Wirtschaftspolitik Russlands

Wirtschaftspolitik Russlands

Dieser Artikel behandelt die Wirtschaftspolitik Russlands mit dem Stand vom Anfang 2007.

Der damalige Präsident Putin hat in seiner ersten Amtsperiode bis 2004 viele wichtige Reformen in der russischen Wirtschaftspolitik vorangetrieben. Internationale Anerkennung fand insbesondere die Steuerpolitik. Umfassende Strukturreformen sind in Putins zweiter Amtsperiode seit 2004 aber nur noch langsam vorangekommen.

Auf Russlands Weg zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung sehen Beobachter mittlerweile Rückschritte. Die russische Wirtschaftsordnung wird derzeit schlagwortartig unter anderem als „bürokratischer Kapitalismus“, „korporatistische Marktwirtschaft“ oder „staatlicher Monopolkapitalismus“ gekennzeichnet. Hintergrund dafür ist vor allem, dass in der russischen Wirtschaftspolitik Kräfte Einfluss gewinnen, die verstärkte Eingriffe des Staates in die Wirtschaft befürworten. Die Entwicklung in „strategisch wichtigen Wirtschaftssektoren“, insbesondere in der Energiewirtschaft, soll maßgeblich vom Staat bestimmt werden.

Die ausländischen Direktinvestitionen in Russland sind zwar trotz dieser Belastungen des Investitionsklimas weiter gestiegen. Sie blieben im internationalen Vergleich aber weiterhin gering. Das bremst die notwendige Modernisierung der Wirtschaft.

Die russische Wirtschaftspolitik steht insbesondere vor der Herausforderung, die Produktions- und Exportstruktur der russischen Wirtschaft auf eine breitere Basis zu stellen. Mit den gestiegenen Energie- und Rohstoffpreisen ist die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft vom Energie- und Rohstoffsektor weiter gewachsen. Will Russland weniger von den Entwicklungen auf den internationalen Rohstoffmärkten abhängig sein, müssen Branchen außerhalb des Energie- und Rohstoffsektors stärker entwickelt und international wettbewerbsfähig gemacht werden. Dazu gehört auch der Aufbau leistungsfähiger kleiner und mittlerer Unternehmen.

Inhaltsverzeichnis

Ordnungspolitische Entwicklung im Überblick

Weniger Reformen seit 2004

Zu den wirtschaftspolitischen Reformen während der ersten Amtsperiode Präsident Putins von 2000 bis 2004 gehörten die weitere Privatisierung staatlicher Betriebe, die Senkung der Steuersätze bei der Einkommen- und Unternehmensbesteuerung, das Zollwesen, das Bodenrecht, das Arbeitsrecht, das Rentenrecht, das Konkursrecht und die Sicherung von Einlagen bei Banken.

Problematisch bleiben allerdings eine oft nur zögerliche und mangelhafte praktische Umsetzung der verabschiedeten Reformgesetze, eine häufig überbordende Bürokratie sowie Defizite bei der Rechtssicherheit. Putin selbst nannte im Frühjahr 2005 vor dem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg als Hauptprobleme der russischen Wirtschaft neben der hohen Inflation und einer Monopolisierung einiger Sektoren Bürokratie und Korruption.

Umfassende Strukturreformen sind in Putins zweiter Amtsperiode seit 2004 nur noch langsam vorangekommen. Wirtschaftsminister German Gref und Finanzminister Alexei Kudrin treten zwar weiterhin für einen Liberalisierungskurs ein. In der Praxis hat sich aber insbesondere mit dem Vorgehen gegen den Jukos-Konzern das Investitionsklima deutlich verschlechtert. Die Versteigerung der wichtigsten Jukos-Produktionsgesellschaft Juganskneftegas Mitte Dezember 2004 an eine zuvor völlig unbekannte Finanzierungsgesellschaft, die wenige Tage später ihrerseits von der staatlichen Ölgesellschaft Rosneft aufgekauft wurde, verunsicherte russische und ausländische Investoren. Weiterhin belastend wirkten hohe Steuernachforderungen gegenüber Unternehmen, z. B. die Mobilfunkgesellschaft Vimpelcom und das russisch-britische Öl-Gemeinschaftsunternehmen TNK-BP.

