Zweiquellentheorie

Zweiquellentheorie

Die Zweiquellentheorie der synoptischen Evangelien, die im 19. Jahrhundert unter anderem von Christian Hermann Weisse (1838) und Heinrich Julius Holtzmann (1863) entwickelt wurde, ist die heute am weitesten verbreitete literarkritische Hypothese des Neuen Testaments. Sie besagt, dass die Evangelisten Matthäus und Lukas zwei gleiche Quellen verwendet hätten, nämlich das Markusevangelium und eine nicht erhaltene, sondern erschlossene Quelle, die sogenannte Logienquelle, abgekürzt Q. Neben den beiden Hauptquellen hätten ihnen jeweils eigene mündliche und schriftliche Quellen als Sondergut zur Verfügung gestanden.

Schaubild

Inhaltsverzeichnis

Ursprung

Folgende Beobachtungen bei den synoptischen Evangelien haben dazu geführt, dass die Zweiquellentheorie breite Anerkennung gefunden hat:

  • Mehrfachüberlieferung: In den synoptischen Evangelien gibt es Perikopen, die in allen drei Evangelien stehen (triplex traditio), andere, die in zwei Evangelien stehen (duplex traditio), wieder andere, die nur in einem der Evangelien stehen (simplex traditio). Bei der duplex traditio kommen alle Kombinationen vor: Mt-Mk, Mt-Lk und Mk-Lk.
  • Wortlaut-Übereinstimmung: Dass die Perikopen zum Teil bis in den Wortlaut hinein übereinstimmen, spricht für eine literarische Abhängigkeit, d.h. Abschreiben und nicht bloßes Schöpfen aus der gleichen (mündlichen) Überlieferung.
  • Stoffquantum und Reihenfolge: Nur ganz wenige Stücke des Markusevangeliums fehlen sowohl bei Matthäus als auch Lukas. Es gibt also wenig markinisches Sondergut. Außerdem zeigt sich bei der triplex traditio, dass Matthäus und Lukas nie beide von der Reihenfolge bei Markus abweichen, sondern immer nur einer. Beide Beobachtungen sprechen für die Markuspriorität, d.h. für die Annahme, dass das Markusevangelium das älteste der drei Evangelien ist und den beiden anderen als Vorlage diente. Und für die Unabhängigkeit von Matth. u. Lukas untereinander, zumindest in den Triplexteilen.
  • Mt/ Lk-Übereinstimmungen: Matthäus und Lukas haben gemeinsame nichtmarkinische Stücke, vor allem Redestücke. Diese gemeinsamen Stücke finden sich jeweils an ganz verschiedenen Stellen und lassen sich kaum als matthäische Bearbeitung der lukanischen Fassung oder umgekehrt erklären. Daher nimmt man für diese gemeinsamen Stücke eine zusätzliche, von beiden genutzte Quelle an, die Spruchquelle oder Logienquelle Q.
  • Dubletten: Für die Benutzung einer zusätzlichen Quelle sprechen auch Dubletten, das heißt Stücke, die sich bei Matthäus und Lukas doppelt finden, einmal von Markus übernommen und noch einmal unabhängig von Markus.

Varianten

Die Zweiquellentheorie vermag die meisten, aber nicht alle literarkritischen Beobachtungen bei den synoptischen Evangelien befriedigend zu erklären (Kritiker äußern, dass die Zweiquellentheorie mehr Fragen aufwerfe als sie beantworte). Aus diesem Grund wurden Varianten entworfen, welche die Zweiquellentheorie zu Grunde legen, aber in die eine oder andere Richtung erweitern.

  • Urmarkus-Hypothese: Diese Hypothese besagt, Matthäus und Lukas hätten nicht das uns heute vorliegende Markusevangelium verwendet, sondern eine frühere Fassung, einen sogenannten „Urmarkus“, der später erweitert worden sei. Möglicherweise habe beiden auch nicht die gleiche Markus-Fassung vorgelegen. Diese Hypothese beruft sich darauf, dass sich so das Markus-Sondergut und die lukanische Lücke erklären lasse, d.h. die Tatsache, dass im Lukasevangelium der Komplex Mk 6,45-8,26 fehlt.
  • Vierquellentheorie: Zusätzlich zu Markus und Q hätten sowohl Matthäus als auch Lukas jeweils eine weitere Quelle benutzt, die keiner der anderen Evangelisten kenne. Aus dieser Quelle hätten sie das Sondergut geschöpft. Die Vierquellentheorie (und andere Mehrquellentheorien) krankt daran, dass es sehr schwierig zu begründen ist, warum es sich um literarische Quellen und nicht um mündliche Überlieferung handeln sollte.

