Wessobrunner Gebet

Wessobrunner Gebet
Doppelseite aus der Hs. clm 22053, III, 65v und 66r

Das Wessobrunner Gebet, auch Wessobrunner Schöpfungsgedicht genannt, gehört zu den frühesten poetischen Zeugnissen in althochdeutscher Sprache. Es ist das älteste christliche Gedicht der deutschsprachigen Literatur, das erhalten geblieben ist.[1]

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Benannt ist es nach dem altbairischen Kloster Wessobrunn, dem langjährigen Aufbewahrungsort des einzigen Überlieferungsträgers, einer lateinischen Pergament-Sammelhandschrift aus dem 9. Jahrhundert. Das Exemplar befindet sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek, München (Signatur: Clm 22053, III). Auf Bl. 65v/66r ist zwischen lateinischen Texten das althochdeutsche Gedicht eingetragen.

Seine zwei Teile, 1. ein Schöpfungspreis in neun stabreimenden Langzeilen und 2. die eigentliche Oration in freier Prosa, bilden zusammen ein Gebet um Weisheit und Kraft zur Vermeidung von Sünden. Der zweigliedrige Aufbau lässt an die Struktur von Zauberformeln denken: es wird erst ein mythischer Präzedenzfall berufen (hier die Beschenkung der Menschen durch den Schöpfer), nach dessen Muster sich dann das hier und jetzt Erbetene vollziehen soll.

Der neunzeilige Schöpfungsbericht in seinen eindringlichen Versen könnte ursprünglich eigenständig gewesen sein. Er enthält den Anfang einer Kosmogonie, in der die uranfängliche Nichtexistenz von Allem (Erde und Himmel, Baum und Berg, Sonne, Mond und Meer) den Hintergrund abgibt für die Existenz Gottes VOR allem Geschaffenen. Das Gedicht ist in der Sprache der altgermanischen mündlichen Epik abgefasst und verwendet Stab- und Einleitungsformeln, die aus angelsächsischer und altsächsischer Tradition bekannt sind (manno miltisto, dat gafregin ih). Die Formeln, was alles am Anfang nicht war, ähneln denen der nordgermanischen Schöpfungsgeschichte in der Völuspá. Der Gedanke, dass bereits vor der Schöpfung ein transzendenter Gott existierte, der schließlich die Welt aus dem Nichts erschuf, ist jedoch genuin christlich (creatio ex nihilo).

Der Zeitpunkt der Entstehung liegt um 790 oder bald danach, die erhaltene Abschrift ist um 814 entstanden. Der Verfasser der Zeilen ist unbekannt. Ebenso unbekannt ist der Entstehungsort der Handschrift, die nicht in Wessobrunn selbst geschrieben wurde. In Frage kommen Diözesen in Bayern, vermutlich Augsburg oder Regensburg. Die auffällige Besonderheit der „Sternrune“ als Kürzel für ga- teilt die Niederschrift des Wessobrunner Gebets einzig mit einer ebenfalls bairischen Handschrift des 9. Jahrhunderts (London, British Library, Arundel MS. 393).

Die Anfänge der Hauptabschnitte des Textes sind durch größere rote Anfangsbuchstaben hervorgehoben (f. 65v, Zeilen 2, 8, 11). Die Punkte knapp über der Zeile dienen als Interpunktion und markieren im Versteil die Vers-, zum Teil auch Halbvers-Schlüsse.

Die Überschrift ist in Unzial-Schrift, der übrige Text in karolingischer Minuskel geschrieben.

In der Forschung geht man davon aus, dass das Wessobrunner Gebet auf Anweisung eines angelsächsischen Missionars veranlasst wurde, um die heidnischen Sachsen auf die Taufe vorzubereiten.

Der Text war in der Musik des 20. Jahrhunderts Gegenstand einiger Vertonungen, darunter auch von Carl Orff und Helmut Lachenmann (Consolation II).

Weiterhin existieren moderne Vertonungen der Mittelaltergenre-Rockbands In Extremo und Estampie.

Übertragung

Originaltext:

„Dat gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista
Dat ero ni uuas noh ufhimil
noh paum noh pereg ni uuas
ni [...] nohheinig noh sunna ni scein
noh mano ni liuhta noh der mareo seo

Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo
enti do uuas der eino almahtico cot
manno miltisto enti dar uuarun auh manake mit inan
cootlihhe geista enti cot heilac [...]

Cot almahtico, du himil enti erda gauuorahtos enti du mannun so manac coot forgapi forgip mir in dina ganada rehta galaupa enti cotan uuilleon uuistom enti spahida enti craft tiuflun za uuidarstantanne enti arc za piuuisanne enti dinan uuilleon za gauurchanne“

– Elias von Steinmeyer, Die kleineren Althochdeutschen Sprachdenkmäler, Seite 16

Neuhochdeutsch:

„Das erfuhr ich unter den Menschen als der Wunder größtes,
Dass Erde nicht war, noch Himmel oben,
Nicht Baum noch Berg nicht war,
Noch [...] irgend etwas, noch die Sonne nicht schien,
Noch der Mond nicht leuchtete, noch das herrliche Meer.

Als da nicht war an Enden und Wenden,
Da war der eine allmächtige Gott, der Wesen gnädigstes,
Und da waren mit ihm auch viele herrliche Geister.
Und Gott, der heilige [...]

Gott, Allmächtiger, der Du Himmel und Erde erschaffen hast und den Menschen so viele gute Gaben gegeben hast. Gib mir in Deiner Gnade rechten Glauben und guten Willen, Weisheit und Klugheit und Kraft, dem Teufel zu widerstehen, und das Böse zu meiden und Deinen Willen zu verwirklichen.“

Anonymus

Siehe auch

Literatur

  • Hans-Hugo Steinhoff: Wessobrunner Gebet. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-11015-606-5, Sp. 961–965.
  • Horst Dieter Schlosser (Hrsg.): Althochdeutsche Literatur: Mit altniederdeutschen Textbeispielen. Auswahl mit Übertragungen und Kommentar. 2. Auflage. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2004, ISBN 978-3-50307-903-2.
  • Hans Pörnbacher: Vom größten Wunder. Das Wessobrunner Gebet: Bayerns erste christliche Dichtung. In: Heimatverband Lech-Isar-Land Weilheim (Hrsg.): Lech-Isar-Land 2005. Weilheim 2005, S. 91–102
  • Heinrich Tiefenbach: Wessobrunner Schöpfungsgeschichte. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde – Bd. 33. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2006, ISBN 978-3-11018-388-7, S. 513–516

Weblinks

 Wikisource: Wessobrunner Gebet – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Hans Pörnbacher: Vom größten Wunder. Das Wessobrunner Gebet: Bayerns erste christliche Dichtung. In: Lech-Isar-Land 2005. S. 91

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