Bektaschi

Bektaschi
Eingang zum Weltzentrum der Bektaschi in Tirana
Neu erbautes Bildungszentrum der Bektaschi in Vlora, Albanien

Die Bektaschi-Tariqa (albanisch Bektashizma oder Bektashizmi, türkisch Bektaşilik) ist einer der größten und einflussreichsten islamischen Derwisch-Orden in Anatolien und auf dem Balkan. Als Gründer gilt traditionell der Sufi und Mystiker Hadschi Baktasch Wali (türkische Schreibweise Hacı Bektaş Veli; † 1270).

Inhaltsverzeichnis

Struktur

Die Bektaschi betreiben Konvente (Tekken), in denen Derwische leben. Das Oberhaupt der Bektaschi-Tariqa ist der (Groß)-Dede (Dedebaba), Dede bedeutet so viel wie Großvater. Der nächste Rang ist der Halifebaba, anschließend der des Baba (Vater). Dieser Rang hat die Aufgaben inne, zu predigen und sich um die Seelsorge zu kümmern. Die mittlere Station ist die des Derwisch, der wie der Baba verheiratet sein oder ein zölibatäres Leben führen kann. Am Ende der Hierarchie steht das normal initiierte Mitglied, der Talib oder Muhibb (Liebender). Die Bektaschi wurden zuletzt von Dedebaba Reshat Bardhi geleitet, der am 2. April 2011 verstarb.

In Albanien sind die Bektaschi neben den christlichen Kirchen und dem sunnitischen Islam eine vom Staat offiziell anerkannte Religionsgemeinschaft. In der Türkei sind sie seit einem Verbot in den 1920er Jahren nicht wieder zugelassen worden, werden aber von den Behörden mehr oder minder geduldet. Ende des 19. Jahrhunderts spielten sie eine wichtige Rolle bei der Gründung der ersten US-amerikanischen Universität im Nahen Osten, dem Robert College, das direkt neben dem wichtigsten Tekke in Istanbul errichtet wurde.[1]

Religiöse Praxis

Die religiöse Praxis der Bektaschi weicht von der islamischen Orthodoxie ab. Das Gebet ist nicht an gewisse Tageszeiten gebunden, sondern konzentriert sich auf bestimmte Abendstunden, in denen die Arbeit ruht und die Gläubigen sich in kontemplativer Hingabe den Zeremonien des Cem geistig öffnen können. In diesem Ritus werden die Gläubigen - Frauen und Männer, Junge und Alte, Arme und Reiche – durch Gesang, Musik und die Rezitation von Hymnen und Heldensagen in Begleitung des Sazinstruments in eine mystische Stimmung des Eins-Seins (El ele ve el hakka) versetzt, in der alle unterschiedslos und gemeinsam ihre Hände dem Schöpfer (Hak-Tanri-Allah) entgegenstrecken.

Der Semah-Tanz ist der rituelle Tanz der Aleviten und Bektaschiten, der innerhalb der Cem-Zeremonie stattfindet. Er ist der physisch-geistige Ausdruck der ewigen Wiederkehr aller Schöpfungen, denn im Semah-Tanz drehen sich Frauen und Männer (als Sinnbild der antagonistischen und sich dennoch bedingender Gegensätze) im Kreis und bilden symbolisch den Umlauf der Planenten um die Sonne nach.

Ihr höchstes Fest begehen die Bektaschi alljährlich eine Woche lang am Berg Tomorr bei Berat in Albanien.

Um die Lebenshaltung der Bektaschi zu beschreiben, wird folgende Anekdote erzählt: Der Kalif besuchte das Oberhaupt des Bektaschi-Ordens. Als er die üppigen Weinberge um das Konvent des Ordens erblickte, fragte er: „Mein lieber Freund, was macht ihr denn mit den vielen Weintrauben?“ „Ach“, antwortet der Derwisch, „wir essen gerne süße, reife Trauben.“ Der Kalif darauf: „Aber es ist doch unmöglich, so viele Weintrauben zu verspeisen.“ Der Derwisch daraufhin: „Das ist kein Problem. Was wir nicht essen können, das pressen wir und lagern es in Holzfässern. Und was dann geschieht, ist allein Allahs Wille.“ [2]