Kritik

Probleme bei Zugrundelegung der Zweiquellentheorie sind insbesondere:

  • Markinisches Sondergut: Die sowohl von Matthäus als auch von Lukas ausgelassenen Markustexte (hauptsächlich Heilungen von Tauben und Blinden mittels - im damaligen Kontext als Tame (Unreinheit) empfundenen - Speichels) stellen ein Problem dar, weil die Auslassung nicht immer als redaktionelle Bearbeitung durch Matthäus und Lukas plausibel gemacht werden kann.
  • Minor Agreements „geringfügige Übereinstimmungen“: Dabei handelt es sich um Übereinstimmung zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus im Markusstoff. Die These, Matthäus und Lukas hätten an vielen Stellen unabhängig voneinander die gleiche redaktionelle Änderung am Markustext vorgenommen, ist problematisch. So wird in neueren Lösungsansätzen angenommen, dass Matthäus und Lukas nicht auf das kanonische Markusevangelium zurückgegriffen haben sondern auf eine bearbeitete Form, die Deuteromarkus genannt wird.
  • Passion und Auferstehung Jesu in Q und Sondergut: Wie oben geschildert bestünden das Sondergut und Q aus den Texten, die übrigbleiben, wenn man die Texte von Matthäus und Lukas zusammennimmt und die ursprünglich Markus zugeschriebenen Texte abzieht. Die übrigbleibenden Texte enthalten aber keinerlei Aussagen über Jesu Passion und Auferstehung: Ob christliche Schriften aus dem ersten Jahrhundert diese Themen auslassen können, ist sehr fraglich. Bei Passion und Auferstehung hätten - dieser Auffassung zufolge - zumindest die Rede-Texte (Logien) des Abendmahls vorhanden sein sollen.
  • Hypothetischer Charakter: Die Logienquelle Q ist ebenso wie die Sondergutsquellen in der Vierquellentheorie eine erschlossene Größe, von der keine Quellenschriften existieren. Auch Erwähnungen der Quelle durch andere antike Autoren, die sie gekannt oder gar benutzt haben könnten/müssten, liegen nicht vor. Die Zweiquellentheorie muss daher im hypothetischen Rahmen bleiben.

Es werden daher weiterhin Alternativlösungen zur Zweiquellentheorie diskutiert. Für eine Übersicht siehe den Artikel synoptisches Problem.

Anhänger der Traditionshypothese erklären die Gemeinsamkeiten der Evangelien durch mündliche Tradition und kritisieren damit nicht nur spezifisch die Zweiquellentheorie, sondern grundsätzlich den Lösungsansatz einer Benutzungshypothese, die von literarischer Abhängigkeit der Evangelien ausgeht.

Siehe auch

Literatur

Einführungen
  • Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, 2005. ISBN 3-525-03238-2
  • Ingo Broer: Einleitung in das Neue Testament. Bd 1. Die synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte und die johanneische Literatur. Die neue Echter-Bibel. Ergänzungsband 2/I zum NT. Echter, Würzburg 1998, 2001. ISBN 3-429-02316-5
  • Werner Georg Kümmel: Einleitung in das Neue Testament. 21. Aufl. Quelle & Meyer, Heidelberg 1983, 1989, S.13-53). ISBN 3-374-00459-8 (zur synoptischen Frage).
  • Ferdinand R. Prostmeier: Kleine Einleitung in die synoptischen Evangelien. Herder, Freiburg u.a. 2006. ISBN 3-451-29056-1
Detailliertere Studien
  • David Laird Dungan: A History of the Synoptic Problem. The Canon, the Text, the Composition, and the Interpretation of the Gospels. The Anchor Bible Reference Library. Doubleday, New York 1999. ISBN 0-385-47192-0
  • Burnett Hillman Streeter: The Four Gospels. A Study of Origins, Treating of the Manuscript Tradition, Sources, Authorship, and Dates. Macmillan, London 1924, St. Martin's Press, New York 1956, 1964. (verhalf der Zweiquellentheorie im engl. Sprachraum zum Durchbruch)
  • Arthur J. Bellinzoni, Jr. (Hrsg.): The Two-Source Hypothesis. A Critical Appraisal. Mercer, Macon 1985. ISBN 0-86554-096-9 (Sammelband mit Artikeln aus 60 Jahren für und gegen die Mk-Priorität sowie für und gegen Q; aus der Sicht der Griesbachhypothese)
  • Hans-Herbert Stoldt: Geschichte und Kritik der Markushypothese. 2. Aufl. Vandenhoeck und Ruprecht, Goettingen 1977, Brunnen, Gießen 1986. ISBN 3-7655-9324-9 (Kritik an der Theorie)
  • Andreas Ennulat: Die „Minor Agreements“. Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. Bd 2,62. Mohr, Tübingen 1994. ISBN 3-16-145775-7 (die Minor Agreements erfordern wohl eine Modifikation der Zweiquellentheorie; man postuliert einen Deuteromarkus bzw. Urmarkus)
  • Thomas Bergemann: Q auf dem Prüfstand. Die Zuordnung des Mt/Lk-Stoffes zu Q am Beispiel der Bergpredigt. FRLANT. Bd 158. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993. ISBN 3-525-53840-5
Kritik
  • Eta Linnemann: Auf dem Prüfstand. Die Zweiquellentheorie. In: Eta Linnemann: Bibelkritik auf dem Prüfstand. Wie wissenschaftlich ist die „wissenschaftliche Theologie“? Nürnberg 1998, S.173 u.a. ISBN 3-933372-19-4
  • Eta Linnemann: Gibt es ein synoptisches Problem? VTR, Nürnberg 1999. ISBN 3-933372-15-1

Weblinks

  • The Synoptic Problem (Sehr gute Internet-Einführung, mit Grafiken und ausführlicher Literaturliste)
  • New Testament Gateway (Internetportal für das Neue Testament mit Online-Artikeln und Links zum synopt. Problem eines Vertreters der Farrer-Hypothese)
  • Synoptic-L (Usenetgruppe mit Tausenden von Diskussions-Beiträgen)

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