Zabern-Affäre

Zabern-Affäre
Militärpatrouille mit aufgepflanztem Seitengewehr in den Straßen von Zabern Anfang Dezember 1913

Die Zabern-Affäre (frz. Affaire de Saverne oder Incident de Saverne) war eine innenpolitische Krise, die sich Ende 1913 im Deutschen Kaiserreich ereignete. Anlass waren Proteste im elsässischen Zabern (frz. Saverne), dem Standort zweier Bataillone des preußischen Infanterie-Regiments 99, nachdem ein Leutnant die elsässische Bevölkerung beleidigt hatte. Das Militär reagierte auf die Proteste mit rechtlich nicht gedeckten Willkürakten. Diese Übergriffe führten zu einer Reichstagsdebatte über die militaristischen Strukturen der deutschen Gesellschaft und die Stellung der Reichsleitung im Verhältnis zu Kaiser Wilhelm II. Die Affäre belastete nicht nur das Verhältnis zwischen dem Reichsland Elsaß-Lothringen und dem übrigen Deutschen Reich schwer, sondern führte auch zu dem ersten Missbilligungssvotum in der deutschen Geschichte gegen den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg und zu einem erheblichen Ansehensverlust des Kaisers.

Inhaltsverzeichnis

Anlass und Verlauf der Zabern-Affäre

Leutnant Forstner beleidigt die Elsässer

Leutnant Günter Frh. v. Forstner

Der noch nicht 20-jährige Leutnant Günter Freiherr von Forstner hatte sich während einer Rekruteneinweisung in Zabern am 28. Oktober 1913 in abfälliger Weise über die Einwohner geäußert. Zu seinen Soldaten sagte er: „Wenn Sie angegriffen werden, dann machen Sie von Ihrer Waffe Gebrauch; wenn Sie dabei so einen Wackes niederstechen, dann bekommen Sie von mir noch zehn Mark.“

Zudem warnte er seine Männer mit einer aggressiv wirkenden Sprache vor französischen Auslandsagenten, die sie für die Fremdenlegion abwerben wollten.

Öffentliche Entrüstung und unnachgiebige Militärs

Berthold von Deimling

Am 6. November informierten die beiden Lokalzeitungen Elsässer und Zaberner Anzeiger die Öffentlichkeit über diese Ereignisse. Die Bevölkerung protestierte in den nächsten Tagen entschieden gegen diese Behandlung durch das preußische Militär. Der elsass-lothringische Statthalter Karl von Wedel legte dem Regimentskommandeur Ernst von Reuter sowie dem Kommandierenden General Berthold von Deimling die Versetzung des Leutnants nahe. Aus Sicht der Militärs war dies jedoch mit der Ehre und dem Ansehen der Armee nicht vereinbar. Leutnant von Forstner wurde lediglich zu sechs Tagen Hausarrest verurteilt. Die amtliche Stellungnahme der Behörden in Straßburg am 11. November spielte den Vorfall herunter und interpretierte „Wackes“ als allgemeine Bezeichnung für streitsüchtige Personen. Elf Tage später verhaftete man zehn Angehörige der fünften Kompanie des Infanterieregimentes 99, denen vorgeworfen wurde, geheimhaltungspflichtige Tatsachen über die Zabern-Affäre der Presse gemeldet zu haben.

Die Proteste in der elsässischen Öffentlichkeit gingen davon unbeeindruckt weiter. Zur weiteren Verschlechterung der Stimmung trug bei, dass sich Leutnant von Forstner nach seinem Hausarrest wieder in der Öffentlichkeit zeigte und dabei auf Weisung des Garnisonskommandos stets von einer Eskorte aus vier bewaffneten Soldaten begleitet wurde, was besonders bei alltäglichen Verrichtungen wie dem Einkaufen von Schokolade und Zigaretten[1] wie eine Provokation wirkte. Bei seinen Auftritten außerhalb der Kaserne wurde von Forstner dann auch wiederholt vor allem von jugendlichen Demonstranten verhöhnt und beschimpft, ohne dass die lokalen Polizeibehörden dies verhindern konnten.[2] Oberst Ernst von Reuter forderte daraufhin auf Weisung von General von Deimling den Vorsitzenden der lokalen Zivilverwaltung, Direktor Mahler, auf, die Ordnung mit Hilfe der Polizei wiederherzustellen, anderenfalls müsse er selbst Maßnahmen ergreifen. Mahler, der als Elsässer mit der Bevölkerung sympathisierte, wies die Bitte zurück, da die Protestierenden sich friedlich verhalten und keine Gesetzesverstöße begangen hätten.