Mehr Staat in strategisch wichtigen Sektoren

Einigkeit besteht in der russischen Führung darüber, dass in „strategisch wichtigen Sektoren“, insbesondere in der Energiewirtschaft und im Rüstungsbereich, ausländische Unternehmen allenfalls Minderheitsbeteiligungen erwerben dürfen. Die hälftige Beteiligung der britischen BP am Ölunternehmen TNK-BP scheint ein Ausnahmefall zu bleiben. Stattdessen wurden die Einflussmöglichkeiten des Staates auf die Energiewirtschaft über eine Erhöhung des staatlichen Anteils an der führenden Erdgasgesellschaft Gazprom auf gut 50 % verstärkt.

Die Entschlossenheit der russischen Regierung, in der Energiewirtschaft eine führende Rolle russischer Unternehmen zu sichern, zeigte sich 2006 am Projekt Sachalin 2. Es war bisher das einzige Projekt zur Erschließung von Öl- und Gasvorkommen, an dem ausschließlich ausländische Unternehmen beteiligt waren. Die russische Regierung und Gazprom setzten bis Ende 2006 in Verhandlungen durch, dass eine Mehrheit der Anteile an diesem Projekt an Gazprom verkauft wird. Dabei wurde auch durch Ermittlungen und Sanktionen der russischen Umweltbehörde wegen Schädigungen der Umwelt Druck auf die bisherigen Beteiligten am Sachalin-Projekt ausgeübt.

Die politischen Kräfte, die verstärkte Eingriffe des Staates in die Wirtschaft befürworten und das Eindringen ausländischer Unternehmen in die russische Wirtschaft weitgehend verhindern wollen, gewinnen offenbar zunehmend Einfluss. Als führender Vertreter dieser Fraktion wird zumeist Ministerpräsident Fradkow genannt. Dafür spricht auch, dass die russische Wettbewerbsbehörde die Übernahme des größten russischen Maschinenbauunternehmens „Power Machines“ durch die Siemens AG untersagt hat. Die Definition strategisch wichtiger Sektoren ist nach Beobachtungen der OECD sehr „elastisch“ geworden und wird auf weitere Bereiche ausgedehnt. Russische Regierungsvertreter meinten zu dieser Kritik, der Staat handele bei Übernahmen von Unternehmen, zum Beispiel des Fahrzeugherstellers AvtoVAZ durch den staatlichen Waffenexporteur Rosoboronexport vor allem als „Krisenmanager“.

„Neue Industriepolitik“ mit „nationalen Champions“

Dmitri Medwedew, der seit seiner Ernennung zum ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten schon als möglicher Nachfolger Präsident Putins galt, sprach sich auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg Mitte Juni 2006 nachdrücklich für eine staatliche Industriepolitik aus, die auf die Entwicklung „nationaler Champions“ in wichtigen Branchen zielt. Damit soll die russische Wirtschaft auch international wettbewerbsfähiger werden.

Internationale Wirtschaftsorganisationen, wie die Weltbank und die OECD, haben diese wirtschaftspolitische Strategie, die in ähnlicher Weise auch von einigen asiatischen Staaten (Japan – siehe dazu: MITI, Südkorea, Volksrepublik China – verfolgt wurde, kritisiert.

Die Weltbank meint, die Entwicklung der russischen Wirtschaft müsse durch möglichst ungehinderten internationalen Wettbewerb, Möglichkeiten zur internationalen Zusammenarbeit von Unternehmen und internationalen Technologietransfer erfolgen. Russlands „neue Industriepolitik“ versuche hingegen, durch Eingriffe des Staates die Marktkräfte zu korrigieren. Eine Unterstützung einzelner Branchen und Unternehmen führe aber zu Marktverzerrungen und fördere die Korruption. Die Regierung gehe fälschlicherweise davon aus, dass der Staat Innovation gewissermaßen von oben verordnen könne. Mit der gezielten Unterstützung von bestehenden großen Firmen laufe die Regierung Gefahr, letztlich eine Politik zur Erhaltung überholter Strukturen zu betreiben. Mit der neuen Industriepolitik gehe überdies eine Zentralisierung der Macht in Moskau einher. Russland sei aber viel zu groß und zu vielfältig, um allein von Moskau aus effektiv geführt werden zu können. Initiativen auf regionaler und lokaler Ebene würden behindert.

