Virtuelle Parteigliederung

Virtuelle Parteigliederung

Als Virtuelle Ortsvereine, Virtuelle Landesverbände, Internet-Landesverbände oder „17. Landesverband“ bezeichnet man Projekte verschiedener Parteien, über das Internet unterhaltene Gliederungen zu betreiben und so Menschen einzubinden, die an materiellen Parteigliederungen nicht teilnehmen können oder wollen. Vor allem Ende der 1990er Jahren wurden die nötigen Techniken für solche Versuche der breiten Masse zugänglich. Grundsätzlich nahmen die Virtuellen Parteigliederungen Ansätze vorweg, die heute als „Web 2.0“ bekannt wurden. Dazu gehört Kommunikation und Interaktion der Mitglieder und Besucher selbst über das Internet „auf Augenhöhe“. Parteikommunikation fand damals vorrangig über Zeitschriften, Newsletter und die allgemeinen Medien statt, zu denen vorrangig Funktionäre und Abgeordnete Zugang hatten. Das einfache Mitglied konnte sich meist nur auf Versammlungen und Parteitagen zu Wort melden, bei denen meist Funktionäre privilegierte Redezeit erhalten und der einzelne Beitrag oft untergeht:

„Was sich hier mit der Abkehr von Territorialprinzip und Vollmitgliedschaft abzeichnet, ist im Hinblick auf die herkömmliche Parteiorganisation geradezu revolutionär.“

Leggewie/Bieber 2001[1]

Inhaltsverzeichnis

VOV der SPD

Geschichte

Der „Virtuelle Ortsverein“ der SPD gilt als Vorreiter der digitalen Parteiorganisationen.[1] Auf Initiative des damaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Jörg Tauss, der am 16. Juni 1995 einen Gründungsaufruf startete, wurde der VOV als Zusammenschluss von Menschen gegründet, die der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) angehören oder ihr nahestehen und (auch) über das Internet zusammenarbeiten wollen. Die Mitgliedschaft steht allen offen, die sich zu den Grundwerten und Grundsätzen der SPD bekennen.

Parteirechtliche Stellung

Im Einvernehmen mit der SPD führt der Arbeitskreis den Namen „Virtueller Ortsverein der SPD – VOV“; der Arbeitskreis ist jedoch kein Ortsverein im Sinne des Statuts der SPD und ist somit auf Parteitagen nicht antragsberechtigt.[1]

Trotzdem versteht sich der VOV als Teil der Parteiarbeit; die organisatorische Grundlage sind die Grundsätze für die Tätigkeit der Projektgruppen in der SPD.

Kommunikation

Die Mitglieder des VOV kommunizieren direkt mit Hilfe von internen Mailinglisten und öffentlich in Newsgroups. Die politischen Diskussionen beschäftigen sich dabei schwerpunktmäßig mit rechnergestützter Kommunikation und der Entwicklung der Informationsgesellschaft, schließen aber auch andere Themen nicht aus. Insbesondere die Möglichkeiten elektronischer Medien für die politische Arbeit werden erforscht/erprobt, u. a. durch die VOV-interne demokratische Selbstorganisation mit Abstimmungen und Wahlen. Die Erarbeitung von Konzepten und Positionen zur Entwicklung der Informationsgesellschaft mit ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen ist ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit. Das erlangte Know-how wird zur Öffentlichkeitsarbeit verwendet und den verschiedenen Gliederungen der SPD zur Verfügung gestellt.

Vorsitzende dieser Arbeitsgemeinschaft sind Sascha Boerger und Maritta Strasser.

