Wissenschaftsgeschichte

Wissenschaftsgeschichte
Astronomen im Spätmittelalter

Das Ziel der Wissenschaftsgeschichte (im Sinne einer Wissenschaftsgeschichtsschreibung) ist es, die historische Entstehung und Entwicklung der Wissenschaften und ihrer jeweiligen Disziplinen nachzuzeichnen. Hierzu bedient sie sich u.a. der Methoden der Geschichtsforschung. Dabei stammen Wissenschaftler, die Wissenschaftsgeschichte betreiben, oft selbst aus der Disziplin, die sie historisch bearbeiten. Wissenschaftsgeschichte erscheint dann als historischer Teil der jeweiligen Fachdisziplin.

Außer der Geschichte wissenschaftlicher Praxis, Theorien und Erkenntnisse können auch weitere Themengebiete Inhalt der Wissenschaftsgeschichte sein: z. B. Biographien ausgewählter Forscher, wissenschaftlich bedeutsame Expeditionen oder die Entwicklung wissenschaftlicher Zeitschriften, Verlage, Sammlungen oder Organisationen. Auch die Geschichte wissenschaftlicher Ausbildungsordnungen und Abschlüsse fällt in den Bereich der Wissenschaftsgeschichte. Neuere Ansätze beschäftigen sich vor allem mit den praktischen Dimensionen der Wissenschaften (practical turn), mit ihren Objekten, Repräsentationen und Instrumenten sowie mit den sozialen Dimensionen der wissenschaftlichen Praxis.

Bei zahlreichen wissenschaftshistorischen Fragestellungen kann es zu starken Überschneidungen mit der allgemeinen Geschichtsforschung, der Technikgeschichte, der Wissenschaftstheorie und der Wissenschaftssoziologie kommen. Aus diesem Grund wird häufig die aus dem angloamerikanischen Bereich übernommene Bezeichnung STS (science, technology & society) verwendet, die, im Gegensatz zu Namen wie Geschichte der Naturwissenschaft oder Wissenschaftsgeschichte, die Breite des zu untersuchenden Gegenstandsbereichs betont.

Inhaltsverzeichnis

Disziplin und Studienfach

Wissenschaftsgeschichte ist eine noch relativ junge wissenschaftliche Disziplin in Deutschland. Mit der Gründung des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte im Jahr 1994 setzte die Max-Planck-Gesellschaft einen nachhaltigen Impuls für die Forschung auf diesem Gebiet. An bundesdeutschen Hochschulen ist das Fach meist in den Bereichen Philosophie, Geschichte oder innerhalb der jeweiligen Disziplin (z. B. Medizingeschichte) angesiedelt. An der Universität Hamburg, der Universität Regensburg, der TU Berlin, der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Universität Stuttgart werden eigene Hauptfachstudiengänge angeboten. Als historisches Fach besteht hinsichtlich der Methodik ein enger Bezug zu den Geschichtswissenschaften. Gleichzeitig ist die Verankerung in der jeweiligen Fachdisziplin unabdingbar. Mit der Reform der Studiengänge im Zuge des Bologna-Prozesses schränkte sich das Angebot an reinen wissenschaftshistorischen Studiengängen weiter ein. So wird nur mehr an der Universität Stuttgart ein Hauptfach-Bachelor angeboten, Masterstudiengänge im Fach Wissenschaftsgeschichte gibt es nur mehr an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Universität Regensburg, die aus Kapazitätsgründen aber nur mehr ein Bachelor-Ergänzungsfach anbieten können.

1946 wurde in Frankfurt die erste deutsche Professur für Wissenschaftsgeschichte eingerichtet. An bundesdeutschen Hochschulen gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Professuren mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Schwerpunkten sowie verschiedene Graduiertenkollegs. Fachübergreifende Forschungsaktivitäten (Transdisziplinarität) werden für die Ausdifferenzierung des Faches künftig eine stärkere Bedeutung erlangen.

In Deutschland gibt es die fachübergreifenden wissenschaftlichen Forscherassoziationen Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Medizin, der Naturwissenschaften und der Technik (DGGMNT) und Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte (GWG). Die DGGMNT gibt seit 2008 die Zeitschrift NTM und die GWG seit 1978 die Zeitschrift Berichte zur Wissenschaftsgeschichte heraus.[1]

Seit 1955 vergibt die von George Sarton und Lawrence Joseph Henderson gegründete History of Science Society (HSS) die George-Sarton-Medaille für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte.