Die Situation eskaliert

Vorderseite des Rohan-Schlosses in Zabern, das zu jener Zeit als Kaserne des preußischen Infanterie-Regiments Nr. 99 diente, während der Zabern-Affäre. Auf dem Platz vor dem Schloss fanden die Demonstrationen statt, die in Übergriffen des Militärs endeten.

Am 28. November versammelte sich erneut eine große Menschenmenge auf dem Platz vor der Kaserne des preußischen Militärs, was diesmal zu einer unangemessenen Gegenreaktion der Truppen führte. Von Reuter wies Leutnant Schadt, der zu diesem Zeitpunkt die Kommandogewalt über die Wachposten hatte, an, die Menschenmenge aufzulösen. Dieser rief die Wachen zu den Waffen und forderte die demonstrierenden Bürger dreimal auf, auseinander zu gehen und ihre Versammlung zu beenden. Anschließend trieben die Soldaten die Menge unter Androhung von Waffengewalt über den Platz in eine Seitenstraße und verhafteten ohne Rechtsgrundlage eine größere Anzahl von Personen. Unter den Gefangenen waren auch der Präsident, zwei Richter und ein Staatsanwalt des Zaberner Landgerichts, die beim Verlassen des Gerichtsgebäudes zufällig in die Menge geraten waren. 26 der verhafteten Personen wurden über Nacht im Keller des Schlosses, dem so genannten Pandurenkeller, festgehalten. Außerdem durchsuchten Soldaten rechtswidrig die Redaktionsräume einer der lokalen Zeitungen nach Hinweisen auf jene Informanten, die die Fehlgriffe Forstners an die Öffentlichkeit gebracht hatten.

Über die Stadt wurde der Belagerungszustand verhängt, sodass das Militär faktisch die Regierungsgewalt übernahm und die zivile Verwaltung außer Kraft setzte. Zur Verhinderung weiterer Demonstrationen und Aufläufe ließ man Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett in den Straßen patrouillieren und Maschinengewehre aufstellen.

Die ersten Reaktionen des Kaisers

Kaiser Wilhelm II.

Kaiser Wilhelm II. befand sich zu der Zeit zur Jagd auf dem Gut von Max Egon Fürst zu Fürstenberg in Donaueschingen. Obwohl diese Reise schon lange vor den Ereignissen in Zabern organisiert wurde, hinterließ das Desinteresse Wilhelms einen schlechten Eindruck. Gerüchten zufolge hatte Kaiserin Auguste Viktoria sogar einen Zug angefordert, mit dem sie zu ihrem Ehegatten fahren und ihn zu einer Rückkehr nach Berlin bewegen wollte. Nach Einschätzung des Historikers Wolfgang J. Mommsen unterschätzte Wilhelm II. zu diesem Zeitpunkt die politische Dimension der Vorfälle im Elsass. Die Berichte, die der elsass-lothringische Statthalter Karl von Wedel nach Donaueschingen sandte und in denen er die Vorfälle als exzessiv sowie unrechtmäßig beschrieb und um persönliche Rücksprache mit dem Kaiser bat, wurden hinhaltend beantwortet. Wilhelm II. wollte zuvor den Bericht des Militärischen Hauptquartiers in Straßburg abwarten.

Am 30. November trafen der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn, der zuständige Kommandierende General in Straßburg Berthold von Deimling und einige andere ranghohe Offiziere in Donaueschingen ein, womit sechstägige Beratungen begannen. Die Öffentlichkeit wurde dadurch zusätzlich aufgebracht, da der Kaiser offenbar nur die Sichtweise des Militärs hören wollte. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der übergangen wurde und immer mehr unter Druck geriet, trat der Konferenz kurz vor ihrem Ende bei. Das Ergebnis war aus Sicht kritischer Bevölkerungsschichten ernüchternd, der Kaiser billigte das Verhalten der Militäroffiziere und sah keine Anhaltspunkte dafür, dass sie ihre Befugnisse überschritten hätten. Deimling sandte einen General nach Zabern, der die Zivilgewalt am 1. Dezember wieder einsetzte.

