Befehlsnotstand

Befehlsnotstand

Befehlsnotstand ist ein Begriff aus der Strafrechtspraxis. Er bezeichnet eine Dilemma-Situation, in der ein Verhalten befohlen wird, welches gegen bestehende Gesetze verstößt. Dieses Dilemma betrifft den Befehlsempfänger. Entweder er führt den Befehl aus und verstößt gegen das Gesetz oder er verweigert den Befehl und verstößt somit gegen ein anderes Gesetz (meistens seine Gehorsamspflicht) oder setzt eine ihm nahe stehende Person einer Gefahr aus. Man unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Grundformen des Befehlsnotstands:

  • ein dienstlich bindender Befehl verstößt gegen das Recht (formaler Befehlsnotstand);
  • der Befehlsempfänger oder eine ihm nahestehende Person ist bei Befolgung des Befehls einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt (Nötigungsnotstand).

Liegt ein formaler Befehlsnotstand vor, ist in der Regel auch immer ein (von der jeweiligen Rechtsordnung nicht anerkannter) Nötigungsnotstand gegeben, weil die Verletzung der Gehorsamspflicht oft als Rechtsfolge eine Haftstrafe oder gar Todesstrafe vorsieht. Umgekehrt kann ein Befehlsnotstand in Form des Nötigungsnotstandes vorliegen, ohne dass ein formaler Befehlsnotstand gegeben ist. Das ist immer dann der Fall, wenn der Befehlsempfänger oder eine ihm nahestehende Person durch tatsächliche Handlungen (z.B. Bedrohung mit einer Waffe) einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt wird.

In Rechtsordnungen, in denen Befehle, deren Ausführung eine strafbare Handlungen darstellen würde, nicht bindend sind, kann ein formaler Befehlsnotstand nicht auftreten.

Inhaltsverzeichnis

Lösungen

Dieses Dilemma betrifft alle drei Ebenen der strafrechtlichen Prüfung:

Täterschaft: Viele Gesetze rechnen dem handelnden Untergebenen eine befohlene Handlung nicht als eigene Tat zu. Das bedeutet, dass der handelnde Untergebene nicht in gleichem Maße wie ein Täter für die Tat verantwortlich gemacht werden kann. Allerdings müssen auch nicht alle Verbrechensmerkmale durch den Handelnden selbst verwirklicht worden sein. Wichtige Beispiele sind § 49 Abs. 1 Militärstrafgesetzbuch und die frühere animus auctoris Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs zu Täterschaft und Teilnahme.

Rechtswidrigkeit: Ein Befehl kann auch einen Rechtfertigungsgrund für eine Handlung darstellen, so dass eine befohlene Handlung nicht rechtswidrig wäre. In den Fällen von Kriegsverbrechen schied ein Befehl als Rechtfertigungsgrund jedoch meist aus.

Schuld: Einem Untergebenen kann auch zugute gehalten werden, die Verweigerung eines Befehls setze ihn so großer Not aus, dass er nicht oder nicht in vollem Maße zu bestrafen sei. Das Risiko eigener Bestrafung verlange es, dass von einer Vorwerfbarkeit der Tat abgesehen werde und dieser Gesichtspunkt bei der Strafzumessung entsprechend eingestellt werde. Die Ebene der Schuld ist bei der Beurteilung des Befehlsnotstands in Form des Nötigungsnotstandes zu beobachten.

Bundesrepublik Deutschland

Nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland kann ein formaler Befehlsnotstand nicht entstehen. Zwar trägt nach § 10 Abs. 4 SG der Vorgesetzte: „...für seine Befehle die Verantwortung.“

Für das Befolgen eines Befehls bestimmt aber § 11:

(1) Der Soldat muss seinen Vorgesetzten gehorchen. Er hat ihre Befehle nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen. Ungehorsam liegt nicht vor, wenn ein Befehl nicht befolgt wird, der die Menschenwürde verletzt oder der nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist.
(2) Ein Befehl darf nicht befolgt werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde. Befolgt der Untergebene den Befehl trotzdem, so trifft ihn eine Schuld nur, wenn er erkennt oder wenn es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, dass dadurch eine Straftat begangen wird.

