Vorsorgeprinzip

Vorsorgeprinzip

Das Vorsorgeprinzip ist ein wesentlicher Bestandteil der aktuellen Umweltpolitik und Gesundheitspolitik in Europa, nach dem Belastungen bzw. Schäden für die Umwelt bzw. die menschliche Gesundheit im Voraus (trotz unvollständiger Wissensbasis) vermieden oder weitestgehend verringert werden sollen. Es dient damit einer Risiko- bzw. Gefahrenvorsorge. Eine einheitliche Definition dieses Begriffes existiert nicht. Die Erklärung der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio konkretisiert das Vorsorgeprinzip in Kapitel 35 Absatz 3 der Agenda 21:

„Angesichts der Gefahr irreversibler Umweltschäden soll ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewißheit nicht als Entschuldigung dafür dienen, Maßnahmen hinauszuzögern, die in sich selbst gerechtfertigt sind. Bei Maßnahmen, die sich auf komplexe Systeme beziehen, die noch nicht voll verstanden worden sind und bei denen die Folgewirkungen von Störungen noch nicht vorausgesagt werden können, könnte der Vorsorgeansatz als Ausgangsbasis dienen.“

Das Vorsorgeprinzip zielt darauf ab, trotz fehlender Gewissheit bezüglich Art, Ausmaß oder Eintrittswahrscheinlichkeit von möglichen Schadensfällen vorbeugend zu handeln, um diese Schäden von vornherein zu vermeiden.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Das Sprichwort bzw. die Erfahrung „Vorsicht ist besser als Nachsicht“ (engl.: "Better safe than sorry") kann bei der Entwicklung des Vorsorgeprinzips Pate gestanden haben. Wann und wo das Vorsorgeprinzip erstmals angewendet wurde, ist unbekannt; hier spielt auch die Frage der Definition eine Rolle.

Betrachtet man Vorsorge unter dem Blickwinkel der Nachhaltigkeit, also die Vorsorge für die nachkommenden Generationen, reichen die dokumentierten Anfänge bereits bis ins Ende des 18. Jahrhunderts zurück. 1804 schrieb Oberforstmeister Georg Ludwig Hartig: „Jede weise Forstdirektion muss die Waldungen … so zu benutzen suchen, dass die Nachkommenschaft ebenso viel Vorteil daraus ziehen kann, als sich die jetzt lebende Generation zueignet …“ [1].


Einzug in die Politik hielt das Vorsorgeprinzip Anfang der 1970er Jahre. 1971 wurde es im ersten Umweltprogramm der Bundesregierung als zentrales umweltpolitisches Handlungsprinzip festgelegt. Seit den 1980er Jahren findet das Vorsorgeprinzip zunehmend Eingang in die internationale Umweltpolitik. So wurde es in der von der UN-Generalversammlung beschlossenen Weltcharta für die Natur (Erdcharta) von 1982 aufgenommen. Des Weiteren ist es im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft von 1992 sowie in der Rio-Deklaration zu Umwelt und Entwicklung (Agenda 21) von 1992 enthalten. Auch die neue EU-Chemikalienpolitik führt in der Verordnung EG Nr.1907/2006 (REACH-VO) im Artikel 1 (Ziel und Geltungsbereich ) aus, dass den Bestimmungen der REACH-VO das Vorsorgeprinzip zugrunde liegt.

Grundsätze für die Anwendung des Vorsorgeprinzips

Durch das Vorsorgeprinzip ermächtigt darf die Rechtsanwendung handeln, obwohl nicht sicher ist, dass die Handlung dem Schutzgut dient. Jede auf ihm basierende Entscheidung ist dabei trotz der unvollständigzureichenden Wissensbasis endgültig und nicht bloß vorläufig. Zwar existiert keine allgemein verbindliche Definition des Vorsorgeprinzips. Für die europäische Gemeinschaftspolitik und die auf ihr beruhenden Politiken der Mitgliedsstaaten gibt jedoch die Mitteilung der Europäischen Kommission zur Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips[2] einen gemeinsamen Rahmen vor, der mit den politischen Diskussionen auf der internationalen Ebene in Übereinstimmung ist.

Dort wurden zur Anwendung des Vorsorgeprinzips drei Grundsätze formuliert:

  1. Die Anwendung des Prinzips sollte auf einer möglichst umfassenden wissenschaftlichen Bewertung beruhen, in der auch das Ausmaß der wissenschaftlichen Unsicherheit ermittelt wird
  2. Vor jeder Entscheidung für oder gegen eine Tätigkeit sollten die Risiken und die möglichen Folgen einer Untätigkeit bewertet werden
  3. Sobald die Ergebnisse der wissenschaftlichen Bewertung und/oder der Risikobewertung vorliegen, sollten alle Betroffenen in die Untersuchung der verschiedenen Risikomanagement-Optionen einbezogen werden.

Literatur

Zitierte Literatur

  1. Georg Ludwig Hartig: Anweisung zur Taxation und Beschreibung der Forste. Band 1: Theoretischer Theil. (2., ganz umgearbeitete und vermehrte Auflage.) Heyer, Gießen 1804
  2. Europäische Kommission: Mitteilung der Kommission vom 2. Februar 2000 zur Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips. Brüssel, 2000.

Weiterführende Literatur

  • Werner Miguel Kühn: Die Entwicklung des Vorsorgeprinzips im Europarecht. In: Zeitschrift für europarechtliche Studien, 4 (2006), S. 487 – 520;
  • Sascha Werner: Das Vorsorgeprinzip – Grundlagen, Maßstäbe und Begrenzungen. In: Umwelt- und Planungsrecht 21/9 (2001), S. 335 – 340, ISSN 07-2173-9-0
  • Thomas Derungs: Selektive Blindheit. Befürchtungen der Öffentlichkeit und Sicherheitsentscheidungen nach dem Vorsorgeprinzip. In: Forum Recht 3 (2008), S. 101 – 103; [1]
  • European Environment Agency: Late Lessons from Early Warnings: the Precautionary Principle 1896–2000. Environmental Issue Report, 22 (2002); [2]
  • Gary E. Marchant, Kenneth L. Mossman: Arbitrary and Capricious: The Precautionary Principle in the European Union Courts. American Enterprise Institute Press 2004, ISBN 08-4474-189-2; [3]
  • Harremoës, Poul, David Gee, Malcolm MacGarvin, Andy Stirling, Jane Keys, Brian Wynne, Sofia Guedes Vaz. The Precautionary Principle in the 20th Century: Late Lessons from Early Warnings, Earthscan, 2002. Review, Nature, 419, Oct 2002, 433
  • Sunstein, Cass R. (2005), Laws of Fear: Beyond the Precautionary Principle. New York: Cambridge University Press. ISBN 0521848237. (deutsch: Gesetze der Angst: Jenseits des Vorsorgeprinzips. Suhrkamp Verlag, 2007. ISBN 3518584790.)

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