LV17 der PDS

Geschichte

Der Internet-Landesverband wurde im Jahr 2001 von Pia Maier (MdB) und weiteren PDS-Mitgliedern angeregt, die teilweise auch bei dem Internet-Projekt dol2day mitwirkten. Als Schirmherr des Projektes trat bald der damalige Parteivorsitzende Lothar Bisky auf. Wortführer wurden schnell Arne List (PDS Kiel), Gert Selig (Wahlkreismitarbeiter der damaligen Bundestagsvizepräsidentin Petra Bläss), Jutta Vieth (PDS NRW) sowie Helge Meves,[2] welcher von Anfang an als „Motor“ des LV17 galt und später zu den Mitbegründern der WASG gehörte. Der LV17 hatte ca. zwölf Mitglieder, die bei keinem Kreisverband der PDS, sondern direkt beim Bundesvorstand gemeldet waren. Nachdem Meves Ende 2003 eine Anfechtung gegen die LV17-Vorstandswahlen bei der Bundesschiedskommission der PDS verlor[3] und sich keine Mitglieder fanden, den LV17 weiter zu führen, wurde der Landesverband 17 im Jahr 2004 vom PDS-Bundesvorstand aufgelöst.

Parteirechtliche Stellung

Der LV 17 bezeichnete sich Zeit seiner Existenz als „Landesverband in Gründung“, statuarisch angesiedelt beim Status der Bundesarbeitsgemeinschaften der PDS. Auf dieser unklaren Grundlage entsandte der LV17 für kurze Zeit auch Delegierte an den Bundesparteitag und in den Bundesparteirat.

Kommunikation

Der LV 17 kommunizierte über Mobiltelefonie, einen anonymisierten Mailverteiler, einen wöchentlichen Vorstands-Chat in unterschiedlichen Implementierungen, sowie ein großenteils öffentliches Diskussionsforum auf der zugehörigen Website.

FDP LV Net

Geschichte

Die Gründung geht auf Alexander Graf Lambsdorff zurück, der sie im Jahr 2000 anregte und heute Ehrenvorsitzender des LV Net ist. Seine erste Stellvertreterin, Maja Pfister, war von 2005 bis 2010 Vorsitzende. Dieses Amt hat 2010 Manuel Höferlin MdB übernommen, der den FDP LV Net heute als dessen Vorsitzender führt und repräsentiert.

Parteirechtliche Stellung

Der Internetlandesverband ist ein Landesverband im Sinne des Statuts, wenn auch mit eingeschränkten Rechten.[1] Die Partei gibt auf ihren offiziellen Seiten an, 17 Landesverbände zu haben. Die Mitglieder des Vorstandes sind automatisch Delegierte für den Bundesparteitag. Der Vorsitzende ist automatisches Mitglied des FDP-Bundesvorstandes.

Kommunikation

Der FDP LV Net verfügt über eine Website unter der URL lvnet.fdp.de. Die Kommunikation findet über die liberale Online-Plattform my.fdp.de statt. Dort hat der FDP LV Net einen eigenen geschützten Bereich, in dem die Mitglieder diskutieren können und virtuelle Parteitage abhalten. Für die Sicherung der Mitgliederdaten sorgt ein „Datenschatzmeister“. Die Satzung des FDP LV Net sieht die Unterscheidung zwischen stimmberechtigten Mitgliedern und diskussionsberechtigten Fördermitgliedern vor. Diese Unterscheidung wurde bisher nicht umgesetzt, sodass der LV Net bislang nur aus stimmberechtigten Mitgliedern besteht.[1]

Andere Konzepte

CDU

Die CDU betrieb nie einen virtuellen Ortsverein, dafür allerdings die virtuelle Plattform Wahlkreis 300. Diese war bereits in ihrer Beta-Phase Plagiatsvorwürfen ausgesetzt und wurde aus diesem Grund von Mitgliedern der Politcommunity dol2day unterwandert.[4] Die Plattform ist mittlerweile deaktiviert. Seit August 2007 gibt es allerdings www.cdu-politik.de, ein Blog/Forum, das von Basismitgliedern der CDU betrieben wird.

