Belgisches Französisch

Belgisches Französisch
Regionale Verbreitung der Sprachen in Belgien: Niederländisch (gelb), Französisch (rot) und Deutsch (blau)
Verbreitung des Belgischen Französisch in Afrika (rot), weitere französischsprachige Länder in Rosa.

Belgisches Französisch ist eine regionale Variante der Französischen Sprache in Belgien. Es unterscheidet sich hauptsächlich im Akzent vom Schweizer Französisch und vom Französisch, wie es in Frankreich gesprochen wird. Es charakterisiert sich durch Archaismen und Belgizismen.

Weiterhin unterscheidet sich belgisches Französisch vom den ebenfalls in Belgien anerkannten Oïl-Sprachen Wallonisch, Picardisch, Lothringisch und Champenois.

Seit der Staatsgründung 1830 war das Französische de facto landesweit die Sprache der Verwaltung, der Justiz und des Schulsystems. Erst im 20. Jahrhundert wurde das Französische im flämischen Landesteil zurückgedrängt und die Bevölkerungsmehrheit der Flamen konnte die volle Gleichberechtigung ihrer niederländischen Sprache durchsetzen.[1]

Inhaltsverzeichnis

Phonetik/Phonologie

Das in Belgien verwendete Französisch (BF) kann durch linguistischen Merkmale charakterisiert werden, viele der beschriebenen Eigenheiten gehen auf wallonisches Substrat zurück.

Vokalismus

Im BF erhält sich eher das Phonem [/œ̃/], das in Frankreich seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit [/ɛ̃/] zusammenfällt (Minimalpaar im BF: <brun> [bʁœ̃] : <brin> [bʁɛ̃]).

Die Vokalquantität ist im BF phonemunterscheidend, was sich an Minimalpaaren zeigen lässt:

  • Die Opposition /a/ : /aː/ steht anstelle der (heute zugunsten von /a/ weitgehend aufgegebenen) Opposition /a/ : /ɑ/ des Frankreichfranzösischen (z. B. <patte> [pat] : <pâte> [paːt]);
  • /e/ : /eː/, z. B. in <aimé> : <aimée>, d. h. die grammatikalische Kategorie Genus wird auch phonetisch realisiert;
  • /ɛ/ : /ɛː/, z. B. in <faite> : <fête>;
  • /i/ : /iː/, z. B. in <nid> : <nie>;
  • /y/ : /yː/, z. B. in <nu> : <nue> (auch hier Markierung des Genus).

Bei Bernhard Pöll findet sich der folgende Hinweis auf eine weitere die Vokalquantität betreffende Besonderheit:

„Die Längung anderer Vokale (vortonig; bzw. betont vor [l] oder stimmhaftem Okklusiv) […] ist bei jüngeren Sprechern und Angehörigen höherer Gesellschaftsschichten im Verschwinden begriffen.“[2]

Einige Phänomene im Bereich der Vokalqualität sind für das BF ebenfalls typisch: Im Auslaut ist die Öffnung von [o] > [ɔ] und [e] > [ɛ] möglich: [kafɛ] <café>, [velɔ] <vélo>; gelegentlich auch im Inlaut: [diplɔm] <diplôme>. Wortfinales [] kann zu [] diphthongiert werden: [aleɪ] <allez>. Die Gruppe /ɥi/ fällt mit /wi/ zusammen: [wi(t)] <huit> (statt [ɥi(t)]). wie [wi] <oui>. Schließlich können orale Vokale vor den Nasalen /m/, /n/ nasaliert werden: [pɔɛ̃m] <poème>, [ʁɛ̃n] <reine>.