Forstners zweiter Fehltritt

Am 2. Dezember fand in Zabern eine Militärübung statt. Die Szenerie wurde u. a. von einem Schustergesellen von der Straße aus beobachtet, der beim Anblick des jungen, herausgeputzten Forstner in Gelächter ausbrach, dem sich einige umstehende Einwohner anschlossen. Der Leutnant verlor daraufhin die Beherrschung und streckte mit seinem Säbel den Schuster nieder, der schwere Kopfverletzungen davontrug. Dieser neuerliche Akt der Aggression spitzte die Affäre weiter zu.

Forstner wurde von einem Militärgericht in erster Instanz zu 43 Tagen Arrest verurteilt, die zweite Instanz hob das Urteil sogar ganz auf. [3] Obwohl ihn fünf bewaffnete Soldaten begleitet hatten und der Schuster unbewaffnet sowie halbseitig gelähmt war, interpretierten die Richter sein Handeln als Notwehr, da der Schuhmacher sich der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht hatte. In Militärkreisen erhielt Forstner Zuspruch, da er mit seiner Gewalttat die Ehre der Armee verteidigt habe.

Proteste im ganzen Deutschen Reich

Der Pandurenkeller: Arrestzellentrakt im Keller des Zaberner Schlosses, wo die vom Militär festgenommenen Zivilisten über Nacht in Gewahrsam gehalten wurden. Darunter waren auch an den Demonstrationen gänzlich unbeteiligte Personen, u. a. mehrere Richter, was von der bürgerlichen Öffentlichkeit in Deutschland mit Fassungslosigkeit aufgenommen wurde

Bereits am 28. November hatte sich der Gemeinderat von Zabern in einem Telegramm an Kaiser Wilhelm II., Bethmann Hollweg und Falkenhayn gewandt und gegen die willkürlichen Verhaftungen seiner Bürger protestiert. Zwei Tage später fand in Mülhausen eine 3000 Teilnehmer starke Versammlung der SPD statt, die gegen die Übergriffe der Soldaten demonstrierte. In einer Resolution bezeichneten die Teilnehmer den Staat als Militärdiktatur und forderten dazu auf, notfalls auch durch Streiks gegen die herrschenden Zustände zu opponieren. In Straßburg riefen die Bürgermeister mehrerer Städte Elsass-Lothringens am 2. Dezember den Kaiser auf, Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz ihrer Bewohner vor Militärwillkür zu gewährleisten.

Die Welle der Empörung breitete sich auf das ganze Reich aus, insbesondere im Umfeld der SPD herrschte Entsetzen über die Vorgehensweise des Militärs. Am 3. Dezember rief der Parteivorstand der SPD alle Organisationen der Partei zu Protestversammlungen auf. Vier Tage später fanden in siebzehn deutschen Städten, u. a. in Berlin, Breslau, Chemnitz, Duisburg, Düsseldorf, Elberfeld, Köln, Leipzig, Mülheim an der Ruhr, München, Solingen und Straßburg, Kundgebungen statt, auf denen Sozialdemokraten gegen die Willkürherrschaft der Militärs demonstrierten und Bethmann Hollweg sowie Falkenhayn zum Rücktritt aufforderten. An den Ereignissen in Zabern entzündete sich eine Volksbewegung gegen den Militarismus und für die Verteidigung der Rechte der nationalen Minderheiten im deutschen Reich.

Ein Einlenken der Regierung oder des Kaisers war jedoch nicht zu erkennen. Um weiteren Problemen vorerst aus dem Weg zu gehen, ordnete der Kaiser von Donaueschingen aus am 5. Dezember eine vorübergehende Verlegung der Zaberner Einheiten an. In den nächsten beiden Tagen zogen die Soldaten auf die Truppenübungsplätze Oberhofen (bei Hagenau) und Bitsch um.

