Weiberherrschaft

Weiberherrschaft

Weiberherrschaft (türkisch ‏قادینلر سلطنتی‎ kadınlar saltanatı) bezeichnet einen Zeitraum der osmanischen Geschichte (das späte 16. wie die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts), in dem Frauen, meist die Mütter der Sultane, die Valide Sultan, bedeutenden Einfluss auf die Politik des Osmanischen Reiches nahmen. Der Begriff wurde von dem türkischen Historiker Ahmed Refik (1881–1937) geprägt und wird zumeist benutzt, um den inneren und äußeren Niedergang des Osmanischen Reiches seit dem 16. Jahrhundert zu erklären.

Ausschnitt aus einem zeitgenössischen Porträt von Roxelane

Als erste politisch mächtige Haremsbewohnerin gilt Roxelane (ca. 1506 - 1558), die Lieblingsfrau Süleymans des Prächtigen. Die dynastische Nachfolge ihres Sohnes, des alkoholkranken Selim sicherte sie mit zum Teil rücksichtslosen Methoden - sie ließ etwa zwei von Selims Halbbrüdern umbringen und verhinderte, dass ihm zu Ausbildungszwecken die Verwaltung eines Sandschaks übertragen wurde. Um ihrem Schwiegersohn Rüstem Pascha zum Großwesir zu machen, sorgte sie 1536 für die Hinrichtung des überaus erfolgreichen Großwesirs İbrahim Pascha und 1555 für die von Kara Ahmed Pascha. Ein weiteres prominentes Beispiel ist Kösem Mahpeyker (ca. 1589 - 1651), die als Mutter von Murad IV. und İbrahim sowie als Großmutter Mehmed IV. die osmanische Politik de facto leitete. Weitere mächtige Bewohnerinnen des Harems waren Roxelanes Schwiegertochter Nurbanu (1525 - 1583) und Safiye (1550 - 1618).

Insbesondere bei der Besetzung wichtiger politischer Ämter wie des Großwesirs oder des Agas der Janitscharen machten sie ihren Einfluss geltend. Weil die Bewohnerinnen des Harems - rechtlich ausnahmslos Sklavinnen, deren Ausbildung sie rein auf ein dienendes Dasein vorbereitet hatte - für politische Entscheidungen aber in keiner Weise vorgebildet waren, kam es immer häufiger zu politischen oder personellen Fehlentscheidungen sowie Nepotismus. Die Frauen des Harems ließen sich bei der Wahl ihrer Protegés nicht vom Leistungsprinzip oder den Interessen des Reiches leiten, sondern nach ethnischer Loyalität. Da im 16. Jahrhundert die Sultane Frauen aus dem Kaukasus bevorzugten, nahm so unter den Würdenträgern in hohen und höchsten Ämtern des Osmanischen Reiches der Anteil von Kaukasiern überproportional zu. Ein weiteres Symptom ist der häufige Wechsel der Großwesire, deren Verweildauer im Amt in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts im Durchschnitt kaum mehr als ein Jahr betrug. Diskontinuitäten und teilweise chaotische Zustände in der Verwaltung des Reiches waren die Folge.[1] Auf der anderen Seite ermöglichte die Macht der führenden Frauen des Harems das Weiterbestehen der Staatsverfassung des Reiches, die einzig auf der patrilinearen Blutsverwandtschaft der Sultane gründete. Die persönlichen Mängel und Inkompetenzen schwacher oder unfähiger Sultane wie Mustafa I., Murad IV. oder İbrahim der Verrückte konnten durch ihre starken Frauen oder Mütter zum Teil wieder ausgeglichen werden. Weil mit der Weiberherrschaft die Monopolisierung der Macht des Sultans schwand, wurden dessen Willkürakte nun durch stärker kooperative und bürokratische Formen der Herrschaft abgelöst.[2]

Der Einflussnahme des Harems auf Politik und Stellenbesetzungen von Würdenträgern des osmanischen Reiches wurde nach 1656 durch den Großwesir Köprülü Mehmed Pascha beendet.