WASG

Ohne es statuarisch zu verankern betrieb die junge Partei WASG schon bald nach ihrer Gründung ein umfangreiches Intranet mit Diskussionsangeboten, über das sich teilweise Arbeitsgemeinschaften und Anträge zu Parteitagen entwickelten und koordinierten. Das teils komplett bzw. parteiöffentliche Angebot wurde sukzessive ausgebaut.

NPD

Die NPD betreibt keinerlei solche Aktivitäten. Allerdings ist das parteiunabhängige Störtebeker-Netz in ähnlicher Funktion für die rechtsextreme Szene.

Aufnahme der Internet-Parteigliederungen in der Öffentlichkeit

Die Internet-Gliederungen errangen keine dauerhafte Medienbeachtung. Vor allem in der Anfangszeit fanden sie Erwähnung in der allgemeinen Presse, in Fachmagazinen zu Internet und Computern, in parteinahen Publikationen sowie in den aufkommenden Internet-Magazinen sowie ab 2002 in „Blogs“.

Teilweise wurde dem Konzept einer speziellen Internetgliederung mit Kritik begegnet.

Spielwiese

Einige Kritiker sehen in Internet-Landesverbänden Spielwiesen für Personen, die sich in normalen Parteisituationen aufgrund persönlicher Schwächen nicht durchsetzen. Sie drängen in virtuelle Plattformen, wo der Zugang leicht und die Konkurrenz kleiner ist, wo qualifiziertere Personen aber auch keinen materiellen Anreiz finden, Irrläufer zu verdrängen. Diese Kritik galt vor allem dem Internet-Landesverband der PDS.

Ungünstiges/veraltetes Konstrukt

Andere Kritiker halten die Idee einer speziellen Internetgliederung als Ausnahme von der Territorialgliederung für ein ungünstiges oder veraltetes Konstrukt. Einerseits haben sich auch in den klassischen Parteistrukturen mittlerweile Emaillisten, Groupwaresysteme, Blogs usw etabliert. Die klassischen Parteimedien werden teilweise von einer Online-Ausgabe oder einem Forum/Blog begleitet. Dies stellt den speziellen Sinn einer ausschließlich virtuellen Sondergliederung in Frage. Die unklare Aufgabenzuteilung irgendwo zwischen „Erprobungsstelle neue Arbeitsmittel“, „Kompetenzzentrum Onlinethemen“ und „digitales Aushängeschild“ frustrieren teilweise die Mitglieder der Onlinegliederungen und machen es den Parteifunktionären schwer, die Internetgliederungen konstruktiv in die Parteiarbeit einzubinden. Insbesondere für Mitglieder mit Karriereambitionen sind diese Plattformen unattraktiv, wenn sie – wie bei der PDS – den Zugang zu klassischen Parteistrukturen mit „echten“ Ämtern und Mandaten erschweren.

Weitere Entwicklungen

CDU und Linkspartei.PDS haben ihre virtuellen Plattformen mittlerweile wieder aufgegeben. Von den ursprünglich gegründeten Plattformen ist derzeit noch der VOV der SPD und das LV-Net der FDP aktiv. Die virtuellen Gliederungen haben teilweise eine Modernisierung der Parteikommunikation durchsetzen können. Für einen tatsächlichen Einfluss innerhalb der Parteien „scheint die Formalisierung innerhalb bewährter Strukturen unumgänglich zu sein“[1].

Weblinks

Quellen

  1. a b c d e f Claus Leggewie / Christoph Bieber: Interaktive Demokratie. Politische Online-Kommunikation und digitale Politikprozesse, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 41-42/2001)
  2. Helge Meves: Das Netz gehört denen, die es nutzen. In: Trend. Onlinezeitung für die alltägliche Wut. Nr. 10/2001, Oktober 2001.
  3. sozialisten.de: Nachwahlen zum SprecherInnenrat des 17. Landesverbandes i.G. nicht statutengerecht, 1. November 2003.
  4. Spiegel Online: Wer falsch sät, erntet Ärger, 2. Mai 2002.

Literatur


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