Bedeutung-Text-Modell

Bedeutung-Text-Modell

Das Bedeutung-Text-Modell (auch Inhalt-Text-Modell) ist ein Sprachmodell, dessen Entwicklung in den 1960er Jahren von einer Gruppe Moskauer Sprachwissenschaftler um I.A. Meľčuk, A.K. Žolkovskij, J.D. Apresjan u.a. begonnen wurde. Ein Modell, das die menschliche Sprache nachbildet, indem es einen Text (in geschriebener oder gesprochener Form) in die ihm entsprechende Bedeutung überträgt und umgekehrt. Das Modell besteht aus zwei Komponenten, einer Grammatik, nämlich einer speziellen dependenzorientierten Transformationsgrammatik, und einem speziellen Wörterbuch.

Dieses Sprachmodell basiert auf der Untersuchung vieler verschiedener Sprachen und ist deswegen prinzipiell zur Beschreibung beliebiger natürlicher, d.h. menschlicher Sprachen geeignet. Im Bedeutung⇔Text-Modell (BTM bzw. MST von Modell ‘Smysl⇔Tekst’ aus dem russ. модель «Смысл⇔Текст» bzw. engl. MTT von ‘Meaning⇔Text’ Theory) sind Wörterbuch und Grammatik eng aufeinander abgestimmt bezüglich der in ihnen enthaltenen Informationen und bezüglich der verwendeten formalen Sprachen. Die wesentlichen Bestandteile dieses Modells sind also eine besondere Grammatik und ein ebenso spezielles Wörterbuch: Die Grammatik fungiert dabei als Translator, der in mehreren Etappen gegebene Texte einer natürlichen Sprache in die diesen Texten entsprechenden Bedeutungen (russ. cмыcл) und umgekehrt überträgt. Im Lexikon finden sich u.a. Informationen über die Bedeutung und die Kombinierbarkeit von Lexemen. Das Modell dient dementsprechend zur Translation in zwei Richtungen: 1. von der Bedeutung zum Text: zur Synthese von Sprache bzw. zur Produktion von Texten, wodurch die menschliche Fähigkeit zu Sprechen modelliert wird. 2. vom Text zur Bedeutung: zur Analyse von Texten, womit die Fähigkeit des Menschen zum Verstehen von sprachlichen Äußerungen bzw. von geschriebenen Texten modelliert wird.

Wichtige Gesichtspunkte des BTM sind die folgenden: 1. der Ansatz des BTM, eine wirklich systematische Beschreibung von natürlichen Sprachen zu liefern; 2. die so genannten Lexikalischen Funktionen, die in allen natürlichen Sprachen anwendbar sind; 3. das Rektionsmodell (systematische Darstellung der Valenzen eines Wortes); 4. die Semantische Metasprache, die im BTM zur Bedeutungserklärung von Wörtern und auch komplexeren Ausdrücken verwendet wird; 5. die Berührungspunkte des BTM mit dem Gebiet der maschinellen Übersetzung.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Erste Arbeiten zur Entwicklung des BTM wurden in den 1960er Jahren von einer Gruppe Moskauer Sprachwissenschaftler um Igor’ Aleksandrovič Meľčuk, Aleksandr Konstantinovič Žolkovskij und Jurij Derenikovič Apresjan (später Moskauer Semantische Schule, russ. Московская семантическая школа bzw. Московская школа семантики, engl. Moscow Semantic Circle) geleistet. Im Jahr 1974 erschienen die beiden grundlegenden Monographien von Meľčuk und von Apresjan, die eine recht umfassende Beschreibung des BTM bieten. Modifikationen, die an dem Modell vorgenommen wurden, bzw. Modifikationsvorschläge wurden wiederholt in neueren Publikationen beschrieben.

Im deutschsprachigen Raum sind in erster Linie folgende Namen im Zusammenhang mit dem BTM zu nennen: Tilmann Reuther beschäftigt sich seit Ende der 1970er Jahre mit dem Wörterbuch im BTM, speziell mit bestimmten Lexikalischen Funktionen. Daniel Weiss setzt sich kritisch mit der Theorie des BTM auseinander. Leo Wanner benutzt Lexikalische Funktionen für die automatische Übersetzung und hat u.a. einen Sammelband „Recent Trends in Meaning-Text Theory“ herausgegeben. Klaus Hartenstein beschäftigte sich in den 1980er Jahren ebenfalls vor allem speziell mit den Lexikalischen Funktionen nicht zuletzt hinsichtlich ihrer Nutzung für den Fremdsprachenunterricht, aber auch mit theoretischen Fragen im BTM. Hartenstein und Peter Schmidt publizierten 1983 eine umfangreiche, kommentierte Bibliographie zum BTM.

