Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?

Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?

Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? ist ein Essay von Heinrich Böll, der am 10. Januar 1972 in der Zeitschrift Der Spiegel veröffentlicht wurde und einen innenpolitischen Skandal auslöste.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung

Böll schrieb den Text zwischen dem 23. und 26. Dezember 1971. Der Titel lautete ursprünglich „Soviel Liebe auf einmal“, ein ironischer Bezug auf eine Überschrift der Bildzeitung in der Weihnachtszeit. Gegen den ausdrücklichen Wunsch Bölls wurde der Titel in der Spiegel-Redaktion abgeändert. Der einer Textpassage des Essays („Will Ulrike Meinhof, daß es so kommt? Will sie Gnade oder wenigstens freies Geleit?“) entlehnte Titel ist insofern höchst problematisch, als er eine persönliche Vertrautheit zwischen Böll und Ulrike Meinhof suggeriert, die tatsächlich jedoch nicht bestand.[1] Die künstliche Herstellung des Anscheins von persönlicher Nähe zu einer Terroristin dürfte die teilweise äußerst kritische Reaktion auf den Artikel zumindest beeinflusst haben.

Inhalt

Im Text wendet Böll sich gegen die Bildzeitung, welche am 23. Dezember 1971 unter der Überschrift „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter“ über diverse Straftaten berichtete, welche der Rote Armee Fraktion zugeschrieben wurden, ohne dass deren Tatbeteiligung im Einzelfall nachgewiesen wurde. Anlass für den Bild-Artikel war der Banküberfall am 22. Dezember 1971, bei dem der Polizist Herbert Schoner erschossen wurde. Hauptkritikpunkt Bölls war die unseriöse Berichterstattung, welche als Tatsache hinstellte, was seinerzeit noch keineswegs gesicherte Erkenntnis war:

„Wo die Polizeibehörden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist Bild schon bedeutend weiter: Bild weiß.“

Böll kritisierte die Bildzeitung mit äußerst scharfen Worten und warf ihr implizit die zwangsläufig folgende Eskalation der Gewalt vor. 1974 veröffentlichte Böll zu diesem Thema die Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“.

„Das ist nicht mehr kryptofaschistisch, nicht mehr faschistoid, das ist nackter Faschismus. Verhetzung, Lüge, Dreck. Diese Form der Demagogie wäre nicht einmal gerechtfertigt, wenn sich die Vermutungen der Kaiserslauterer Polizei als zutreffend herausstellen sollten. In jeder Erscheinungsform von Rechtsstaat hat jeder Verdächtigte ein Recht, daß, wenn man schon einen bloßen Verdacht publizieren darf, betont wird, daß er nur verdächtigt wird. Die Überschrift »Baader-Meinhof-Gruppe mordet weiter« ist eine Aufforderung zur Lynchjustiz. Millionen, für die Bild die einzige Informationsquelle ist, werden auf diese Weise mit verfälschten Informationen versorgt.“

Nachwirkung

In konservativen Kreisen galt er seitdem als „Sympathisant“ des Terrorismus, was ihn nach eigenem Bekunden sehr kränkte und im Widerspruch zu den folgenden, ebenfalls im Essay gemachten Aussagen steht:

„Kein Zweifel - Ulrike Meinhof lebt im Kriegszustand mit dieser Gesellschaft. Jedermann konnte ihre Leitartikel lesen, jedermann kann inzwischen im Rotbuch 26 des Wagenbach Verlages das Manifest lesen, das nach dem Untertauchen der Gruppe geschrieben ist. Es ist inzwischen ein Krieg von 6 gegen 60 000 000. Ein sinnloser Krieg, nicht nur nach meiner Meinung, nicht nur generell, auch im Sinne des publizierten Konzeptes. (…) Ulrike Meinhof und der Rest ihrer Gruppe haben keinerlei Chance, irgend jemand politisch opportun zu erscheinen.“

In einem Kommentar der Tagesschau wurde Böll am 24. Januar 1972 als „Anwalt der anarchistischen Gewalttäter“ bezeichnet, woraufhin er in einem Telegramm an den Intendanten des Südwestfunks seine Mitarbeit bei dem Sender aufkündigte.[2]

Der SPD-Politiker Diether Posser veröffentlichte im Spiegel vom 24. Januar 1972 einen Kommentar, in dem er Böll unter anderem kritiklose Übernahme von Verlautbarungen der RAF sowie gefährliche Verharmlosung der Gruppe vorwarf und zu dem Fazit gelangte, dass der im Zorn entstandene Essay Bölls unsachlich und übertrieben gewesen sei. Böll antwortete darauf am 31. Januar mit einem Beitrag Verfolgt war nicht nur Paulus, in dem er Posser in mehreren Punkten zustimmte und zusammenfasste:[3]

„Die Wirkung meines Artikels entspricht nicht andeutungsweise dem, was mir vorschwebte: eine Art Entspannung herbeizuführen und die Gruppe, wenn auch versteckt, zur Aufgabe aufzufordern. Ich gebe zu, daß ich das Ausmaß der Demagogie, die ich heraufbeschwören würde, nicht ermessen habe.“

In seinem am 29. Januar 1972 in der Süddeutschen Zeitung abgedruckten Artikel Man muß zu weit gehen stellte Böll klar:

„Ich habe die Gruppe um Ulrike Meinhof relativiert - ja. Verharmlost nein. Ich habe versucht, die Proportionen zurechtzurücken. Nichts weiter.“

Weiter bemerkte er:

„Der Spiegel-Artikel hat Schwächen, weniger in dem, was drin steht, als in dem, was nicht drin steht; es fehlt eine umfassende Studie über die Eskalation: von der Erschießung Benno Ohnesorgs bis zum Attentat auf Dutschke.“

Obgleich Böll auch vorher schon seine politische Meinung öffentlich äußerte, begann mit dieser Schrift gewissermaßen seine „politische Karriere“ und eine entsprechende Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.[4] Die falsche Wahrnehmung Bölls als „Sympathisant des Terrors“ prägte 1974 auch die von konservativer Seite geäußerte Kritik an seiner Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum.

Literatur

  • Kepplinger, Hans Mathias, Michael Hachenberg und Werner Frühauf, 1977: Struktur und Funktion eines publizistischen Konflikts. Die Auseinandersetzung um Heinrich Bölls Artikel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“, Publizistik 22: 14-34
  • Heinrich Böll: Freies Geleit für Ulrike Meinhof. Ein Artikel und seine Folgen. Zusammengestellt von Frank Grützbach. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1972 (Reihe: Pocket 36), ISBN 3-462-00875-7
  • Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?. In: Der Spiegel. Nr. 3, 1972 (Originaltext, online).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Heinrich Böll: Werke. Kölner Ausgabe, Band 18. Kiepenheuer & Witsch 2003. ISBN 3-462-03260-7. S. 454 f.
  2. Heinrich Böll: Werke. Kölner Ausgabe, Band 18. Kiepenheuer & Witsch 2003. ISBN 3-462-03260-7. S. 483 f.
  3. Verfolgt war nicht nur Paulus. In: Der Spiegel. Nr. 6, 1972, S. 60 (31. Januar 1972, online).
  4. Die Zeit, 2. August 2007

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