Die weiteren Auflehnungen wurden unterdrückt. Das Kriegsgericht in Straßburg verurteilte am 11. Dezember zwei Rekruten aus Zabern zu drei bzw. sechs Wochen Militärarrest, weil sie die beleidigenden Äußerungen Forstners öffentlich bestätigt hatten. Die Straßburger Polizei beschlagnahmte auf Antrag des dortigen Generalkommandos des XV. Armeekorps unter General von Deimling am 17. Dezember eine von der Grammofonfirma Cromer und Schrack hergestellte Schallplatte. Diese offenbarte in Dialogen, die mit Trommelwirbel untermalt waren, die Geschehnisse im Rahmen der Zabern-Affäre. Zudem stellten die Militärs Strafantrag wegen der Beleidigung deutscher Offiziere. Dementsprechend erlahmten die Proteste.

Missbilligungsvotum gegen Bethmann Hollweg

Theobald von Bethmann Hollweg

Die Ereignisse in Zabern lösten auch im Reichstag erregte Debatten aus. Das Zentrum, die SPD und die Fortschrittliche Volkspartei richteten parlamentarische Anfragen an den Kanzler. Drei Abgeordnete – Karl Hauss vom Zentrum, Adolph Röser von der Fortschrittspartei und Jacques Peirotes von den Sozialdemokraten – eröffneten die Diskussion am 3. Dezember, indem sie jeweils stellvertretend für ihre Partei ihre kritische Sicht auf die Zabern-Affäre darlegten. Bethmann Hollweg spielte in seiner anschließenden Rede das Verhalten der Militärs herunter. Laut Beobachtern der Debatte wirkte er sichtlich nervös und angeschlagen. Nach ihm äußerte sich zum ersten Mal Falkenhayn vor dem Reichstag. Er verteidigte die Offiziere, die nur ihre Pflicht getan hätten und griff unter anderem die Presse scharf an, die mit propagandistischen Methoden die Affäre hochgespielt hatte, um Einfluss auf das Militär zu nehmen.

Zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, wie unterschiedlich die Ansichten von Reichstag und Reichskanzler waren. Die Debatte wurde am nächsten Tag fortgeführt, Bethmann Hollweg äußerte sich dabei erneut zu den Ereignissen. Zwar machte seine zweite Rede einen besseren Eindruck, doch sie konnte die Stimmung im Reichstag nicht mehr umdrehen. Noch am 4. Dezember machte zum ersten Mal in der Geschichte des Kaiserreichs das Parlament von der Möglichkeit eines Missbilligungsvotums (§ 33a der Geschäftsordnung des Reichstags) Gebrauch, die ihm seit 1912 zustand. Mit 293 Stimmen bei 4 Enthaltungen und 54 Gegenstimmen, welche ausschließlich aus den Reihen der Konservativen kamen, missbilligte es das „nicht der Anschauung des Reichstages“ entsprechende Verhalten der Regierung.

Auswirkungen hatte das Votum jedoch nicht, sodass die Zabern-Affäre als anschauliches Beispiel für die politischen Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs dienen kann. Zwar forderte die SPD Bethmann Hollweg auf, die Konsequenzen aus der Missbilligung zu ziehen, doch der Kanzler lehnte einen Rücktritt erwartungsgemäß ab und verwies darauf, nur vom Vertrauen des Kaisers abhängig zu sein, wie es Artikel 15 der Reichsverfassung in der Tat vorsah: Allein der Kaiser konnte das Amt des Reichskanzlers neu besetzen. Wilhelm II. war aber keinesfalls bereit, sich der Entscheidung des Reichstags zu beugen, da er eine Parlamentarisierung des Reiches, die seinen Interessen und staatsphilosophischen Anschauungen widersprach, bekämpfte und den Einfluss des Reichstags und der Parteien möglichst gering halten wollte.

Zugleich bestritt Bethmann Hollweg auch, dass Interpellationen des Parlaments eine bindende Wirkung auf die Regierung entfalten. Ein Versuch der SPD, den Haushalt des Reichskanzlers am 9. Dezember abzulehnen und ihn dadurch aus dem Amt zu drängen, fand nicht genügend Zustimmung. Lediglich die Polenpartei unterstützte das Ansinnen der Sozialdemokraten.