Die Aktualität des BTM zeigt sich nicht zuletzt darin, dass seit dem Jahr 2003 im Zwei-Jahres-Abstand internationale Konferenzen zum Thema BTM stattfinden. Die erste in Paris, dann in Moskau (2005), in Klagenfurt (2007), in Montreal (2009) und zuletzt im September 2011 in Barcelona.

Eine praktische Anwendung des BTM stellt u.a. die Realisierung des maschinellen Übersetzungssystems ETAP dar. Dieses System wird seit 1978 zunächst im Moskauer Institut „Informelektro“ und dann am Institut für Probleme der Informationsübertragung an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (später Russische Akademie der Wissenschaften) entwickelt und übersetzt vom Englischen ins Russische und umgekehrt.

Die zwei Bestandteile des BTM

Das Wörterbuch des BTM, das Erklärend-Kombinatorisches Wörterbuch (EKW, russ. тoлкoвo-кoмбинaтopный cлoвapь), bietet wesentlich umfangreichere Informationen als ein konventionelles Wörterbuch. Diese Informationen sind im EKW auf bis zu zehn übersichtlich strukturierte Zonen für jeden Wörterbucheintrag verteilt. Einige dieser Zonen sind auch aus konventionellen Wörterbüchern bekannt, andere jedoch vermitteln Informationen, die in gewöhnlichen Wörterbüchern nicht zu finden sind.

Drei dieser Zonen sind besonders wichtig: (a) die Bedeutungsexplikation, die mithilfe der Semantischen Metasprache eine exakte Erklärung des Stichwortes liefert, (b) das Rektionsmodell, das alle relevanten Informationen zu den semantischen und syntaktischen Valenzen des Stichwortes, sowie zu dessen syntaktischen Eigenschaften enthält und (c) eine Zone mit der Auflistung aller Lexikalischen Funktionen des Stichworts, wodurch die entscheidenden Angaben zu allen Möglichkeiten der Verbindung des Stichworts mit anderen Wörtern ergänzt werden.

Die Grammatik im BTM ist zum einen eine Dependenzgrammatik Tesnière’scher Prägung, zum anderen eine Transformations- bzw. Translationsgrammatik, die den Übergang von der Bedeutung zum Text und umgekehrt modelliert. Um diesen Übergang vollziehen zu können, bedient sich das Modell verschiedener Zwischenebenen. Im Einzelnen werden im BTM die folgenden vier Hauptebenen verwendet, wobei die erstgenannte Ebene, die Semantische Darstellung, der Bedeutung entspricht, die letztgenannte, die Phonologische bzw. Orthographische Darstellung, dem Text:

        Semantische Darstellung
                  ↕
        Syntaktische Darstellung
                  ↕
       Morphologische Darstellung
                  ↕
Phonologische/Orthographische Darstellung

Die drei letztgenannten Darstellungsebenen werden dabei in jeweils zwei Unterebenen, nämlich eine Oberflächen- und eine Tiefen-Ebene unterteilt.

Literatur

Allgemeines

  • Melʹčuk, I.A. 1974: Opyt teorii lingvističeskich modelej «Smysl ⇔ Tekst». Moskau.
  • Melʹčuk, I.A. 1995: Russkij jazyk v modeli «Smysl ⇔ Tekst». Moskau, Wien.
  • Melʹčuk, I.A. 1997: Vers une linguistique Sens-Texte. Leçon inaugurale. P.: Collège de France, Chaire internationale.
  • Hartenstein, K. 1999: Konzeptionen der sowjetischen und russischen Semantik. In: H. Jachnow (Hrsg.): Handbuch der sprachwissenschaftlichen Russistik und ihrer Grenzdisziplinen. Wiesbaden, S. 910–953.
  • Hartenstein, K., P. Schmidt 1983: Kommentierte Bibliographie zum „Smysl ⇔ Tekst“-Modell. In: Wiener Slawistischer Almanach 11, S. 355–409.
  • Melʹčuk, I.A. 1976: Ein linguistisches Modell des Typs ‘Smysl ⇔ Tekst’ [Inhalt ⇔ Text]. In: W. Girke, H. Jachnow (Hrsg.): Theoretische Linguistik in Osteuropa. Tübingen, S. 49–67.
  • Weiss, D. 1999: Sowjetische Sprachmodelle und ihre Weiterführung. In: H. Jachnow (Hrsg.): Handbuch der sprachwissenschaftlichen Russistik und ihrer Grenzdisziplinen. Wiesbaden, S. 873–909.
  • Zangenfeind, R. 2010: Das Bedeutung-Text-Modell. Wörterbuch und Grammatik einer integralen Sprachbeschreibung. München, Berlin (= Slavistische Beiträge, Bd. 471). ISBN 978-3-86688-083-2

