Violoncello piccolo

Violoncello piccolo

Der Begriff Violoncello piccolo war im Barock über kürzere Zeit geläufig und bezeichnete damals mit großer Wahrscheinlichkeit ein fünfsaitiges Violinstrument in Armhaltung. Im Zuge der historisierenden Aufführungspraxis wird dieses von der Bratsche abgeleitete Instrument heute meist als Viola pomposa benannt, das Violoncello piccolo meint heute hingegen ein fünfsaitiges Violoncello in Kniehaltung. Es gibt nur wenige historische Quellen, so dass der Sachverhalt bisher nicht eindeutig aufgeklärt ist.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsbestimmung

18. Jahrhundert

Violoncello piccolo

Der Begriff Violoncello piccolo findet sich erstmals ab 1724 in Abschriften von sieben Kantaten von Johann Sebastian Bach als Soloinstrument jeweils einer Arie der Kantate.

Im Musikalischen Lexikon von 1732 führt J. G. Walther diesen Begriff nicht an. Er gibt aber im Artikel Violoncello folgendes an: „Die Bassa Viola und Viola di Spala […] sind kleine Bass-Geigen […] mit 5, auch wohl 6 Saiten, worauf mit leichterer Arbeit als auf den großen Maschinen allerhand geschwinde Sachen […] machen kann, inbesonderheit hat die Viola die Spala oder Schulter-Viole einen großen Effekt beim Accompagnement […] Die viersaitigen werden wie eine Viola CGda gestimmt und gehen bis ins a.“

Viola da spalla

Einige Jahre später, 1766, erscheint der Begriff in einem Notenkatalog von Breitkopf in folgender Form: „Violoncello piccolo o Violoncello da braccia.“ Der Katalog weist also auf ein Instrument in Armhaltung hin.

Das Historisch-Biographische Lexikon der Tonkünstler von 1790, herausgegeben von Ernst-Ludwig Gerber, schreibt im Artikel Viola pomposa Folgendes: „Die steife Art, womit zu seiner Zeit die Violonzells behandelt wurden, nöthigten ihn, bey den lebhaften Bässen in seinen Werken, zu einer Erfindung, der von ihm so genannten Viola pomposa; dies bequeme Instrument setzte den Spieler in den Stand, die vorhandenen hohen und geschwinden Paßagien, leichter auszuführen.“

Die Bach-Kantaten sind die bisher einzig sicher bekannten Quellen von Musik für dieses Instrument. Die Anforderung an das Instrument sind unterschiedlich: Der höchste Ton erfordert mit a1 in einer Kantate, b1 in drei Kantaten, h1 in einer Kantate und c2 in zwei Kantaten eine Saite, die höher gestimmt ist als die oberste Saite a des Violoncello. Der tiefste Ton des Ambitus unterscheidet sich mehr; in keiner Kantate sind unterhalb von G längere Passagen zu spielen, die einen kräftigen Bass verlangen würden. Die Kantaten BWV 6, BWV 115 und BVW 180 sind in Alt- und Bass-Schlüsselung (analog der Schlüsselung in der 6. Suite für Violoncello von Bach), die Kantaten BWV 41, BWV 49 und BWV 85 sind im oktavierten Violinschlüssel rsp. für tiefere Töne im Bass-Schlüssel notiert und entsprechen somit der Notation von Violoncellomusik, wie sie in der Vorklassik aufkam, aber zu dieser Zeit noch nicht üblich war. Die Kantate Er rufet seinen Schafen mit Namen, BWV 175, entspricht mit Tenor-Bass-Schlüsselung der für das Violoncello üblichen. Diese Kantate unterscheidet sich von den übrigen auch darin, dass die Stimme auf einem viersaitigen Violoncello mit damaliger Technik ohne Einschränkungen spielbar ist.

Es gibt also seit der Entstehung der Kantaten einige Belege für ein fünfsaitiges Instrument in Armhaltung. Der etwas differierende Ambitus in den verschiedenen Kantaten könnte darauf hindeuten, dass sich die Instrumente der Kantaten geringfügig, z. B. in ihrer Größe, unterschieden; auch ist die Bezeichnung „Violoncello piccolo“ für die Kantate BWV 175 allenfalls aus klanglichen, nicht aber aus spieltechnischen Gründen nachvollziehbar.

Somit dürften im 18. Jahrhundert Violoncello piccolo, Viola pomposa und Viola da Spal(l)a ähnliche Instrumente gewesen sein, fünfsaitige Bratschen in der Stimmung CGdae1.

20. Jahrhundert

In den letzten Jahren gab es Einspielungen namhafter Barockcellisten (Anner Bylsma, Pieter Wispelwey, Christophe Coin und anderen) mit Violoncello piccolo. Gemeint ist heute ein fünfsaitiges Violoncello, meist mit normaler oder geringfügig kleinerer Mensur. Eingespielt wurden die entsprechenden Bach-Kantaten, die 6. Violoncellosuite von Bach und auch andere Musik.

