Vollkommene Gesellschaft

Vollkommene Gesellschaft

Eine societas perfecta ("Vollkommene Gemeinschaft" oder "Vollkommene Gesellschaft") ist in der politischen Philosophie, der katholischen Ekklesiologie und dem katholischen Kirchenrecht eine in dem Sinn autarke oder unabhängige Gemeinschaft, dass sie alle zur Verwirklichung ihres (umfassenden) Ziels notwendigen Mittel und Bedingungen selbst besitzt und keiner übergeordneten Gemeinschaft unterworfen ist. Diese Unabhängigkeit wurde in der Verwendungsgeschichte des Begriffs im Wesentlichen der Polis (Stadtstaat), dem Staat und der Kirche zugeschrieben.

Ausgangspunkt der Begriffsentwicklung war die politische Philosophie des Aristoteles, der die aus mehreren Dörfern bestehende Polis als "vollkommene Gemeinschaft" (κοινωνία τέλειος) bezeichnete, "die gewissermaßen die vollkommene Autarkie besitzt". Das Ziel der Polis ist das gute Leben und sie besteht von Natur.[1]

Die Idee der "vollkommenen Gemeinschaft" wurde in der mittelalterlichen Philosophie wieder aufgenommen. In direktem Bezug auf Aristoteles nennt etwa Thomas von Aquin den Staat ("civatas"[2]) eine vollkommene Gemeinschaft ("communitas perfecta").[3]

Während in der naturrechtlichen Tradition der Aufklärungszeit, wie z.B. bei Pufendorf, dezidiert nur der Staat die wesentlichen Eigenschaften einer societas perfecta besitzt, dem die Kirche deshalb untergeordnet sein muss, wurde in der katholischen Philosophie und Theologie mehr und mehr auch der Kirche der Charakter einer societas perfecta zugeschrieben. Die damit gegebene wechselseitige Unabhängigkeit von Kirche und Staat sicherte der Kirche (theoretisch) die Freiheit vor den wachsenden Ansprüchen des Staates auf Einmischung in kirchliche Angelegenheiten.

Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die Übernahme dieser Lehre der zwei "vollkommenen Gesellschaften" (Kirche und Staat) durch das kirchliche Lehramt durch Papst Pius IX. und vor allem Leo XIII.. In seiner Enzyklika Immortale Dei führt Leo XIII. etwa in Bezug auf die Kirche aus:

[...] sie ist eine vollkommene Gesellschaft eigener Art und eigenen Rechtes, da sie alles, was für ihren Bestand und ihre Wirksamkeit notwendig ist, gemäß dem Willen und kraft der Gnade ihres Stifters in sich und durch sich selbst besitzt. Wie das Ziel, dem die Kirche zustrebt, weitaus das erhabenste ist, so ist auch ihre Gewalt allen anderen weit überlegen, und sie darf daher weder als geringer betrachtet werden als die bürgerliche Gewalt, noch dieser in irgendeiner Weise untergeordnet werden.[4]

Den zwei vollkommenen Gesellschaften entsprechen zwei Gewalten, die kirchliche und die staatliche:

Der einen obliegt die Sorge für die göttlichen Belange, der anderen für die menschlichen. Jede ist in ihrer Art die höchste: jede hat bestimmte Grenzen, innerhalb derer sie sich bewegt, Grenzen, die sich aus dem Wesen und dem nächsten Zweck jeder der beiden Gewalten ergeben.[5]

Während also grundsätzlich die harmonische Beziehung zwischen Staat und Kirche über die klare Abgrenzung ihrer Verantwortungsbereiche gesichert wird, muss es für Fälle, in denen sich diese Bereiche überschneiden, eine Ordnung zwischen den zwei Gewalten geben. Um diese Ordnung zu verdeutlichen vergleicht Leo das Verhältnis von Staat und Kirche mit dem Verhältnis von Leib und Seele.[6]

Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil war die Lehre von den zwei vollkommenen Gesellschaften in der von Leo XIII. aufgenommenen Fassung in der katholischen Theologie und dem katholischen Kirchenrecht bestimmend.

Im Zweiten Vatikanischen Konzil selbst wie auch im neuen Kirchenrecht wird die Lehre explizit nicht mehr erwähnt. In der modernen, nachkonziliaren katholischen Theologie spielt sie - außer als negative Hintergrundsfolie - kaum noch eine Rolle.

Ob das Konzil selbst die Lehre von den zwei vollkommenen Gesellschaften auch inhaltlich aufgegeben hat, ist umstritten. Jedenfalls hat sich Papst Paul VI. auch nach dem Konzil noch direkt auf sie bezogen. In dem Motu proprio Sollicitudo omnium ecclesiarum zu den Aufgaben der päpstlichen Legaten (1969) fasst er die Lehre kurz zusammen:

Es kann nicht bestritten werden, daß die Aufgaben von Kirche und Staat verschiedenen Ordnungen angehören. Kirche und Staat sind in ihrem jeweiligen eigenen Bereich vollkommene Gesellschaften. Das bedeutet: Sie verfügen über ihre eigene Rechtsordnung und über sämtliche dazu erforderliche Mittel. Sie sind auch, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit, zur Anwendung ihrer Gesetze berechtigt. Andererseits darf aber nicht übersehen werden, daß beide um das Wohl desselben Menschen bemüht sind, nämlich des Menschen, der von Gott berufen ist, das ewige Heil zu erlangen.[7]

Einzelnachweise

  1. Aristoteles, Politik 1252b 27-30
  2. Zur Übersetzung von "civitas" mit "Staat" an dieser Stelle vgl. Aroney, Nicholas, "Subsidiarity, Federalism and the Best Constitution: Thomas Aquinas on City, Province and Empire" . Law and Philosophy, Vol. 26, pp. 161-228, 2007
  3. Summe der Theologie I-II q 90 a 3
  4. Leo XIII.: Rundschreiben « Immortale Dei » in: Mensch und Gemeinschaft in Christlicher Schau, Freiburg (Schweiz) 1945, S. 571-602, Randnummer 852
  5. ebd. Randnummer 857
  6. Vgl. ebd. Randnummern 858-860
  7. Zitiert nach Listl, Kirche und Staat, S. 227

Quellen

  • Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat – Gesellschaft – Kirche, in: Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche III, Freiburg 1990, S. 113–211
  • Joseph Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, Berlin 1978

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