Literatur

  • Fritz Wagner (Hg.): Orbis academicus. Problemgeschichten der Wissenschaft in Dokumenten und Darstellungen. Geisteswissenschaftliche, naturwissenschaftliche und philosophische/theologische Abteilung. 49 Werke in 59 Bänden. Verlag Karl Alber, Freiburg / München 1951-87.

Einführung in die Wissenschaftsgeschichte

  • John Desmond Bernal, Science in History, London 1954 (Übers. Ludwig Boll: Die Wissenschaft in der Geschichte, Berlin, 1967 bzw. Die Sozialgeschichte der Wissenschaften, Rowohlt, Hamburg 1978, ISBN 3-499-16224-5)
  • Arne Hessenbruch: Reader's Guide to the History of Science. Fitzroy Dearborn, London-Chicago 2000.
  • J. L. Heilbron: The Oxford Companion to the History of Modern Science, Oxford University Press, Oxford-New York 2003.
  • Helge Kragh: An Introduction to the Historiography of Science, Cambridge University Press, Cambridge 1990.
  • Peter Schmitter, Historiographie und Narration. Metahistoriographische Aspekte der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Linguistik, Narr, Tübingen 2003, ISBN 3-8233-6004-3
  • Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft in zwei Bänden. Hg. v. Abraham Melzer. 2 Bde. Parkland, Köln 2004. zus. 827 S. ISBN 3-89340-056-7
  • Franz Stuhlhofer: Lohn und Strafe in der Wissenschaft. Naturforscher im Urteil der Geschichte (Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte; 4). Böhlau, Wien/Köln/Graz 1987

Geschichte der Wissenschaftsgeschichte

  • J. A. Bennett: Museums and the Establishment of the History of Science at Oxford and Cambridge, in: British Journal for the History of Science 30, 1997, S. 29–46.
  • Michael Aaron Dennis: "Historiography of Science: An American Perspective," in: John Krige, Dominique Pestre (Hgg.): Science in the Twentieth Century, Harwood, Amsterdam 1997, S. 1-26.
  • Dietrich von Engelhardt, Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft: von der Aufklärung bis zum Positivismus, Alber, Freiburg [u.a.] 1979
  • Gundolf Keil (Hg.): "gelêrter der arzenîe, ouch apotêker". Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Willem F. Daems, Würzburg 1982 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen, 24)
  • A.-K. Meyer, 'Setting up a Discipline: Conflicting Agendas of the Cambridge History of Science Committee, 1936–1950.' Studies in History and Philosophy of Science, 31, 2000
  • Dirk Rupnow (Hrsg.): Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a.M. 2008, ISBN 978-3-518-29497-0.

Aktuelle Tendenzen der Wissenschaftsgeschichte

  • Mario Biagioli (Hg.): The Science Studies Reader, Routledge, New York [u.a.] 1999.
  • Olaf Breidbach, Bilder des Wissens: zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, Fink, München 2005.
  • Michael Hagner (Hg): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Fischer, Frankfurt/M. 2001. ISBN 3-596-15261-5
  • John Krige, Dominique Pestre (Hgg.): Companion to Science in the Twentieth Century, Taylor & Francis, New York 2003, ISBN 9789057021725.
  • Lucio Russo, Die vergessene Revolution oder die Wiedergeburt des antiken Wissens, überarbeitete Ausgabe, Springer, Berlin/Heidelberg 2003.

Practical Turn der Wissenschaftsgeschichte

  • Olaf Breidbach et al. (Hrsg.): Experimentelle Wissenschaftsgeschichte, Wilhelm Fink, München 2010. ISBN 978-3-7705-4995-5
  • Steffen Siegel, Petra Weigel (Hrsg.): Die Werkstatt des Kartographen. Materialien und Praktiken visueller Welterzeugung, Wilhelm Fink, München 2011. ISBN 978-3-7705-5187-3

Weblinks

  • Nawi.pdf Umfangreiches Skriptum zur Geschichte der Naturwissenschaft, Technik und Landwirtschaft.

Quellen

  1. Ehemaliger Direktor des Instituts für Geschichte der Pharmazie geehrt. Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte ernennt Fritz Krafft zum Ehrenmitglied. Pressemitteilung der Philipps-Universität Marburg, 13. August 2007.

Siehe auch


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