Die OECD bezeichnet vor allem die Expansionspolitik Gazproms als besorgniserregend. Statt sich auf sein Kerngeschäft zu konzentrieren, weite Gazprom die Geschäftstätigkeit auf den Mediensektor, das Bank- und Versicherungswesen, sowie den Bausektor aus. Der russische Staat soll sich laut OECD als „Regulierer“ der Wirtschaft, nicht als ihr Eigentümer verstehen. Der Anteil privater Unternehmen an der gesamtwirtschaftlichen Produktion sei aber 2005 von rund 70 auf rund 65 Prozent gesunken. Auf staatlich kontrollierte Unternehmen entfielen 2005 rund 38 Prozent des Wertes der an der Börse notierten Unternehmen, 2004 seien es erst 22 Prozent gewesen.

Doch diese Politik könnte durchaus erfolgreich sein, ungeachtet der Kritik von Seiten der Weltbank und der OECD, schließlich haben es Japan und Südkorea (und in zunehmendem Maße auch China) es in den vergangenen sechzig Jahren geschafft sehr moderne und konkurrenzfähige Industrien aufzubauen. Japan war sogar so erfolgreich, dass die USA das ostasiatische Land „eindämmen“ mussten (siehe dazu MITIMinistery of International Trade and Industry).

Mehr Marktwirtschaft in der Außenwirtschaftspolitik

In der Außenwirtschaftspolitik standen 2005 und 2006 energiepolitische Konflikte mit ehemaligen Republiken der Sowjetunion im Vordergrund. Diese Konflikte ergaben sich aus der Tatsache, dass diese Staaten Energielieferungen aus Russland wie zu Zeiten der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Sowjetunion vielfach zu deutlich niedrigeren Preisen als andere Staaten erhalten. Russland will diese Subventionierung schrittweise beenden und die Preise für seine Energielieferungen auf das Weltmarktniveau anheben.

Als Russland 2005 zum Beispiel von der Ukraine höhere Preise für Erdgaslieferungen verlangte, kam es zum Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine. Um seinen Forderungen nach einer Anpassung seiner Preise an das Marktniveau Nachdruck zu verleihen, unterbrach Russland Anfang 2006 seine Erdgaslieferungen in die Ukraine. Der Konflikt wurde nach wenigen Tagen mit einem Verhandlungskompromiss beendet und die Lieferungen wieder aufgenommen.

Ähnlich verlief der russisch-weißrussische Energiestreit am Jahreswechsel 2006/2007. Über Erhöhungen der Preise für Erdgaslieferungen an Weißrussland konnte zwar wenige Tage vor Jahresende 2006 eine Einigung erzielt werden. Vereinbarungen hinsichtlich der russischen Öllieferungen kamen jedoch erst nach einer Unterbrechung der Öllieferungen zustande.

Diese Unterbrechungen der russischen Erdgas- und Erdöllieferungen wurden von westlichen Politikern und Medien weithin vor allem als Beweis für die Unsicherheit von Energielieferungen aus Russland gesehen. Vielfach wurde auch geäußert, Russland setze seine Energielieferungen als politische Waffe ein und differenziere seine Preise entsprechend dem politischen Wohlverhalten der Abnehmer. Dass Russland mit den Preisanhebungen eine marktwidrige und den Regeln der Welthandelsorganisation widersprechende Subventionierung einzelner Staaten beenden will, rückte demgegenüber völlig in den Hintergrund.

Auf dem langwierigen Weg zu einer Aufnahme in die Welthandelsorganisation, für die bilaterale Abkommen mit sämtlichen Mitgliedstaaten der WTO erforderlich sind, kam Russland 2006 weiter voran. Nachdem im Mai 2004 die Verhandlungen mit der EU erfolgreich abgeschlossen wurden, gelang im November 2006 eine Einigung mit den USA. Anfang 2007 standen nur noch Vereinbarungen mit Georgien aus. Eine Einigung mit Georgien erscheint besonders schwierig, weil die Beziehungen Russlands und Georgiens nach einer Erhöhung der Preise der russischen Energielieferungen an Georgien und der Verhängung gegenseitigen Einfuhr- und Einreiseverbote besonders belastet sind.

Wirtschaftspolitische Reformbereiche im Einzelnen

Wachstums- und Strukturpolitik: Diversifizierung noch am Anfang

Von 2000 bis 2007 ist die gesamtwirtschaftliche Produktion Russlands um real rund 70 Prozent gewachsen. Lag der Durchschnittslohn im Jahr 2000 noch bei 80 Dollar, dürfte er 2007 rund 570 Dollar erreichen.

