Wachstumsrücknahme

Wachstumsrücknahme
Protestaufschrift „Décroissance“ (Wachstumsrücknahme) an der Julisäule auf der Place de la Bastille, Paris aus der Zeit des Generalstreiks am 28. März 2006

Unter Wachstumsrücknahme wird eine Rücknahme des Konsum- und Produktionswachstums verstanden, mit der einem solchen Wirtschaftswachstum dann begegnet werden soll, wenn es sozial, ökologisch, ökonomisch und politisch schädlich ist. In der Wachstumsrücknahme sehen die Vertreter dieses Konzepts eine Maßnahme gegen ein Umwelt und Ressourcen überbelastendes Wachstum.

Inhaltsverzeichnis

Historische Entwicklung

Bereits John Maynard Keynes sagte eine dauerhafte Wachstumsabschwächung voraus und gab für diesen Fall wirtschaftspolitische Empfehlungen.[1] Als Vordenker der jüngeren Geschichte für die Vertreter der décroissance und die Kritiker des uneconomic growth gelten Nicholas Georgescu-Roegen,[2] Ivan Illich und auch André Gorz sowie die Veröffentlichung Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome aus dem Jahr 1972.

Frankreich

In Frankreich wird Wachstumsrücknahme unter dem dort populären Kunstwortdécroissance“ diskutiert.[3] Daraus hat sich eine konsumkritische Bewegung entwickelt, für die in den deutschsprachigen Ländern keine Entsprechung existiert. Als einer der französischen Vertreter dieses Konzepts gilt Serge Latouche.[4] Über Wachstumsrücknahme wird in Frankreich breit debattiert, bis hin zu Präsident Nicolas Sarkozy[5]. Die französische Décroissance-Bewegung ist vergleichsweise radikal und lehnt nicht nur den „Wachstumszwang“, sondern auch einen Green New Deal ab.[6]

Deutschland

In Deutschland führen ehemalige Politiker und Spitzenmanager wie Kurt Biedenkopf[7] oder Klaus Wiegandt die Anfänge einer wachstumskritischen Debatte.[8] Verhaltene Wachstumskritik von Bundespräsident Horst Köhler[9] fand bei den Parteien kaum Widerhall.

Wissenschaftlich werden wachstumskritische Konzepte unter anderem von WirtschaftswissenschaftlerInnen wie Niko Paech (Postwachstumsökonomik)[10], Gerhard Scherhorn[11], Adelheid Biesecker[12], Sabine Hofmeister, Uwe Schneidewind und Hans Christoph Binswanger thematisiert. Sie orientieren sich an der Strategie der Suffizienz und dem partiellen Rückbau industrieller, insbesondere global arbeitsteiliger Wertschöpfungsprozesse zugunsten einer Stärkung lokaler und regionaler Selbstversorgungsmuster. Enthalten sind zudem Ansätze einer Geld- und Bodenreform.

Die Vereinigung für Ökologische Ökonomie hat sich seit ihrer Jahrestagung 2010 mit dem Thema „Wirtschaft ohne Wachstum“[13] als erste wachstumskritische Wissenschaftsvereinigung etabliert. In Ihrem Leitbild vertritt sie einen wissenschaftlich basierten Ansatz zur Ablösung der ökonomischen Wachstumspolitik durch die Postwachstumsökonomie.[14] Im Mai 2011 koordinierte attac in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung in Berlin eine Tagung unter dem Titel „Jenseits des Wachstums?!“.[15]

Seit der Finanzkrise ab 2007 werden in Politik und Forschung sinkende Reallöhne, Wachstumszusammenbrüche in der Wirtschaft, Shrinking Cities festgestellt und zumeist beklagt. Der Soziologe Ulrich Beck spricht von einer kommenden „Gesellschaft des Weniger“. Der Imperativ bei diesem neuen Ansatz lautet, Schrumpfung zu akzeptieren und zu gestalten. Hier zeichnet sich ein Paradigmenwechsel sowohl bei der Wahrnehmung als auch in der Diskussion ab.[16].

Großbritannien

Der britische Ökonom Tim Jackson, Leiter des Beirats für nachhaltige Entwicklung der britischen Regierung, vertritt in seinem Buch „Wohlstand ohne Wachstum“ die These, für die hoch entwickelten Wirtschaften der westlichen Welt sei Wohlstand ohne Wachstum kein utopischer Traum mehr sondern eine Notwendigkeit. Er bezweifelt die Möglichkeit, den Primärenergieverbrauch von der Wirtschaftsleistung zu entkoppeln und empfiehlt einen neuen Wohlstandsbegriff und eine Umverteilung der Arbeit.[17]

USA

Trotz der Bezeichnung „uneconomic growth“ wird in den USA unter „unwirtschaftlichem Wachstum“ ein Wachstum verstanden, dessen Schädlichkeit über die reine Unwirtschaftlichkeit hinausgeht. Der früher für die Weltbank arbeitende Wirtschaftswissenschaftler Herman Daly definierte diese Art des Wachstums als Zunahme des Wachstums auf Kosten der Ressourcen und der Lebensqualität.[18][19] Im Gegensatz zu einer Rücknahme des Wachstums setzt Daly auf qualitatives Wachstum.