Unberührt bleibt die Möglichkeit eines Befehlsnotstandes in Form des Nötigungsnotstandes. Begeht der Soldat eine Straftat, um eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit von sich oder einer ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt er schuldlos (§ 35 Abs. 1 Satz 1 StGB).

Deutsche Demokratische Republik

In der DDR konnte gemäß § 258 StGB-DDR ein Befehl Rechtfertigungsgrund sein, sofern dieser Befehl nicht offensichtlich gegen Verfassungsgrundsätze oder Grundsätze der Menschenrechte verstieß.

Anwendungsfälle: Drittes Reich

Der Befehlsnotstand spielte insbesondere in Prozessen wegen Kriegsverbrechen des sog. Dritten Reiches eine große Rolle, da sich viele Angeklagte auf den Befehlsnotstand beriefen.

Der § 47 des zur Tatzeit geltenden Militärstrafgesetzbuches sagte dazu aus:

„(1) Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich. Es trifft jedoch den gehorchenden Untergebenen die Strafe des Teilnehmers:
1. wenn er den ihm erteilten Befehl überschritten hat, oder
2. wenn ihm bekannt gewesen ist, daß der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf, welche ein bürgerliches oder militärisches Verbrechen bezweckte.“[1]

Der Ausführende wurde also in Bezug auf Tatbeitrag und Strafbemessung nicht als Täter, sondern als Teilnehmer der Tat (meist als Beihelfer), bestraft. Eine Bestrafung als Teilnehmer kommt aber auch bei Kenntnis der Strafbarkeit dann nicht in Betracht, wenn der Befehlsempfänger oder eine ihm nahestehende Person bei Nichtbefolgung des Befehls einer gegenwärtigen Gefahr ausgesetzt gewesen wäre (Nötigungsnotstand). Die Gefahr musste sich aber auf Leib, Leben oder Freiheit beziehen; ein bloßer Nachteil im beruflichen Fortkommen oder Beeinträchtigungen von Ansehen und „Ehre“ sind selbstverständlich nicht ausreichend. Kein Befehlsnotstand lag auch dann vor, wenn der Befehlsempfänger den Befehl ausführte, um „noch Schlimmeres“ zu verhindern.

Der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten führte in den Fällen, in welchen dem Angeklagten die Kenntnis der Strafbarkeit nachgewiesen werden musste, häufig zum Freispruch des Ausführenden. Die anfängliche Rechtsprechung des BGH zu Täterschaft und Teilnahme (animus auctoris Theorie) sah die einfachen, das Verbrechen ausführenden Soldaten als straflose Werkzeuge der befehlsgebenden Hintermänner, weil sie an der Straftat kein Eigeninteresse gehabt hätten (siehe auch: Einsatzgruppen, Einsatzgruppen-Prozess, Ulmer Einsatzgruppen-Prozess).

Die strafrechtliche Konstruktion einer Befehlskette gestaltet sich nämlich schwierig. Wo ein eindeutiger Befehl schriftlich oder vor Zeugen abgegeben wurde, ist die Beweislage eindeutig. Schwierig wird es in den Fällen, bei denen der konkrete Befehl in Erfüllung eines nicht eindeutigen Auftrages gegeben wurde. Die Grenzen zwischen verbindlichem Befehl und unausgesprochener Erwartung verliefen fließend und ohne Kenntnis der exakten Tatumstände konnte ein Urteil kaum gefunden werden. Es war eine Taktik im NS-Regime, erwartete Kriegsverbrechen nicht ausdrücklich zu befehlen, sondern Verantwortung zu teilen und lediglich die Erwartungshaltung auszusprechen (bspw. „gegen Freischärler ist mit äußerster Härte vorzugehen“). Jeder wusste, worum es ging, und in einer Gruppe war offener Widerstand besonders schwierig.