Das Wachstum wurde jedoch insbesondere vom Energie- und Rohstoffsektor getragen und durch steigende Preise begünstigt. Eine breite Diversifizierung der Produktion und des Exports gelang nicht. Eine fundamentale Schwäche blieben auch zu geringe Investitionen. Öffentliche Infrastruktur und das Anlagevermögen der Unternehmen sind oft überaltert.

Der Anteil kleiner und mittlerer Unternehmen an der gesamtwirtschaftlichen Produktion ist nach wie vor gering.

Steuerpolitik: Senkung wichtiger Steuersätze

Weitgehende internationale Anerkennung hat die Steuerpolitik gefunden: Die 2000 eingeleitete umfassende Reform des Steuersystems brachte eine Vereinfachung des Steuersystems und eine deutliche Senkung der wichtigsten Steuersätze:

  • Der Gewinnsteuersatz wurde auf 20 % bis 24 % gesenkt.
  • Der Einkommensteuersatz beträgt jetzt 13 %, unabhängig von der Einkunftshöhe.
  • Der Vermögensteuersatz erreicht maximal 2,2 %.
  • Der Mehrwertsteuersatz wurde Anfang 2004 von 20 % auf 18 % gesenkt.
  • Der Höchststeuersatz der „Einheitlichen Sozialsteuer“, die allein von den Arbeitgebern zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme aufzubringen ist, wurde Anfang 2005 von 35,6 % auf 26 % verringert.

Verwaltungsreform: Keine Erfolge bei Korruptionsbekämpfung

Ziel der 2004 eingeleiteten Verwaltungsreform ist eine Verringerung der Belastung von Bürgern und Unternehmen durch die Bürokratie. Wichtige Teile betreffen die Verfahren bei der Genehmigung unternehmerischer Tätigkeit, der Zulassung von Produkten und der Vergabe öffentlicher Aufträge. Die öffentliche Verwaltung soll Dienstleistungen erbringen - nach klaren Regeln, gegen klar festgelegte Gebühren und innerhalb klar formulierter Fristen, so Andrej Scharonow, stellv. Minister für wirtschaftliche Entwicklung und Handel Anfang 2005. Die Realisierung dieser Ziele stößt jedoch auf erhebliche Widerstände. Es gibt immer noch große „mentale Probleme“, so der Vize-Minister.

Reform der natürlichen Monopole

Ein schwieriges Feld ist auch die Reform der so genannten natürlichen Monopole (Strom, Gas, Eisenbahn).

Fortschritte wurden bei der Liberalisierung im Elektrizitätssektor und bei der Reform der Eisenbahn mit einer stärkeren Beteiligung privater Betreiber im Schienentransport erreicht. Der teilprivatisierte Strommonopolist soll in einen nationalen Netzbetreiber und regionale Produktions- und Verteilungsgesellschaften aufgespalten werden.

„Im Gassektor haben wir es dagegen immer noch nicht geschafft, die Grundprinzipien einer beabsichtigten Reform zu formulieren.“, so Vize-Minister Scharonow Anfang 2005. Immerhin werden die bisher sehr niedrigen Inlandspreise für Energie schrittweise angehoben. Von einer Erhöhung der Gastarife erhofft man sich einen sparsameren Umgang mit Erdgas.

Bankenreform: Einlagensicherungsgesetz nur ein Anfang

Dem Bankensystem kommt für die Diversifizierung der russischen Wirtschaft eine Schlüsselfunktion zu. Bei der notwendigen Steigerung der Investitionsquote kann es durch verbesserte Kreditvergabe eine zentrale Rolle spielen. Bisher erfüllt es seine Aufgabe, Sparbeträge zu sammeln und Investitionen zuzuführen aber nur unzureichend. Nur rund 5 % der Investitionen in Russland werden über Bankkredite finanziert. Die geplante Gründung einer staatlichen Entwicklungsbank, die nach dem Vorbild der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) vor allem Kredite für Klein- und Mittelbetriebe bereitstellen soll, soll diese Situation verbessern.

Die Größenstruktur des russischen Bankensystems bietet keine günstigen Bedingungen für wirksamen Wettbewerb. Große staatliche Banken (Sberbank) dominieren. Auf sie entfällt allein ein Drittel der gesamten Bilanzsumme aller Banken. Ihnen gegenüber steht eine Vielzahl kleiner Banken.

Zudem ist der Zugang ausländischer Banken auf den russischen Markt beschränkt. Sie dürfen zwar Beteiligungen an russischen Banken erwerben, nicht aber eigene Filialen in Russland unterhalten.