Siehe auch

Literatur

  • Torben Anschau, Kay Bourcarde, Karsten Herzmann & Viola Hübner: Normalfall Wachstum? Warum die Wachstumsraten sinken. In: Deutscher Studienpreis (Hrsg.): Ausweg Wachstum? Arbeit, Technik und Nachhaltigkeit in einer begrenzten Welt. VS, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-531-15300-1
  • Lisa Dust: Ausweg Schrumpfung? Zur Ökonomik von schrumpfenden Bevölkerungen. In: Deutscher Studienpreis (Hrsg.): Ausweg Wachstum? Arbeit, Technik und Nachhaltigkeit in einer begrenzten Welt. VS, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-531-15300-1
  • Mats Larsson: The Limits of Business Development and Economic Growth: Why Business Will Need to Invest Less in the Future. 2004, ISBN 978-1-4039-4239-5 (Thema: Wie sich Unternehmen auf ein sinkendes oder sich qualitativ veränderndes Wirtschaftswachstum einstellen können)
  • Norbert Nicoll: Hat die Zukunft eine Wirtschaft? Das Ende des Wachstums und die kommenden Krisen, Unrast-Verlag, Münster 2011, ISBN 978-3-89771-512-7
  • Serge Latouche: Le pari de la décroissance, Éditions Fayard, Paris 2006.
  • Niko Paech: Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum. Eine unternehmensbezogene Transformationstheorie. Metropolis-Verlag, Marburg 2005, ISBN 978-3-89518-523-6
  • Wolfgang Uchatius: Kapitalismus: Wir könnten auch anders. In: Die Zeit. 20. Mai 2009

Weblinks

Fußnoten

  1. Karl Georg Zinn: Sättigung oder zwei Grenzen des Wachstums: John Maynard Keynes hat über die kleine Not des Augenblicks hinausgedacht. In: Le Monde diplomatique. 10. Juli 2009
  2. Nicholas Georgescu-Roegen: Demain la décroissance. 1979 (PDF; 1,014 MB)
  3. Christine Siebert: Décroissance – Verzicht und Lebensfreude. In: RFI. 3. Juni 2009
  4. Serge Latouche: Circulus virtuosus. Für eine Gesellschaft der Wachstumsrücknahme. In: Le Monde diplomatique. 14. November 2003
  5. Werner A. Perger: Wirtschaftswachstum: Aufstand gegen die Lebenslüge. In: Die Zeit. 30. September 2009
  6. Ernst Schmitter: Wachstumsverweigerung: Immer mehr Menschen sagen nein zum Wachstumszwang – auch zum „Green New Deal“. In: Der Rabe Ralf. Dezember 2009, S. 8–9, abgerufen am 6. März 2010 (PDF; 3,8 MB).
  7. Von Armin Mahler, Michael Sauga: Jahrhundert der Bescheidenheit. In: Der Spiegel. Nr. 31, 2009 (27. Juli 2009, online).
  8. Pierre Ibisch & Lars Schmidt: Nachhaltigkeit: Nicht die Armut, das Wachstum muss bekämpft werden. In: Die Zeit. 23. Oktober 2009
  9. Horst Köhler: web.archive.org: Die Glaubwürdigkeit der Freiheit. Berliner Rede 2009. 24. März 2009
  10. Niko Paech: Wirtschaftswachstum: Die neue Bescheidenheit. Interview mit Wolfgang Uchatius. In: Die Zeit. 20. Mai 2009
  11. Manfred Linz, Gerhard Scherhorn: Für eine Politik der Energie-Suffizienz, Wuppertal Inst. für Klima, Umwelt, Energie, 2011
  12. Adelheid Biesecker: Thesenpapier Postwachstumsökonomie demokratisch gestalten: Markt, Plan, Solidarische Ökonomie?
  13. Tagungswebseite der VÖÖ 2010
  14. Leitbild der VÖÖ
  15. „Jenseits des Wachstums?!“: KooperationspartnerInnen
  16. Hans-Peter Gensichen: Armut wird uns retten. Geteilter Wohlstand in einer Gesellschaft des Weniger. Publik-Forum-Verlags-Gesellschaft Oberursel 2009, ISBN 978-3-88095-192-1
  17. Stephan Kaufmann: Anders Wirtschaften: Wohlstand ohne Wachstum, in: Frankfurter Rundschau vom 6. April 2011, abgerufen am 5. Juli 2011
  18. Herman Daly: Uneconomic Growth in Theory and in Fact. The First Annual Feasta Lecture. Trinity College, Dublin, 26. April 1999
  19. Uneconomic growth occurs when increases in production come at an expense in resources and well-being that is worth more than the items made.“ Herman E. Daly: Economics in a Full World. In: Scientific American. September 2005, S. 100–107 (PDF; 1,15 MB)

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