Folgen

Der Prozess gegen von Reuter und Schadt

Oberst Ernst von Reuter war 1913 Kommandeur des in Zabern garnisonierten preußischen Infanterie-Regiments

Die vom 5. bis 10. Januar 1914 vor dem Kriegsgericht in Straßburg erfolgte Gerichtsverhandlung sprach die beiden Hauptverantwortlichen Oberst von Reuter und Leutnant Schadt vom Vorwurf frei, sich unrechtmäßig Zivilpolizeigewalt angeeignet zu haben. Das Gericht entschuldigte sich zwar für die Übergriffe der Soldaten, sprach die Schuld aber den Zivilbehörden zu, deren Aufgabe es gewesen wäre, für Ordnung zu sorgen. Es verwies dabei auf eine bis dahin vergessene preußische Kabinettsorder aus dem Jahre 1820, bei der es zudem zweifelhaft war, ob sich die Rechtmäßigkeit auch auf die Reichslande erstreckte. Gemäß der Order muss der höchstrangige Militärbeamte einer Stadt die rechtliche Gewalt an sich reißen, wenn die Zivilverwaltung den Schutz der Ordnung vernachlässigt. Weil die Angeklagten aufgrund dieser Bestimmungen gehandelt hatten, konnten sie nicht verurteilt werden.

Während viele liberale Bürger, die den Prozess interessiert verfolgt hatten, nun bitter enttäuscht waren, machte sich unter den anwesenden Militärs großer Jubel über das Urteil breit, noch im Gerichtssaal gratulierten sie den Angeklagten. Auch Wilhelm II. zeigte sich sichtlich erfreut und verlieh von Reuter gar postwendend einen Orden. Das Militär verließ die Bühne als starker und selbstbewusster Sieger, hatte sich doch seine Unantastbarkeit im Kaiserreich bestätigt.

Gesetzliche Regelung des Militäreinsatzes im Inneren

Am 14. Januar beschloss der Reichstag, einen Ausschuss einzusetzen, der die Rechte des Militärs gegenüber der Zivilgewalt gesetzlich regeln sollte. Zwei Anträge des NLP-Vorsitzenden Ernst Bassermann und des Zentrumspolitikers Martin Spahn, welche die Reichsregierung zur Klärung der zivilrechtlichen Kompetenz militärischer Instanzen aufforderten, wurden zehn Tage später vom Reichstag mehrheitlich gebilligt.

Das Ergebnis, die „Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seiner Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen“, erließ der Kaiser am 19. März. Sie untersagte es der preußischen Armee, eigenmächtig in die Kompetenz ziviler Behörden einzuschreiten. Stattdessen muss ein Truppeneinsatz vorher von der Zivilgewalt angefordert werden. Das Gesetz hatte bis zum 17. Januar 1936 Bestand, als die Nationalsozialisten es mittels der „Verordnung über den Waffengebrauch der Wehrmacht“ aufhoben.

Wiederaufleben der Reichstagsdebatte

Der Strafrechtstheoretiker Franz von Liszt entfachte eine neue Debatte im Reichstag, als er die Gültigkeit der Kabinettsorder aus dem Jahre 1820 bestritt. Am 23. Januar bestätigte Bethmann Hollweg im Reichstag jedoch die Geltung der Order und legitimierte dadurch die militärischen Handlungen in Zabern.

Folgen für Elsass-Lothringen

Karte der Reichslande aus dem Jahr 1905

Das Verhältnis zwischen Elsaß-Lothringen und dem übrigen Deutschen Reich wurde merklich in Mitleidenschaft gezogen. Elsässer und Lothringer fühlten sich der Willkür des deutschen Militärs schutzloser denn je ausgeliefert. Die zweite Kammer des elsass-lothringischen Parlaments äußerte sich in einer Resolution am 14. Januar zu den Vorfällen. Während sie das Verhalten der Zivilbehörde verteidigte, verurteilte sie die Aktion des Militärs sowie den Freispruch des Regimentskommandeurs von Reuter. Landtagsabgeordnete verschiedener Parteien gründeten in Straßburg am 26. Februar die Liga zur Verteidigung Elsaß-Lothringens.

Durch die Zabern-Affäre kam es auch zu personellen Veränderungen, infolge deren die beiden wichtigsten zivilen Positionen in Elsass-Lothringen neu besetzt wurden. Am 31. Januar wurde der Staatssekretär im Ministerium für Elsaß-Lothringen, Hugo Freiherr Zorn von Bulach, durch den Potsdamer Oberpräsidialrat Siegfried Graf von Roedern ersetzt. Der Reichsstatthalter Karl Graf von Wedel nahm am 18. April seinen Hut, woraufhin der Kaiser zur Enttäuschung der Elsässer den preußischen Innenminister Johann von Dallwitz in dieses Amt brachte. Dallwitz war ein entschiedener Verfechter des Obrigkeitsstaates und lehnte auch die Verfassung ab, die man dem Reichsland 1911 gewährt hatte.

