Zufluchtsstadt

Zufluchtsstadt

Die Zufluchtsstadt ist in der Bibel ein wichtiges Rechtsinstitut, das als erste historisch bekannte Form eines Asylrechts anzusehen ist. Nach dem archaischen Sippenrecht der Blutrache konnte jeder Angehörige eines Totschlag-Opfers den Täter überall hin verfolgen und töten, um damit der Gerechtigkeit zu genügen. Die biblische Gesetzgebung hat dies nach und nach immer stärker eingeschränkt und schließlich ganz abgelehnt. Die Asylorte waren dabei ein wichtiger Fortschritt.

Biblische Begründung

In drei verschiedenen Gesetzeskorpora ist von ihnen die Rede:

Im Bundesbuch (Ex. 21-23) werden sie nur als künftige Einrichtung erwähnt (Ex. 21, 12f):

„Wer einen Menschen schlägt, so dass er stirbt, der soll des Todes sterben. Hat er ihm aber nicht nachgestellt, sondern Gott hat es seiner Hand widerfahren lassen, so will ich dir einen Ort bestimmen, wohin er fliehen kann.“

Hier wurde erstmals zwischen vorsätzlichem Mord und versehentlichem Totschlag unterschieden. Aber der Fluchtort für den zu Unrecht als Mörder verfolgten Totschläger wurde noch nicht festgelegt; der folgende Vers deutet an, dass es um ein Gotteshaus, also Kultorte ging.

Im Priestergesetz (3. und Teile des 2. und 4. Buchs Mose, darunter Num. 27-36) wurden die Bestimmungen zur Einrichtung dieser Asylorte konkretisiert. Vorausgesetzt war die Gebietsverteilung an alle zwölf Stämme der Hebräer. Den Leviten als Stamm des erblichen Priestertums wurden besondere Städte und Umland zugewiesen. Sechs von 48 ihrer Ortschaften, je drei davon östlich und westlich des Jordans, sollten zum Rechtsschutz für Strafverfolgte aus ganz Israel zur Verfügung stehen:

„Und es sollen unter euch diese Städte eine Zuflucht sein vor dem Bluträcher, damit nicht sterben muss, der einen Totschlag begangen hat, bis er vor der Gemeinde vor Gericht gestanden hat.“

Hier wird also ein öffentliches Gerichtsverfahren gefordert, das die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag justiziabel macht. Die folgenden kasuistischen Rechtssätze stellen Kriterien dafür auf (Num. 35, 16-34):

  • Schlagen per Hand oder Gegenstand sowie Steinwurf mit Todesfolge galt als Mord. In diesen Fällen durfte der Bluträcher (als Vertreter der Geschädigten) den Mörder überall töten, wo er ihn fand.
  • Stoßen oder Bewerfen im Affekt („aus Hass“) mit Todesfolge war ebenfalls Mord und durfte ebenfalls vom Bluträcher gesühnt werden.
  • Stoßen oder Bewerfen ohne tötende Absicht oder ganz aus Versehen dagegen erforderte ein öffentliches Verfahren:

„...so soll die Gemeinde richten zwischen dem, der geschlagen hat, und dem Bluträcher nach diesen Rechtsordnungen.“

Damit wurde das Sippenrecht durch das übergeordnete Rechtsinteresse des ganzen Volkes eingeschränkt: Der Rächer der Geschädigten war nur noch Ankläger.

  • Eine Polizei gab es noch nicht: Jeder Israelit sollte den verfolgten Totschläger schützen und zu einer Asylstadt bringen.
  • Dort sollte er bleiben, bis der zum obersten Richter Israels geweihte Hohepriester starb. Seine Haftdauer war also an die Lebenszeit seines Richters gekoppelt. Erst dann durfte er sein Erbland wieder in Besitz nehmen. Er blieb also erbberechtigter Israelit, sein Land wurde während seiner Haft nur verpachtet.
  • Ein Freikauf davon durch Richterbestechung wurde verboten.
  • Die Zeugenregel verlangte mindestens zwei übereinstimmende und geprüfte Zeugenaussagen für Mord.
  • Die Tötung eines Totschlägers galt auch als Mord, der das Land verunreinigte und Sühne verlangte. Damit wurde das Asylverfahren strafbewehrt.

Im Deuteronomium (5. Buch Mose) wurden diese Gesetze leicht variiert und ergänzt (Dtn. 19, 1-13):

  • 6 Orte waren Zufluchtsstädte für die Israeliten: 3 links und 3 rechts des Jordan: Die drei östlich des Jordan waren gemäß Josua 20, 8 (wie bereits in 5. Mose 4, 43 angegeben): Bezer in der Wüste, Ramot in Gilead und Golan in Baschan. Die drei westlich des Jordan waren (Josua 20, 7): Kedesch in Galiläa, Sichem auf dem Gebirge Ephraim und Kirjat-Arba (Hebron) auf dem Gebirge Juda.
  • Die Flucht dorthin sollte jedem von seinem Wohnort aus möglich sein (Verkehrswege).
  • Verfolgte mussten geschützt werden, bis sie eine Asylstadt erreicht hatten. Unterwegs wurde jeder Israelit mit für ihr Leben haftbar gemacht.
  • Ein Mörder musste aus einer Asylstadt entfernt werden:

„Wenn aber jemand Hass trägt gegen seinen Nächsten und lauert ihm auf, fällt über ihn her und schlägt ihn tot und flieht dann in eine dieser Städte, so sollen die Ältesten seiner Stadt hinsenden, ihn von da holen lassen und ihn in die Hände des Bluträchers geben, damit er sterbe.“

Hier wird also die Möglichkeit einer Revision des Verfahrens angedeutet. Grundregel war immer, Israel vor den kollektiven Folgen von unschuldig vergossenem Blut zu bewahren.

Wirkung

Ob und wieweit diese Gesetze historische Geltung erlangten, ist unsicher. Bei der Verfolgung Davids durch Saul scheint das Asylrecht eine Rolle gespielt zu haben.

Siehe auch


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