingserde zu einem großen Teil mit Wasser bedeckt und Grundbaustein des Lebens dort. Die Zwillingserdlinge bezeichnen genau wie die Erdlinge ihr Wasser als Wasser, d.h. mit dem Wort „Wasser“ aus ihrer jeweiligen Sprache.

Der einzige Unterschied zu unserer Erde ist die chemische Struktur des Wassers: Während auf unserer Erde die Summenformel H2O gilt, trifft auf der Zwillingserde die Formel XYZ zu. Genau wie H2O ist auch XYZ farblos, geruchlos, nass und löscht den Durst. Die chemische Struktur ist zwar anders, aber das Verhalten ist gleich und die beiden Wässer sind voneinander sonst nicht zu unterscheiden.

Zur Durchführung des Gedankenexperiments stellt Putnam zwei verschiedene Betrachtungsstandpunkte vor:

  1. Im Jahr 2050 entdecken Astronauten von der Erde die Zwillingserde und finden die dortige Struktur von Wasser heraus. Sie funken zurück zur Erde, dass der Begriff „Wasser“ auf der Zwillingserde XYZ bezeichnet. Umgekehrt entdecken Astronauten von der Zwillingserde die Erde und funken zurück, dass „Wasser“ dort H2O bedeutet.
  2. Im Jahr 1750 war die chemische Struktur von Wasser noch nicht bekannt. Bei einem Austausch zwischen Bewohnern der Erde und der Zwillingserde wäre die Unterscheidung unmöglich: Der Begriff „Wasser“ bedeutet zwei völlig verschiedene Stoffe, aber keiner weiß es.

Folgen

Sowohl Erdlinge als auch Zwillingserdlinge benutzen das Wort „Wasser“ auf dieselbe Weise. Auf beiden Planeten bezeichnet es einen Stoff mit denselben äußerlichen Eigenschaften. Lediglich hat dieser Stoff auf dem einen Planeten die Struktur von H2O, auf dem anderen aber XYZ. Daraus folgt, dass, obwohl beide Menschen mit ihrem Wasser den nassen, farb- und geruchlosen Stoff meinen, der den Durst löscht, der Begriff auf der Erde einen anderen Stoff bezeichnet als auf der Zwillingserde.

Vereinfacht kann man sich auch zwei völlig identische Menschen vorstellen, von denen einer (Person A) auf der Erde lebt und der andere (Person B) auf der Zwillingserde. Wenn A und B jeweils ein Glas Wasser trinken, was sie zur exakt gleichen Zeit und unter denselben Umständen tun müssen, dann denkt A dabei an H2O, B aber an XYZ.

Damit ist die einzige Möglichkeit, zu bestimmen, was eine Person mit dem Begriff „Wasser“ meint, ihre Umwelt mit einzubeziehen.

Argumentation

Putnam stellt die folgenden Prämissen auf:

  • (1) Die Bedeutung eines Ausdrucks zu kennen, besteht darin, sich in einem bestimmten psychischen Zustand zu befinden.
  • (2) Die Bedeutung eines Ausdrucks legt die Extension fest.

Aus diesen beiden Prämissen folgt:

  • (3) Ein bestimmter psychischer Zustand legt die Extension des Ausdrucks fest.

Putnam zeigt nun unter anderem mit dem Gedankenexperiment der Zwillingserde, dass die Folgerung (3) nicht zutreffen kann, da bei völlig identischem psychologischem Zustand ein Begriff zwei verschiedene Stoffe bezeichnen kann und somit unterschiedliche Extensionen besitzt. Demnach genügt der psychische Zustand nicht, um die Bedeutung eines Begriffes festzulegen und die Folgerung (3) ist unwahr. Daraus ergibt sich wiederum, dass die Annahme (1) oder (2) ebenfalls falsch sein muss. Putnam schlägt vor Annahme (1) zu verwerfen.

Gegenargumente

  • Wasser kann als Clusterkonzept verstanden werden. Das bedeutet, dass der Begriff „Wasser“ nicht H2O bezeichnet, sondern etwas in der Form von der flüssige, nasse, den Durst stillende Stoff aus dem die Meere und Seen bestehen und den ich trinken kann. Diese Bedeutung hätten Bewohner beider Erden gemeinsam. Dieses Gegenargument kann noch dadurch verstärkt werden, dass es auf der Erde durchaus Menschen gibt, die diese Bedeutung von „Wasser“ kennen, aber was seine chemische Struktur angeht, unwissend sind. Man könne argumentieren, dass die chemische Struktur von Wasser tatsächlich für die Bedeutung des Begriffs „Wasser“ irrelevant sei.
  • Gedankenexperimente, die sich von der Realität zu sehr unterscheiden, könnten irreführend sein, weil sie intuitiv nur im Rahmen der tatsächlichen Wirklichkeit verstanden werden können.
  • Die Annahme eine Zwillingserde zu konstruieren, in der nur genau ein Element, hier die Struktur des Wassers, sich unterscheide, ist zweifelhaft, da jedes Element mit jedem anderen in vieler Beziehung steht. So gibt es die Eselsbrücke, dass die Struktur von H2O an Mickey Mouse erinnere, schon dies würde auf der Zwillingserde nicht mehr zutreffen.

Siehe auch

Referenzen

  • Putnam, Hilary (1975/1985): The meaning of 'meaning'. In Philosophical Papers, Vol. 2: Mind, Language and Reality., Cambridge University Press.
  • Putnam, Hilary: Die Bedeutung von "Bedeutung", übersetzt von Wolfgang Spohn, Klostermann Texte Philosophie.

Weblinks


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