Erklärend-Kombinatorisches Wörterbuch

  • Melʹčuk, I.A., A.K. Žolkovskij, Ju.D. Apresjan et al. 1984: Tolkovo-kombinatornyj slovarʹ sovremennogo russkogo jazyka: Opyty semantiko-sintaksičeskogo opisanija russkoj leksiki. Wien. (= Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 14)
  • Melʹčuk, I.A., A. Clas, A. Polguère 1995: Introduction à la lexicologie explicative et combinatoire. Paris: Duculot. — ISBN 2-8011-1106-6
  • Melʹčuk, I.A. et al. 1984, 1988, 1992, 1999: Dictionnaire explicatif et combinatoire du français contemporain. Recherches lexico-sémantiques I-IV, Montréal: Les Presses de l’Université de Montréal. — ISBN 2-7606-1738-6
  • Hartenstein, K. 1981: Das Erklärend-kombinatorische Wörterbuch im ‘Smysl ⇔ Tekst’-Modell – Studien zu den lexikologischen Grundlagen der Bedeutungsexplikation und ihrer lexikographischen Verwendbarkeit. München. (= Slavistische Beiträge, Bd. 148).
  • Reuther, T. 1994: Funktionsverben in einem Erklärend-kombinatorischen Wörterbuch: Möglichkeiten der Generalisierung. In: H.R. Mehling (Hrsg.): Slavistische Linguistik 1993. München. (= Slavistische Beiträge, Bd. 319), S. 279–291.
  • Apresjan, Ju.D. (Hrsg.) 2004: Novyj obʺjasnitelʹnyj slovarʹ sinonimov russkogo jazyka. 2. izd., ispr. i dop. Moskva. (= Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 60)

Semantik

  • Apresjan, Ju.D. 1974: Leksičeskaja semantika. Sinonimičeskie sredstva jazyka. Moskva.
  • Apresjan, Ju. D. 1976: Die semantische Sprache als Mittel der Erklärung lexikalischer Bedeutungen. In: W. Girke, H. Jachnow (Hrsg.): Theoretische Linguistik in Osteuropa. Tübingen, S. 22–48.

Syntax

  • Melʹčuk, I.A., N. V. Pertsov 1987: Surface syntax of English: A formal model within the Meaning-Text framework. Amsterdam; Philadelphia: Benjamins. ISBN 9-0272-1515-4
  • Melʹčuk, I.A. 1988: Dependency syntax: Theory and practice. Albany, NY: SUNY. ISBN 0-8870-6450-7, ISBN 0-8870-6451-5
  • Melʹčuk, I.A. 2004: Actants in Semantics and Syntax. I,II, Linguistics, 42:1, 1-66; 42:2, 247—291.
  • Apresjan, Ju.D., I.M. Boguslavskij, L.L. Iomdin, V.Z. Sannikov 2010: Teoretičeskie problemy russkogo sintaksisa. Vzaimodejstvie grammatiki i slovarja. Moskva

Morphologie

  • Melʹčuk, I.A. 1993—2000: Cours de morphologie générale, vol. 1-5. Montréal: Les Presses de l’Université de Montréal/Paris: CNRS Éditions (русск. перевод: Курс общей морфологии). ISBN 2-7606-1548-0
  • Melʹčuk, I.A. 2006: Aspects of the Theory of Morphology. Berlin; New York: Mouton de Gruyter. ISBN 3-1101-7711-0 ISBN 9-7831-1017-7114

Anwendungen

  • Apresjan, Ju.D. et al. 1989: Lingvističeskoe obespečenie sistemy ĖTAP-2. Moskva.
  • Apresjan, Ju.D. et al. 1992: Lingvističeskij processor dlja složnych informacionnych sistem. Moskva.
  • Reuther, T. 1997: Das CALLex-Projekt (Computer-Aided Learning of Lexical Functions). In: P. Kosta, E. Mann (Hrsg.): Slavistische Linguistik 1996. München (= Slavistische Beiträge, Bd. 354), S. 283–307.

Sammelbände

  • Wanner, L. (Hrsg.) 1996: Lexical Functions in Lexicography and Natural Language Processing. Amsterdam, Philadelphia.
  • Wanner, L. (Hrsg.) 1997: Recent Trends in Meaning-Text Theory. Amsterdam; Philadelphia.: J. Benjamins Pub. ISBN 1-5561-9925-2, ISBN 9-0272-3042-0
  • Wanner, L. (Hrsg.) 2007: Selected Lexical and Grammatical Issues in the Meaning–Text Theory. Amsterdam, Philadelphia

Weblinks


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