Im Juli 2004 kam es zu einer erneuten Bankenkrise. Auslöser waren die Schließung eines Instituts wegen Geldwäschevorwürfen und Berichte über Zahlungsschwierigkeiten bei zwei kleineren Banken. Eine Liquiditätsspritze durch die Zentralbank und die Verabschiedung eines Einlagensicherungsgesetzes, das Sparguthaben bis 100.000 Rubel absicherte, konnten schließlich die Krise entschärfen. Das Einlagensicherungsgesetz verbessert die Voraussetzungen, den Wettbewerb um Einlagen zwischen den Banken zu erhöhen.

Meinungen zur russischen Wirtschaftspolitik

David Lane, Senior Research Associate an der University of Cambridge, ist einer der wenigen Beobachter, die positive Seiten der wirtschaftspolitischen Entwicklung in Russland herausstellen. Er meint, „ein größeres Maß an Regulierung (wie in der neueren Geschichte Frankreichs) könnte zu einer Restrukturierung führen, die effektiver organisiert ist.“ Als wichtigsten Vorteil des „organisierten Marktkapitalismus“ in Russland nennt er, „dass das Land vielleicht besser mit Konkurrenz im globalen Maßstab umgehen kann.“

Lane beschreibt die bisherige wirtschaftspolitische Entwicklung unter Jelzin und Putin als Übergang von einer „Politik des Minimalstaates“ zu einer „korporatistischen Wirtschaft“ unter Führung des Staates. Er sieht folgende Entwicklungsschritte:

  • Das von den radikalen russischen Reformern der frühen 1990er Jahre angestrebte wirtschaftspolitische Modell folgte dem sogenannten „Washingtoner Konsensus“. Wesentliche Elemente dieses Wirtschaftsmodells sind die Einführung freier Märkte (für Waren, Vermögenswerte und Arbeit), die Öffnung der Wirtschaft für ausländische Wettbewerber, die Einführung flexibler Wechselkurse und eine Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf die Sicherung der Geldwertstabilität. Staatliche Aktivität sollte sich auf die Festlegung der rechtlichen Rahmenbedingungen beschränken.
  • Die „Politik des Minimalstaates“ unter Jelzin führte dazu, dass die föderale Regierung nicht imstande war, Steuern einzutreiben und für Rechtssicherheit zu sorgen. Korruption in Verbindung mit dem Privatisierungsprozess verschärfte diese Situation noch. Unter Jelzin entwickelte sich eine „Form des politischen Kapitalismus, bei der der Staat von Wirtschaftsinteressen übernommen und benutzt wurde, um Profite zu sichern.“
  • Putin hat viele Aspekte dieser Politik rückgängig gemacht. Das Modell, das sich unter Putin in Russland entwickelt, ist eine korporatistische Wirtschaft unter Führung des Staates. Um die politische Kontrolle zu erlangen, hat er den Staatsapparat gestärkt und kontrolliert die Oligarchen.

Die verstärkten Eingriffe des russischen Staates in die Wirtschaft treffen international aber überwiegend auf Kritik.

Hermann Clement, bis August 2005 stellvertretender Direktor des Osteuropa Instituts München, hält sich dabei noch vergleichsweise zurück. Er fürchtet, dass die im Konzept der Regierung durchscheinende Neigung, große Industrieagglomerate zu bilden, kurzfristig möglicherweise zwar die Entwicklung fördern kann, langfristig aber zu Wachstums- und Effizienzverlusten sowie höheren Preisen führen wird.

Lilia Schewzowa, Mitarbeiterin des Moskauer Büros der US-Stiftung „Carnegie Endowment for International Peace“, einer Washingtoner Denkfabrik, äußert schärfere Kritik. Sie rückt negative Punkte des russischen Wirtschaftsmodells, das sie als „bürokratischen Kapitalismus“ bezeichnet, in den Vordergrund. Präsident Putin könne trotz seiner verfassungsrechtlich starken Stellung nicht autokratisch regieren. Er werde im Gegenteil immer abhängiger von den Gruppen, die ihn trügen. Dies seien zum einen die „Apparatschiks“ in der Staatsbürokratie, das Militär und die Sicherheitsdienste im Inland, zum anderen die Führungskräfte großer Unternehmen und „liberale Technokraten“. Diese „Bürokratengemeinschaft“ habe es geschafft, „ihre Interessen als die des russischen Staates zu verkaufen“. Es sei ein „bürokratisches Unternehmen“ geschaffen worden, das dazu diene, private Interessen zu verwirklichen.