Verarbeitung in Literatur und Sprache

Der Schriftsteller Heinrich Mann verarbeitete die Zabern-Affäre in seinem Roman Der Untertan.

Der Schriftsteller Ulrich Rauscher höhnte in einem Gedicht über den „braven Bürger“:[4]

Ob Euresgleichen auch zu Haufen
vor Bajonett und Säbelhieb –
Marsch, Marsch! Hopp, Hopp! – Spießruten laufen:
Ihr seid doch alle leutnantslieb!

Ihr fühlt nur unter Kolbenstößen
Euch wahrhaft wohl im Vaterland.
Verdammt, die sich derart entblößen,
nachdem sie selber sich entmannt!

Euch werde fernerhin in Gnaden
der Säbel übers Hirn gehaut!
Ihr seid des Deutschen Reichs Kastraten!
Hurrah, du Eisenbraut!

Kurt Tucholsky machte sich in einem Gedicht für den Vorwärts über den „Mut“ von Leutnant Forstner lustig:[5]

Der Held von Zabern

Ein „Mann“ mit einem langen Messer,
und zwanzig Jahr –
ein Held, ein Heros und Schokladenesser,
und noch kein einzig Schnurrbarthaar.
Das stelzt in Zaberns langen Gassen
und kräht Sopran –
Wird man das Kind noch lange ohne Aufsicht lassen? –
Es ist die allerhöchste Eisenbahn! –
Das ist so einer, wie wir viele brauchen! –
Er führt das Korps!
Und tief bewegt sieht man die Seinen tauchen
nach Feinden tief in jedes Abtrittsrohr.
Denn schließlich macht man dabei seine Beute –
wer wagt, gewinnt!
Ein lahmer Schuster ist es heute,
und morgen ist’s ein Waisenkind.
Kurz: er hat Mut, Kuhrasche oder besser:
ein ganzer Mann! –
Denn wehrt sich jemand, sticht er gleich mit’s Messer,
schon, weil der and’re sich nicht wehren kann.

In Anlehnung an das Verhalten des Militärs fand der Begriff zabernism als Bezeichnung für den Missbrauch militärischer Gewalt oder für tyrannisches, aggressives Verhalten im Allgemeinen Eingang in die englische Sprache.

Zeitgenössische Zitate

„Wie uns angeblich noch keiner – um mit Bismarck zu reden – den preußischen Leutnant nachgemacht hat, so hat uns in der Tat noch keiner den preußisch-deutschen Militarismus ganz nachzumachen vermocht, der da nicht nur Staat im Staate, sondern geradezu ein Staat über dem Staat geworden ist […]““

Karl Liebknecht, bereits sieben Jahre vor der Zabern-Affäre[6]

„Leben wir in einer südamerikanischen Republik, wo jeder Oberst den Gerichtsbehörden das Gesetz diktieren darf, und hängen bei uns Leben und Freiheit der Bürger von den Entschlüssen einer Kasinogesellschaft ab?“

Theodor Wolff, Publizist und Schriftsteller

„Wir müssen uns dagegen verwahren, daß ein akademisches und militärisches Maulheldentum Stimmträger der deutschen Gesinnung wird“

(Theodor Heuss kurz vor den Vorfällen[7])
Zabern ist nur ein Symptom.“ (ders. kurz nach den Vorfällen[8]

„Immer feste druff!“

Wilhelm von Hohenzollern, der Sohn des Kaisers, in einem zum Jahreswechsel an General v. Deimling und Oberst v. Reuter gesandten Telegramm, dessen Text durch die Indiskretion eines elsässischen Telegrafenbeamten öffentlich bekannt wurde

„Und ist nicht das Morden und das Verstümmeln im Kriege der eigentliche Beruf und die wahre Natur jener ‚Militärbehörden‘, deren gekränkte Autorität in Zabern die Zähne gezeigt hat?“

Rosa Luxemburg)[9]