Die im Frankreichfranzösischen übliche Strategie zur Hiatvermeidung in Wörtern wie lion, avion – Abschwächung des [i] zum Halbvokal [j], also: [ljɔ̃], [avjɔ̃] – wird, ausgenommen bei Wörtern auf -tion, -lion, seltener angewendet: [liɔ̃], [aviɔ̃]. In anderen Fällen wird zwischen den beiden aufeinandertreffenden Vokalen ein Gleitlaut [w] oder [j] eingefügt: [fuwɛ] <fouet>, [tɛjaːtʁ] <théâtre> (in Frankreich: [fwɛ], [teaːtʁ/teɑtʁ]).

<li> + Vokal, z. B. in <milieu>, <milliard> – orthoepisch [lj] – kann als einfacher Halbvokal [j] realisiert werden: [mijø], [mijaːʁ].

Konsonantismus

Das BF kennt eine der Auslautverhärtung im Deutschen, Niederländischen und anderen Sprachen vergleichbare Desonorisierung wortfinaler Obstruenten, also [b] > [p], [ɡ] > [k], [z] > [s], [ʒ] > [ʃ] und [v] > [f]. Beispiele: [bɔ̃p] <bombe>, [dɔk] <dogue>, [ʁos] <rose>, [bɛlʃ] <belge>, [ynif] <univ>. (Die betroffenen Phonem stehen im Französischen in Opposition [z. B. /dɔɡ/ <dogue> : /dɔk/ <dock>], die also im BF im Wortauslaut aufgehoben wird.)

Die Desonorisierung kann in Verbindung mit der Reduzierung von Konsonantenclustern im Auslaut zu ungewöhnlichen Lautbildern führen ([taːp] <table>).

Bei Wörtern wie terrible, bei denen nach dem bisher Gesagten mit einer Aussprache wie [tɛʁiːp] zu rechnen ist, kommt, zumal in Brüssel, auch eine Auflösung von [b] + [l] zu [bǝl] (mit eingeschobenem Schwa) in Frage.

An die Stelle der Kombinationen [tj] und [dj] mit palatalem Approximanten, z. B. in moitié, Didier, können, abhängig vom vorangehenen Plosiv, Affrikaten mit dem stimmhaften und dem stimmlosen postalveolaren Frikativ treten ([mwaʧe(ː)/mwaʧeɪ], [diʤe(ː)/diʤeɪ]).

Sonstiges

Die Aussprache aus dem Niederländischen stammender Eigennamen durch BF-Sprecher/-innen kommt der niederländischen Aussprache i. d. R. näher als die Aussprache dieser Namen durch Sprecher/-innen des Französischen außerhalb Belgiens. Der Eigenname Vandervelde (ndl. [v̊ɑndərˈv̊ɛɫdə]) etwa würde von vielen Frankophonen in Frankreich vermutlich [vɑ̃ndɛʁvɛld(ə)] ausgesprochen, während in Belgien eher mit einer dem Niederländischen ähnlicheren Aussprache wie [fandɛʁfɛldə] zu rechnen ist. Dieses Phänomen läßt sich z. B. in belgischen Nachrichtensendungen beobachten, in denen in der Politikberichterstattung häufig von Trägern niederländischer Namen die Rede ist. Ähnliche Phänomenen können auch in anderen mehrsprachigen Gesellschaften wie etwa in Kanada oder der Schweiz beobachtet werden, in denen die Sprecher/-innen häufig mit für sie fremdsprachlichen Eigennamen umgehen müssen.

Bei den aktiv zweisprachigen Sprechern des Belgischen Französisch, die in erster Linie in Brüssel zu finden sind, können zu dem oben Genannten noch Interferenzerscheinungen auf phonetisch-phonologischer Ebene hinzukommen:

„Zu wenig gespannte Aussprache der Vokale, verbunden mit einer Tendenz zur Längung, Desonorisierung der stimmhaften Auslautkonsonanten, gerolltes r und velares (»dickes« oder »rheinisches«) l charakterisieren den Brüsseler […]“[3]

Der Name Bruxelles könnte demzufolge [brysɛɫ] ausgesprochen werden gegenüber normfranzösischem [bʁysɛl] bzw. [bʁyksɛl] (vgl. niederländisch [ˈbrɵsəɫ]).