Der bürokratische Kapitalismus zeige kein Interesse an einer Diversifizierung der Wirtschaft. In Russland, dessen Exporte zu rund 60 % aus Energieträgern und – einschließlich anderer Rohstoffe – zu rund 80 % aus Rohstoffen bestünden, bildeten sich vielmehr die typischen Eigenschaften eines „Petrostaates“ heraus:

  • Staatsmacht und Wirtschaft verschmelzen bei weitverbreiteter Korruption miteinander.
  • In der Wirtschaft herrschen große Monopole vor.
  • Es bildet sich eine Gesellschaftsschicht, die vornehmlich von den hohen Gewinnen aus der Rohstoffwirtschaft lebt; gleichzeitig besteht ein tiefes Wohlstandsgefälle zwischen Reichen und Armen.
  • Aufgrund der hohen Abhängigkeit von der Rohstoffwirtschaft ist die Wirtschaft durch externe Schocks, zum Beispiel einen plötzlichen Einbruch der Rohstoffpreise, und die „holländische Krankheit“ gefährdet.

Auch Roland Götz, Russlandexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik meint, es habe sich eine Symbiose von privatem Kapital und staatlichen Instanzen gebildet. Aus ihr zögen beide Seiten Vorteile, etwa indem hohe Angehörige der Präsidialverwaltung Führungspositionen in Unternehmen bekleideten. Er leitet daraus ab, dass es voraussichtlich zu keiner Verstaatlichung der unter Präsident Boris Jelzin weitgehend privatisierten Erdölwirtschaft kommen werde. Dort dürften auch künftig privates russisches und ausländisches Kapital gegenüber Staatsunternehmen überwiegen.

Einer der radikalsten Kritiker der russischen Wirtschaftspolitik ist inzwischen Andrej Illarionow, bis Ende 2005 noch Wirtschaftsberater Präsident Putins. Er meint: „Wir sind von der zentralisierten Planwirtschaft aufgebrochen und nicht beim freien Markt angekommen, sondern beim staatlichen Monopolkapitalismus.“ Auch er sieht in Russland einen „Petrostaat“ und spricht von einer „Venezuelanisierung“ der russischen Wirtschaft.

Die These vom „Petrostaat Russland“ muss differenziert betrachtet werden. Russland unterscheidet sich von „Petrostaaten“ wie vielen OPEC-Staaten in wichtigen Punkten:

  • In Russland gibt es nicht nur einen einzigen mehrheitlich staatlichen Energiekonzern, sondern mehrere, insbesondere Gazprom und Rosneft. Sie vertreten nicht nur unterschiedliche Interessen, wie sich bei ihrem Konflikt über die Übernahme von Jukos gezeigt hat. Sie stehen zumindest teilweise auch auf den Märkten miteinander im Wettbewerb. Gazprom beschränkt ihre Aktivitäten nicht mehr auf den Erdgasbereich, sondern entwickelt sich zu einem vertikal integrierten Energiekonzern, der bereits bedeutende Beteiligungen im Öl- und Strombereich übernommen hat.
  • Die Unternehmen im Ölsektor sind weiterhin überwiegend in privatem Besitz, auch wenn sich der Förderanteil mehrheitlich staatlicher Unternehmen nach der Übernahme der privaten Ölgesellschaften Yuganskneftegaz durch Rosneft und Sibneft durch Gazprom 2005 auf rund ein Drittel erhöht hat. Der bisher vollständig im Staatseigentum befindliche Ölkonzern Rosneft tritt zudem im Juli 2006 eine Minderheitsbeteiligung an private Investoren ab. Der Staatsanteil an der führenden Erdgasgesellschaft Gazprom liegt nur knapp über 50 %.
  • Gazprom und Rosneft werden zudem zunehmend weltweit tätig, auch durch Beteiligungen an ausländischen Unternehmen.

Russland ist weiterhin an einer Zusammenarbeit mit ausländischen Unternehmen interessiert. Auch die Übernahme von Minderheitsbeteiligungen ist weiterhin möglich. Mitte April 2006 vereinbarte zum Beispiel Gazprom mit der BASF-Tochtergesellschaft Wintershall, eine Beteiligung von knapp 25 % am Erdgasfeld Yushno Russkoje in Westsibirien. Mitte Juli 2006 erklärte sich Gazprom bereit, auch E.ON Ruhrgas mit 25 % minus einem Stimmrechtsanteil an diesem Feld zu beteiligen.