„Säbelherrschaft“

Gerhard Anschütz, Staatsrechtler[10]

Literatur

  • Erwin Schenk: Der Fall Zabern, W. Kohlhammer, Stuttgart 1927.
  • Hans-Günter Zmarzlik: Bethmann Hollweg als Reichskanzler 1909–1914. Studien zu Möglichkeiten und Grenzen seiner innenpolitischen Machtstellung (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd 11), Droste-Verlag, Düsseldorf 1957, bes. S. 114–130.
  • Die Zabern-Tragadie (1913). In: Paul Schweder: Die Grossen Kriminalprozesse des Jahrhunderts. Ein deutscher Pitaval. Verlag Kriminalistik, Hamburg 1961, S. 192 ff.
  • Hans-Ulrich Wehler: Der Fall Zabern. Rückblick auf eine Verfassungskrise des wilhelminischen Kaiserreichs, in: Die Welt als Geschichte 23, 1963, S.27–46; wieder als: Symbol des halbabsolutistischen Herrschaftssystems - Der Fall Zabern von 1913/14, in: Hans-Ulrich Wehler: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1970, S.65–83; noch einmal als: Der Fall Zabern von 1913/14 als Verfassungskrise des Wilhelminischen Kaiserreichs, in: Hans-Ulrich Wehler: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1979 (2. Aufl.), S.70–88 und 449–458.
  • David Schoenbaum: Zabern 1913. Consensus Politics in Imperial Germany, George Allen & Unwin, London 1982 (197 Seiten); ISBN 0-04-943025-4.
  • Rainer Nitsche (Hrsg.): Durchfall in Zabern. Eine Militärdemontage, Transit Buchverlag, Berlin 1982; ISBN 3-88747-010-9.
  • Richard W. Mackey: The Zabern Affair, 1913–1914, University Press of America, Lanham 1991; ISBN 0-8191-8408-X.
  • Gerd Fesser: „...ein Glück, wenn jetzt Blut fließt!". Zeitläufte, in: Die Zeit Nr. 46/1993, S. 88.
  • Christopher Fischer, Alsace to the Alsatians: Visions and Divisions of Alsatian Regionalism, 1871-1939 (New York, 2010)
  • Wolfgang J. Mommsen: War der Kaiser an allem schuld?, Propyläen Verlag, Ullstein Heyne List, Berlin 2005, S. 203–209; ISBN 3-548-36765-8.

Einzelnachweise

  1. Albert Hopmann: Das ereignisreiche Leben eines 'Wilhelminers'. Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen 1901–1920. Hrsg. Michael Epkenhans (Schriftenreihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes), Oldenbourg, München 2004, S. 344 f.
  2. Wolfgang J. Mommsen: War der Kaiser an allem schuld?, S. 203.
  3. Anschließend wurde er zum Infanterie-Regiment Nr.67 nach Metz versetzt. Mit diesem Regiment rückte er mit Kriegsausbruch aus und fiel bereits am 1. September 1914 bei Dannevoux.
    Quelle: Ehren-Rangliste des ehemalige Deutschen Heeres, Mittler & Sohn, Berlin 1926
  4. Ulrich Rauscher: Den braven Bürgern. In: Die Schaubühne, 15. Januar 1914, S. 70.
  5. Theobald (Kurt Tucholsky): Der Held von Zabern. In: Vorwärts, Jg. 30, Nr. 318, 3. Dezember 1913.
  6. Karl Liebknecht in einem Vortrag vor dem Mannheimer Jugendkongress im Oktober 1906, dann wieder in seiner Schrift Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung. Leipzig, 1907. Hier zitiert nach Volker R. Berghahn (Hg.): Militarismus. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1975, S. 91.
  7. Theodor Heuss: Der deutsche Chauvinismus. In: März, 7. Jg./Nr. 34 vom 23. August 1913, S. 269
  8. Theodor Heuss: Die Zaberner Schüssel. In: März, 8. Jg./Nr. 3 vom 17. Januar 1914, S. 99
  9. Rosa Luxemburg: Sozialdemokratische Korrespondenz, Nr. 3. Berlin, 6. Januar 1914.
  10. Gerhard Anschütz: "Zabern", Deutsche Juristen-Zeitung, Jahrgang 18 (1913), 1457ff..


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