Wolf Singer

Wolf Singer
Wolf Singer im Oktober 2008

Wolf Joachim Singer (* 9. März 1943 in München) ist ein deutscher Neurophysiologe.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Wolf Singer studierte ab 1962 (von 1965 an als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes) Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU München) sowie 1965/66 zwei Semester in Paris. 1968 wurde er an der LMU München mit der Arbeit Die Funktion der telencephalen Kommissuren für bilaterale Synchronisierung des EEG, die er bei Otto Detlev Creutzfeldt am Max-Planck-Institut für Psychiatrie verfasst hatte, zum Dr. med. promoviert. Während seiner Weiterbildung in Neurophysiologie verbrachte er 1971 auch einen Ausbildungsaufenthalt an der University of Sussex in England.

1975 habilitierte er sich an der medizinischen Fakultät der Technischen Universität München für das Fach Physiologie. 1981 wurde er zum Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main berufen. Hier gründete er zusammen mit Walter Greiner und Horst Stöcker im Jahre 2004 auch das Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) und 2006/07 das Ernst-Strüngmann-Wissenschaftsforum. Er ist Honorarprofessor für Physiologie.

Wolf Singer ist der Vater der Hirnforscherin Tania Singer und der Medienwissenschaftlerin Nathalie Singer.[1]

Wirken

Forschungsthemen

Das Ziel der Arbeiten seiner neurophysiologischen Abteilung ist es, die neuronalen Prozesse bei sogenannten höheren kognitiven Leistungen wie etwa bei der visuellen Wahrnehmung, beim Erinnern oder bei anderen Denkleistungen aufzuklären. Erforscht wird in seinem Institut u. a. auch das Entstehen der Sehstörung Amblyopie.

In der neurophysiologischen Forschergemeinde ist Singer international u. a. bekannt für seine Forschungen und Überlegungen zu den physiologischen Grundlagen von Aufmerksamkeits- und Identifizierungsvorgängen. Das Bindungsproblem, bei dem die Frage im Mittelpunkt steht, wie verschiedene sinnliche Aspekte eines Objektes – Form, Farbe, Härte, Gewicht, Geruch etc.– zu einem einzigen wahrgenommenen Objekt zusammengefasst werden können, erforscht das Institut mit technisch aufwändigen Experimenten vorwiegend im Bereich der visuellen Wahrnehmung. Die Theorie dazu stammt unter anderem von Christoph von der Malsburg. Sie misst der zeitlichen Synchronität von neuronaler Aktivität im Cortex große Bedeutung zu. Übereinstimmende Oszillationsfrequenzen der Nervenzellen würden danach auf das gleiche Objekt verweisen, während andere Frequenzen andere Objekte markieren.

Singer vertritt eine naturalistische Deutung neurophysiologischer Daten und bemüht sich, die Ergebnisse der Hirnforschung in der Öffentlichkeit bekanntzumachen und zu vertreten.

Singer ist einer der Wissenschaftler, die an den Mind-and-Life-Dialogen beteiligt sind; er ist auf der Website des Mind & Life Institute erwähnt als einer der Science & Contemplative Affiliates.

Freiheit und Schuld

Singer gerät, ähnlich wie Gerhard Roth, durch seine pointierten Stellungnahmen in Interviews, Vorträgen und populärwissenschaftlichen Essays immer wieder ins Zentrum öffentlicher Auseinandersetzungen. Seine Folgerungen aus der neurowissenschaftlichen Forschung hinsichtlich politischer und juristischer, psychologischer sowie entwicklungspsychologischer und pädagogischer oder anthropologischer, aber auch z. B. architektonischer oder städtebaulicher Fragen bis hin zu solchen historischer und philosophisch-weltanschaulicher Art werden von der Presse gerne aufgegriffen.[2]

Besonders kontrovers erörtert wurden seine Thesen zur Willensfreiheit. Singer lehnte die Rede von einem freien Willen ab. Dies brachte er 2004 öffentlich in einem FAZ-Artikel zum Ausdruck, dessen Untertitel er in der leicht abgewandelten Formulierung Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu sprechen[3] zum Haupttitel des Wiederabdrucks eines umfangreichen wissenschaftlichen Fachbeitrags zu der Fachdiskussion „Hirn als Subjekt? (Teil I)“ in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie machte.[4] Singer argumentiert, das naturwissenschaftliche Kausalmodell, nach dem die Welt als geschlossenes deterministisches Ganzes anzusehen ist, schließe Freiheit aus. Befürworter des Freiheitsbegriffs wie Peter Bieri wenden allerdings ein, dass der Begriff der Willensfreiheit nur unter bestimmten Voraussetzungen im Gegensatz zum Determinismus stehe und dass diese Voraussetzungen keinesfalls akzeptiert werden müssten.[5]

Singer fordert auch, dass das Fehlen von Willensfreiheit Konsequenzen für unsere Konzeptionen von Schuld und Strafe haben müsse: Wenn naturwissenschaftlich gesehen niemand frei entscheiden könne, sei es nicht sinnvoll, Personen für ihr Tun verantwortlich zu machen. Gesellschaftlich untragbare Personen müssten „weggesperrt“ und „bestimmten Erziehungsprogrammen“ – so weiter wörtlich – „unterworfen“ werden.[6]

Wolf Singer und Gerhard Roth waren Mitautoren von „Das Manifest“, einer Aufsehen erregenden Deklaration von – nach der Formulierung der Redaktion – elf führenden Neurowissenschaftlern über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, die im Herbst 2004 in der Zeitschrift Gehirn&Geist publiziert wurde.[7]

Ehrungen und Auszeichnungen

Wolf Singer erhielt für wissenschaftliche Arbeiten und sein darüber hinausgehendes Engagement zahlreiche Ehrungen, so u. a. den Ernst Jung-Preis für Wissenschaft und Forschung, den Zülch-Preis, den Max-Planck-Preis für Öffentlichkeitsarbeit, 1998 den Hessischen Kulturpreis, den Communicator-Preis des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, die Ehrendoktorwürde der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg und La Medaille de la Ville de Paris.