Geschichte

Der Orden der Bektaschi entstand in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im seldschukisch beherrschten Kleinasien. Die Lehre und Gebetspraxis der Gemeinschaft geht auf Haddschi Bektasch Veli zurück. Er wanderte ursprünglich als Yesevi-Derwisch aus Chorasan nach Anatolien aus. Die Angehörigen des nach ihm benannten Ordens verehren ihn als Gründer der Gemeinschaft, doch ist es wahrscheinlicher, dass sich erst frühe Anhänger von Hadschi Bektasch Veli zu einem Orden formten. Das Bektaschitentum fand bei der anatolischen Landbevölkerung viel Anklang und verbreitete sich ab dem 14. Jahrhundert auf dem Balkan, zuerst in Mazedonien und Kosovo, dann auch in Rumänien und Ungarn. Die aus Anatolien stammenden Derwische Sarı Saltık Baba, Hıdır Baba und Sersem Ali Dede zählen zu den ersten Missionaren.

Orhan I. gilt als Gründer der Janitscharen und soll Hadji Bektasch Veli um seine Segnung und um einen Namen für seine Elitesoldaten gebeten haben. Vom 16. Jahrhundert an lebten Bektaschi-Derwische in der Nähe der Janitscharen-Garnisonen, um dort die Soldaten geistig zu leiten.

Im Jahre 1826 erlitten die Bektaschi sowohl in Albanien wie auch in Anatolien einen herben Rückschlag, als Sultan Mahmud II. die Janitscharen-Truppe auflöste und die Schließung aller Bektaschi-Tekken im Reich anordnete. In Albanien lebte der Orden nach dem Tod dieses Sultans aber schnell wieder auf und erreichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine höchste Blüte. 15 Prozent der albanischen Bevölkerung bekannten sich zu den Bektaschi. In den Balkankriegen (1912/13) wurden 80 Prozent der Tekken in Epirus und Südalbanien von den Griechen zerstört. Von diesem Schlag konnte sich der Orden nur schwer wieder erholen.

Bis zum Verbot aller Derwisch-Orden in der Türkei durch den Staatsgründer Kemal Atatürk im Jahr 1925 hatte der Orden sein Zentrum in Anatolien, danach in Albanien (Tirana). Seitdem sind die meisten Bektaschi Albaner. Mitte der 1940er Jahre gab es in Albanien etwa 280 Babas und einfache Derwische und in den 60er Jahren immer noch fünfzig Bektaschi-Tekken mit ungefähr achtzig Derwischen. Nach der Erklärung Albaniens zum ersten atheistischen Staat der Welt im Jahr 1967 wurden die meisten heiligen Stätten der Bektaschi zerstört. Viele Mitglieder wurden ins Gefängnis geworfen. Bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur hatten nur fünf Babas und ein Derwisch überlebt. Es gab lediglich sechs Tekken, die noch als Kultgebäude erkennbar waren.

Vor dem Zweiten Weltkrieg emigrierte Bektaschi führten die Tradition des Ordens in den USA fort. Die amerikanische Tekke ist 1954 in Detroit eingerichtet worden. Nach der Aufhebung des Religionsverbots in Albanien (1990) wurde das internationale Zentrum des Bektaschi-Ordens wieder in Tirana eingerichtet. In Vlora haben die Bektaschi 2005/2006 ein großes Studienzentrum erbaut.

Literatur

  • Statuti i komunitetit Bektashian shqiptar. (Statuten der albanischen Bektashi). Vlora 1924.
  • Robert Elsie: Der Islam und die Derwisch-Sekten Albaniens. Anmerkungen zu ihrer Geschichte, Verbreitung und zur derzeitigen Lage. In: Kakanien revisited. Olzheim 27. Mai 2004 (Online-Version des Artikels (PDF) und zugehörige Bibliographie).
  • John Kingsley Birge: The Bektashi Order of Derwishes. London 1994.
  • Abdülkadir Haas: "Die Bektaşi" Riten und Mysterien eines islamischen Ordens. Reihe Religion und Mystik, EXpress Edition, Berlin 1987
  • Birge J. K. The Bektashi Order of Dervishes (London, 1937)
  • Hasluck, F. W. Christianity and Islam under the Sultans, ed. M. M. Hasluck. vol. 2 (Oxford, 1929). S. 483-596

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Friedrich Schrader in: Robert College, Nord und Süd, November 1919, S. 165–169
  2. Michael Skasa: Die Sonntagsbeilage vom 25. Oktober 2009, Bayerischer Rundfunk, Bayern 2

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