Violoncelle à cinq cordes (fünfsaitiges Violoncello mit großer Mensur)


Für ein solches fünfsaitiges Violoncello gibt es historische Belege.

Das erste von Antonio Stradivari gefertigte (heute erhaltene) Violoncello ist 1667 datiert, also zwei Jahre nach dem ersten musikgeschichtlichen Beleg des Begriffs Violoncello in einer Sammlung von Arresti. Es ist im Grunde ein Hybrid aus Bassgambe und Bassgeige, aufgrund seiner Größe ein Bass-Instrument, und im Wirbelkasten mit Löchern für fünf Wirbel, und damit für fünf Saiten gefertigt. Fünfsaite Bässe sind z. B. im Syntagma musicum als Bas-Geig de bracio schon 1600 beschrieben. In den folgenden Jahrzehnten gab es jedoch keine historischen Belege für ein fünfsaitiges Instrument der Faktur und Stimmung, wie sie heute als Violoncello piccolo bezeichnet wird.

Musikalische Hinweise finden sich in den in Abschriften erhaltenen sechs Suiten für Violoncello solo von 1719.

Vermutet werden kann, dass Bach angesprochen hat, was zur Entstehungszeit der Suiten (um 1720) unter dem Begriff Violoncello verstanden werden konnte, nämlich in den Suiten 1 bis 4 ein Instrument ähnlich dem heute üblichen, in der fünften Suite ein Instrument in der Stimmung, wie sie bis 1700 in Bologna üblich war (CGdg), und in der sechsten Suite ein „violoncelle a 5 acordes CGdae1“, ein fünfsaitiges Instrument. Die Suite benötigt an mehreren Stellen einen vollen Bass, was auf ein großes Instrument (in Kniehaltung) hindeutet.

Es gibt fast keine Belege für den Gebrauch eines solchen Instruments in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert. Erst eine Karikatur des Londoner Cellovirtuosen Cervetto um 1750 als „Nosey“ (British Library/British Museum X.0800/667) zeigt diesen mit einem fünfsaitigen Violoncello. Manche Cellomusik des Hochbarock, z. B. von Michel Corrette und von Georg Philipp Telemann, war möglicherweise für dieses Instrument gedacht, weil sie technisch ungewöhnlich aus dem Rahmen fällt und hohe Lagen erfordert, die mit den damaligen Instrumenten und der damaligen Technik nur unbequem ausführbar sind.

Das fünfsaitige Violoncello ist bauartbedingt leiser als das viersaitige. Mit dem sich entwickelnden Spiel in höheren Lagen kam es offenbar nach1750 außer Gebrauch.

Da Viola pomposa und Violoncello piccolo heutiger Bezeichnung jedoch gleich gestimmt sind und durch die Fünfsaitigkeit ähnlich klingen (fein, näselnd, süß), muss es musikalisch keine Einwände geben, sie für dieselbe Aufgabe im Wechsel zu verwenden.

Klangbeispiel für ein "Violoncelle à cinq cordes": Louis Couperin, Prélude non mesuré

Literatur

Primärliteratur

  • Michel Corrette: Les délices de la solitude. Sonates, pour le Violoncelle, Viole, Basson. Avec la Basse Continue chiffrée Oeuvre XX. Paris 1739.
  • Georg Philipp Telemann: Der Getreue Musikmeister. Sonate für Violoncello Solo D-Dur. Hamburg 1728.
  • Johann Gottfried Walther: Musikalisches Lexikon. Bärenreiter, Kassel 1953, ISBN 3-7618-0807-0, S. 637 (Reprint der Ausgabe Leipzig 1732).

Sekundärliteratur

  • Friedrich Blume (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe herausgegeben von Ludwig Finscher. Bärenreiter, Kassel u. a, S. 1 1025, 6 Tafel 25, 12 1526, 13 1683 ff.
  • David D. Boyden: Die Geschichte des Violinspiels von seinen Anfängen bis 1761. Schott, Mainz 1971, S. 49 ff.
  • Ulrich Drüner: Violoncello piccolo und Viola pomposa bei Johann Sebastian Bach. Zu Fragen von Identitat und Spielweise dieser Instrumente. In: Neue Bachgesellschaft (Hrsg.): Bach-Jahrbuch. Vol. 73, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 1987, ISSN 0084-7682, S. 85–112.
  • Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach. Die Kantaten. Bärenreiter, Kassel u.a. 8. Auflage 2000, ISBN 3-7618-1476-3, S. 55 f.
  • Ernst Ludwig Gerber: Lexikon der Tonkünstler. Leipzig 1814.
  • W. Henry Hill, Arthur F. Hill, Alfred E. Hill: Antonio Stradivari. Dover Publications, New York 1963, ISBN 0-486-20425-1, S. 114 ff.
  • Paul R. Laird: The Baroque Cello Revival. Scarecrow Press, 2004, ISBN 978-0810851535, S. 12 f.
  • Annette Otterstedt: Die Gambe. Kulturgeschichte und praktischer Ratgeber. Bärenreiter, Kassel u.a. 1994, ISBN 978-08108515353-7618-1152-7, S. 85.

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