Einzelnachweise

  1. Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, 5. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, S. 136 und 169ff
  2. Daniel Goffman, The Ottoman empire and early modern Europe, Cambridge University Press, Cambridge 2004, S. 63f

Literatur

  • İlhan Akşit: The Mystery of the Ottoman Harem. Akşit Kültür Turizm Yayınları. ISBN 975-7039-26-8
  • Elçin Kürsat: Haremsfrauen und Herrschaft im Osmanischen Reich in seiner Blütezeit, in: politik unterricht aktuell, Heft 1-2 / 2001, S. 49-53 online
  • Josef Matuz: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. 5. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008. ISBN 978-3-534-20020-7
  • Leslie P. Peirce: The Imperial Harem. Women and Sovereignty in the Ottoman Empire. Oxford University Press (1993). ISBN 978-0195086775

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Köprülü Mehmed — Mehmet Köprülü Pascha (* um 1580 in Rojnik, Albanien; † 31. Oktober 1661 in Edirne) war ab 1656 bis zu seinem Tod Großwesir des Osmanischen Reiches. Er war zunächst Koch im Serail, wurde später Oberstallmeister des Großwesirs Kara Mustafa und… …   Deutsch Wikipedia

  • Mehmed Köprülü — Mehmet Köprülü Pascha (* um 1580 in Rojnik, Albanien; † 31. Oktober 1661 in Edirne) war ab 1656 bis zu seinem Tod Großwesir des Osmanischen Reiches. Er war zunächst Koch im Serail, wurde später Oberstallmeister des Großwesirs Kara Mustafa und… …   Deutsch Wikipedia

  • Osmanisches Reich — Osmanlı İmparatorluğu Devlet i Alîye i Osmânîye دولت علیهٔ عثمانیه Osmanisches Reich …   Deutsch Wikipedia

  • Aleksandra Lisowska — Roxelane auf einem anonymen Holzschnitt von 1550, so wie man sie sich in Venedig als la Rossa (die Russin) vorstellte[1] Haseki Hürrem Sultan (osmanisch Hürrem, von persisch ‏خرم‎ ḫurram ‚die Freudvolle‘; auch Roxelane, Roxelana, Roxolana, Ruziac …   Deutsch Wikipedia

  • Anastasia Lisowska — Roxelane auf einem anonymen Holzschnitt von 1550, so wie man sie sich in Venedig als la Rossa (die Russin) vorstellte[1] Haseki Hürrem Sultan (osmanisch Hürrem, von persisch ‏خرم‎ ḫurram ‚die Freudvolle‘; auch Roxelane, Roxelana, Roxolana, Ruziac …   Deutsch Wikipedia

  • Anna von Dänemark und Norwegen (1532–1585) — Anna von Dänemark, Kurfürstin von Sachsen Prinzessin Anna von Dänemark (* 22. November 1532 in Hadersleben; † 1. Oktober 1585 in Dresden), genannt „Mutter Anna“, war Kurfürstin von Sachsen …   Deutsch Wikipedia

  • Christine Teusch — Br …   Deutsch Wikipedia

  • Eduard Fuchs — (* 31. Januar 1870 in Göppingen; † 26. Januar 1940 in Paris) war ein marxistischer Kulturwissenschaftler, Historiker, Schriftsteller und Kunstsammler. Inhaltsverzeichnis 1 Journalistische Laufbahn 1.1 Journalismus …   Deutsch Wikipedia

  • Fulvia — Stilisierte Fulvia auf einer römischen Münze Fulvia (* um 80 v. Chr.; † Mitte 40 v. Chr. in Sikyon bei Korinth) war eine römische Matrona. Nach ihren Ehen mit Publius Clodius Pulcher und Gaius Scribonius Curio war es vor allem die Ehe mit Marcus… …   Deutsch Wikipedia

  • Harem — Der Ausdruck Harem (haram / ‏ حرم‎ / ḥaram /‚verboten; unverletzlich, tabu, heilig (bezogen auf ein Gebiet); Frau‘) bezeichnet einen abgeschlossenen und bewachten Wohnbereich eines Serails oder Hauses, in dem die Frauen, die weiblichen… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”