Die Regierung versucht, verlorengegangenes Vertrauen wiederzugewinnen und der Verschlechterung des Investitionsklimas durch die Zerschlagung des Jukos-Konzerns entgegenzuwirken. Die Zusicherung Putins, die Verjährungsfrist bei der Verfolgung von Rechtsverstößen bei der Privatisierung von Unternehmen von 10 auf 3 Jahre zu verkürzen, wurde umgesetzt. Ein Gesetz über „Sonderwirtschaftszonen“ schafft besonders günstige Bedingungen für Investoren.

Lilia Schewzowa warnt ausländische Investoren allerdings vor Illusionen hinsichtlich der Rechtssicherheit in Russland: „Wenn es im Interesse der herrschenden Klasse liegt, dass ein Investor seine Anteile in Russland verliert, wird er sie verlieren – wie ExxonMobil in Sachalin. Sollte es für das innenpolitische Kräftespiel notwendig werden, einen Investor zum Feind zu stempeln, wird keine noch so hoch angesiedelte Freundschaft das verhindern.“

Tomasz Konicz stellt in der linksorientierten Tageszeitung „junge Welt“ zusammenfassend fest, daß die russische Wirtschaftspolitik eindeutig einen „Kurs kapitalistischer Modernisierung“ eingeschlagen hat. Dabei überwögen die Momente keynesianischer Politik gegenüber neoliberalen Maßnahmen:

„Der Kreml orientiert sich in letzter Zeit eher an dem Gründervater aktiver nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik als an Friedrich August von Hayek (…). Der von Neoliberalen hochgeschätzte Monetarismus wird zugunsten einer expansiven, wachstumsorientierten Geldpolitik verworfen, die aber auch eine zweistellige Inflationsrate mit sich bringt. Die satten Lohnerhöhungen für Staatsangestellte und Rentner bilden ein klassisches Merkmal nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik (…).

Den Stabilisierungsfonds und die Zurückhaltung bei staatlichen Investitionen könnte man als Elemente klassischer, kontrazyklischer Investitionspolitik verstehen: Während des Aufschwungs hat sich laut Keynes der Staat mit Ausgaben zurückzuhalten, während einer Depression aber verstärkt zu investieren. Bei der nun anstehenden Eintrübung der Weltwirtschaftslage würde Russland mit dem Stabilisierungsfonds über eine »Kriegskasse« verfügen, mit der sich die Folgen von Preisverfall auf den Rohstoffmärkten und eventueller Rezession abmildern ließen.

Momente neoliberaler Politik sind ebenfalls zu finden, wie die Sonderwirtschaftszonen und die niedrigen Steuersätze (…).

Entscheidend für das Gelingen dieser Strategie werden die Bemühungen Russlands sein, seine Wirtschaftsbasis zu diversifizieren und somit die Abhängigkeit vom Rohstoffsektor zu mildern, sowie die Versuche, den technologischen Rückstand in vielen Branchen durch eine importierte Modernisierung aufzuholen.“

Hannes Adomeit, Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, sieht in einer Analyse der russischen Großmachtambitionen bisher keine Erfolge bei diesen Bemühungen: „Die grundlegenden Strukturschwächen der russischen Wirtschaft sind keineswegs beseitigt. Von einer verbesserten internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie, vor allem der Hochtechnologie, kann nicht die Rede sein. Wachstum und vermeintliche politische Stabilität hängen weiterhin von hohen Ölpreisen ab. (…) Insgesamt (…) ist das Putinsche Ziel der raschen Modernisierung Russlands mit Hilfe weitreichender Reformen und westlichen Know-hows sowie umfangreicher Investitionen nicht erreicht worden.“

In Anbetracht der Tatsache, dass der informelle Sektor, auch Schattenwirtschaft genannt, in Russland immer noch eine wichtige Rolle spielt und der Einfluss der Oligarchen durch die Steuererhöhung 2005 vermindert wurde, kristallisiert sich langsam eine freie, demokratische russische Mittelschicht heraus, die sich im Bereich der Klein- und Mittelunternehmen ansiedelt und weitgehend zum Wirtschaftswachstum und zum Fakt, dass Russland schuldenfrei ist, beiträgt.

Siehe auch

Literatur

Englisch

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