Orthographie

Ein Fluss wird in Belgien „Semois“ geschrieben und in Frankreich „Semoy“.

Lexik und Semantik

Ein Teil der Belgizismen sind Bezeichnungen für spezifisch belgische Institutionen (Statalismen), auf die außerhalb Belgiens nur selten Bezug genommen wird, zu ihnen gehören beispielsweise die folgenden Ausdrücke: bourgmestre (F: maire), échevin (F: adjoint au maire), commune (F: municipalité), candidature (akadem. Grad), sowie communauté und seine Ableitungen (communautaire, communautariser …), die auf die Einteilung des Landes in Sprachgemeinschaften verweisen und flamingant, wallingant und belgicain als Bezeichnungen für die Vertreter flämischer und wallonischer Autonomiebestrebungen und die Befürworter des Zentralismus.[4]

Zu den Belgizismen zählen auch einige Niederlandismen, z. B. babeler = causer, vgl. ndl. babbelen (dt. schwätzen, plaudern) oder der Ausdruck ça cloppe = ça colle, vgl. ndl. dat klopt (dt. das stimmt).

Statt soixante-dix (70) und quatre-vingt-dix (90) werden in Belgien (wie auch in der frankophonen Schweiz) septante und nonante verwendet. Zu beachten ist aber, dass die in der französischsprachigen Schweiz gebräuchlichen Ausdrücke huitante und octante anstelle von quatre-vingt (80) in Belgien nicht verwendet werden.

Auch Regionalismen können zu den Belgizismen gezählt werden, wenn ihr Verbreitungsgebiet sich weitgehend mit Belgien deckt. Ein Beispiel ist gosette, die Bezeichnung für ein Gebäck, die aus dem Wallonischen stammt, oder auch la drache als nur in Belgien übliches Wort für den Regen. La drache nationale ist der Regenschauer, der am 21. Juli fast schon traditionsgemäß zum Nationalfeiertag niedergeht.

Schließlich sind einige Ausdrücke zu beachten, die in Belgien gebräuchlich sind, außerhalb Belgiens aber als veraltet gelten. Beispiele sind entièreté anstelle des Latinismus totalité und endéans. Beispiele für solche Archaismen sind auch einige Anglizismen aus dem Bereich des Sports wie back, forward oder keeper, die ins Französische übernommen wurden, als die aus England stammende Sportart Fußball auf dem Kontinent populär wurde, die aber in Frankreich inzwischen durch französische Ausdrücke verdrängt wurden.

Daneben gibt es im BF aber auch Neuerungen, die sich außerhalb Belgiens nicht durchgesetzt haben, darunter solche Neologismen, die mithilfe von Ableitungen gebildet werden (z. B. navetteur < navette).

Literatur

  • Dico Belgicismes (französisch)
  • Kramer, Johannes: Zweisprachigkeit in den Benelux-Ländern. Mit 11 Karten. Hamburg 1984.
  • Pöll, Bernhard: Französisch außerhalb Frankreichs. Geschichte, Status und Profil regionaler und nationaler Varietäten (Romanistische Arbeitshefte 42), Tübingen 1998
  • Wolf, Heinz Jürgen: Das Französische in Belgien. in: Wolfgang Dahmen et al. (Hrsg.): Germanisch und Romanisch in Belgien und Luxemburg (Romanistisches Kolloquium VI). Tübingen 1992

Weblinks

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Für eine Darstellung dieser Entwicklung vgl. Kramer: Zweisprachigkeit in den Benelux-Ländern, S. 59ff.
  2. Bernhard Pöll: Französisch außerhalb Frankreichs, S. 50
  3. Vgl. dazu Kramer, S. 106
  4. die ersten beiden Ausdrücke aus einer umfangreicheren Liste bei Wolf: Das Französische in Belgien, S. 103f., die weiteren aus dem Dico Belgicismes

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