  • Siehe auch: Postenpflicht (Vorschrift für KZ-Wachposten, ohne Aufruf sofort scharf zu schießen)

Anwendungsfälle: Mauerschützen

Auch im Prozess um die DDR-Mauerschützen wurde durch die Angeklagten gegen den Vorwurf der Tötung (§§ 112, 113 StGB-DDR) republikflüchtiger Bürger ein Befehlsnotstand geltend gemacht. Die Verletzung und Tötung von Republikflüchtigen durch Soldaten der Grenztruppen sei durch den Schießbefehl angeordnet worden. Der Schießbefehl selbst sei durch §§ 26, 27 GrenzG-DDR (Einsatz der Schusswaffe zur Verhinderung drohender Verbrechen) gerechtfertigt gewesen. Nach § 258 Abs. 1 StGB-DDR waren Amtsträger für Handlungen aufgrund von Befehlen nur dann strafrechtlich verantwortlich, wenn die Ausführung des Befehls offensichtlich gegen die anerkannten Regeln des Völkerrechts oder Strafgesetze verstoßen hätte. Zur Tatzeit (1972) war die DDR bereits der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten. Durch den Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht wurde in diesen Fällen aber ein strafbefreiender Befehlsnotstand mit unterschiedlichen Gründen verneint.

Kritik

Die unterschiedliche Anwendung des Befehlsnotstandes für Taten unter den Unrechtsregimes des 3. Reichs und der DDR wird zum Teil heftig kritisiert. Tatsächlich verkennt solche Kritik, dass zwischen den jeweiligen Urteilen 40 Jahre Rechtsfortentwicklung liegen. Zudem wird die Verbindlichkeit obrigkeitlicher Anweisungen heute gänzlich anders beurteilt als in der Nachkriegszeit.

Weiterhin wird argumentiert, auch in den Unrechtsregimes sei die Befehlsverweigerung häufig ungeahndet geblieben, von daher habe kein echter Notstand bestanden. Für das Vorliegen der Dilemmasituation ist diese Frage aber unerheblich; es reicht aus, dass eine Bestrafung regelmäßig drohte.

Fraglich ist jedoch, ob Soldaten alle Feinheiten von Straf- und Völkerrecht offensichtlich erkennen, immerhin begründete der Senat des Bundesgerichtshofes die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Schießbefehls auf 33 Seiten des Urteils. Allerdings kann heute von jedem erwartet werden, dass er die schwersten und für einen Großteil der Kriegsverbrechen stehenden Fälle wie Mord, Folter, Plünderung oder den Missbrauch von Schutzzeichen als offensichtlich rechtswidrig erkennt.

Ausblick

Die Anwendung des Befehlsnotstandes tritt in der Rechtsprechung immer weiter in den Hintergrund. Durch Anwendung der Radbruchschen Formel wird regelmäßig bereits die Rechtmäßigkeit der Befehlsgrundlagen verneint. In Fällen offensichtlicher Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention kann sich ein Befehlsempfänger in Europa nicht mehr auf Straffreiheit berufen. Allerdings wurde die Dilemmasituation der Handelnden stets im Strafmaß berücksichtigt, in den Mauerschützenprozessen wurden die handelnden Soldaten meist zu Bewährungstrafen verurteilt.

Aktuelle Diskussionen

Der Befehlsnotstand spielt wiederum eine Rolle bei der aktuellen (September 2007) Diskussion um den durch Verteidigungsminister Jung geplanten Abschuss von gekaperten zivilen Flugzeugen, Stichwort Übergesetzlicher Notstand. Da dieser Rechtfertigungsgrund gerichtlich keineswegs anerkannt ist und im Falle eines tatsächlichen Abschusses für die ausführenden Jagdpiloten eine Anklage wegen mehrfachen Mordes in Betracht käme, wird den Piloten seitens verschiedener politischer Akteure die Verweigerung eines solchen Befehls nahegelegt.

Einzelnachweise

  1. Reichsgesetzblatt 1940 Teil I, S.1351

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