Außerdem wurde er in Frankreich als Chevalier de la Legion d'Honneur ausgezeichnet. 1992 wurde Singer zum lebenslangen Mitglied der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften in Rom ernannt (s.). Im Jahre 2002 erhielt er den Ernst-Hellmut-Vits-Preis der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster (Westfalen).

Singer gehört dem wissenschaftlichen Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung an und ist Mitglied im Kuratorium der Hertie-Stiftung. Seit 2007 ist er ausländisches Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften.

2011 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz erster Klasse verliehen.

Werke (Auswahl)

Einzelnachweise

  1. Nathalie Singer an der Uni Weimar
  2. Petra Gehring konstatiert in Kap. 9 ihres Buches Was ist Biomacht? (Campus, Frankfurt 2006) mit dem Titel Die Hirnforschung und die Macht: Von der Willensfreiheit zur Strafrechtspolitik. auf S. 194, die Hirnforschung sei „nicht zuletzt ein Fall für die Mediensoziologie“.
  3. In: Christian Geyer: Hirnforschung und Willensfreiheit. Suhrkamp, Frankfurt 2004 S. 30
  4. Sein dortiger Titel lautete „Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung
  5. Carl Friedrich Gethmann argumentiert in seinem Beitrag Die Erfahrung der Handlungsurheberschaft und die Erkenntnisse der Neurowissenschaften in: Dieter Sturma (Hrsg.): Philosophie und Neurowissenschaften (Suhrkamp, Ffm. 2006) S. 215-239 sogar dafür, dass es in der Freiheitsdiskussion gar nicht um unsere Willensfreiheit gehe; real stehe vielmehr das kausalistische Erklärungsparadigma in Frage, das dabei fraglos vorausgesetzt werde. Dirk Hartmann hat dazu schon 1998 in Philosophische Grundlagen der Psychologie (WBG, Darmstadt) S. 327 erläutert, durch eine „ontologische Hypostasierung“ sei es in den Naturwissenschaften zu der Fehldeutung des Kausalprinzips gekommen: dies sei eigentlich eine sog. forschungsleitende „methodologische Norm“, die meistens aber realistisch als ein Kausalgesetz aufgefasst und in naturalistischer Metaphysik der Welt als Ganzes zugrunde liegend gedacht werde (in der Physik sogar noch durch die „Geschlossenheitsthese“ verschärft, nach der es keine Ausnahme von diesem unterstellten oder eben hypostasierten „Naturgesetz“ geben soll); vgl. Hartmanns Beitrag Physis und Psyche. Das Leib-Seele-Problem als Resultat der Hypostasierung theoretischer Konstrukte. in: Dieter Sturma (Hrsg.): Philosophie und Neurowissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt 2006 (stw 1770) S. 97-123
  6. Ein neues Menschenbild? (Suhrkamp, Ffm. 2003) S. 34
  7. Mitautoren: Christian E. Elger, Angela D. Friederici, Christof Koch, Heiko Luhmann, Christoph von der Malsburg, Randolf Menzel, Hannah Monyer, Frank Rösler, Gerhard Roth (Biologe) und Henning Scheich
  8. ein Artikel, der wie oben erwähnt in der gedruckten Fassung mit dem programmatischen Untertitel erschien "Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden." Real handelt es sich dabei um einen Ausschnitt aus diesem Teil () eines wesentlich umfangreicheren Artikels, der kurz darauf m.d.T. "Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung" () in der DZPhil 52, 2, 2004: 235–255, publiziert wurde. Dieser Fachartikel wiederum wurde komplett und noch im selben Jahr auch der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht, jedoch nicht unter seinem Originaltitel, sondern unter dem Titel: Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. (s. nä. Eintrag)
  9. ein TB der Reihe Edition Suhrkamp (Nr. 2387), in dem dieser FAZ-Redakteur die – nach dem Prinzip der paradoxen Interventionen – trotzdem zustandegekommene und ausgesprochen umfangreiche Debatte in der FAZ (unter Einschluss einiger unabhängig davon anderenorts publizierten Artikel) dokumentiert. Singer lässt die Vermarktung seiner Arbeit hier dokumentieren; s. dazu auch die Einleitenden Bemerkungen zu einem Offenen Brief auf den ursprünglichen F.A.Z.-Artikel.
  10. Rez. hier (a. hier); Singers Reaktion darauf samt Entgegnung des Rezensenten hier und dessen Schlusswort zu einer daraufhin massiv eingesetzten Diskussion mit Links zu den Beiträgen weiterer Diskussionspartner hier

Weblinks


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