Vierte Wand

Vierte Wand

Die vierte Wand ist die zum Publikum hin offene Seite einer Zimmerdekoration auf einer Guckkastenbühne. Sie wurde zum zentralen Begriff in der Theorie des naturalistischen Theaters gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Inhaltsverzeichnis

Erklärung

Innerhalb der Bühnenhandlung ist die „vierte Wand“ eine Wand, weil die Theaterfiguren sie als Wand behandeln, also nicht durch sie hindurchblicken und sie nicht durchschreiten. Für die Schauspieler − im Unterschied zu den gespielten Figuren − ist sie jedoch keine Wand, weil sie sich der Beobachtung durch das Publikum bewusst sind. Wenn ein Schauspieler allerdings „aus der Rolle fällt“ und auf Beifalls- oder Missfallenskundgebungen des Publikums eingeht, löst sich die vierte Wand auf.

Geschichte

Im Theater der griechischen Antike stehen die Personen der Handlung oft im Zwiegespräch mit dem Chor, der eine Mittelstellung zwischen ihnen und dem Publikum einnimmt. Eine scharfe Trennung zwischen dem „Hier und Jetzt“ der Aufführungssituation und der aufgeführten Handlung wird damit grundsätzlich vermieden.

Dies ändert sich in der Neuzeit zunächst nicht grundsätzlich: In Francis Beaumonts Drama The Knight of the Burning Pestle (1607) etwa hört man drei Zuschauer beständig in die Szene rufen und von den Schauspielern Änderungen am Stück fordern, oft mit lächerlichen Resultaten. Im spanischen und englischen Theater der Renaissance sowie im volkstümlichen Barocktheater (das zur Zeit der Romantik etwa von Ludwig Tieck wieder aufgegriffen wurde) wird mit verschiedenen Fiktionsebenen oder mit Rahmenhandlungen gespielt, die sich mit ihren Binnenhandlungen vermischen. Die Abgrenzung zwischen diesen Ebenen wird nie ernsthaft zur „Wand“.

Das „geschlossene Drama“ der französischen Klassik vermeidet erstmals solche Illusionsbrüche, unter anderem durch eine klare Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum. Dennoch blieb es eine Gewohnheit der Schauspieler vor allem im Unterhaltungstheater, zum Publikum zu spielen und dabei aus der Handlung herauszutreten, wie beim Extempore oder beim A-part-Sprechen.

Denis Diderot verurteilte im Jahr 1758 das A-part-Sprechen als verbreitete Unsitte und Unehrlichkeit der Schauspieler und forderte: „Stellen Sie sich am Vorderrand der Bühne eine große Mauer vor, die Sie vom Parterre trennt, und spielen Sie so, als würde sich diese Wand nicht wegbewegen.“ (Discours sur la poésie dramatique)

Voraussetzung für die moderne, naturalistische Vorstellung einer vierten Wand, die im 19. Jahrhundert aufkam, ist der bereitwillige Glaube an etwas offensichtlich Fiktives, der von dem englischen Dichter Samuel Taylor Coleridge 1817 „willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ genannt wurde. Die gemeinsame Imagination sollte nicht mehr bloß nichtig und vergänglich sein (Vanitas). Damit werden Brechungen der vereinbarten Illusion zu einem Verstoß gegen gesellschaftliche „Rahmen“ (im Sinn des Soziologen Erving Goffman).

So wird auch eine „Selbstvergessenheit“ der Autoren und Schauspieler akzeptiert oder gar gefordert: Der Theaterautor Gerhart Hauptmann erklärte etwa, dass er sein Stück Vor Sonnenaufgang (1889) verfasst habe, „ohne an das Publikum nur zu denken, als ob die Bühne nicht drei, sondern vier Wände hätte.“ Auch die Dramatiker August Strindberg und Henrik Ibsen haben sich in diese Richtung geäußert. Die Schauspielmethodik von Konstantin Sergejewitsch Stanislawski forderte von den Schauspielern eine weitgehende Unabhängigkeit von Zuschauerreaktionen.

Im Zuge der Kritik am Naturalismus nach 1900 ist die Konzeption der undurchlässigen, aber inexistenten vierten Wand oft angegriffen worden, so etwa von Wsewolod Meyerhold und Bertolt Brecht (vgl. Verfremdungseffekt). Nicht zuletzt, weil die vierte Wand im Film erheblich effektvoller wirkt, da die Leinwand eine undurchdringlichere Grenze ist als die Bühnenrampe, besann sich das Theater wieder auf Möglichkeiten der Interaktion der Darsteller mit dem Publikum. Walter Benjamin erklärte demgemäß, dass durch die vierte Wand eine Bühnenhandlung zur „Projektion“ werde, deutete also das naturalistische Theater als Vorläufer des Films.

Durchbrechung der vierten Wand

Während die vierte Wand im Theater eine eher offensichtliche Fiktion ist, wird sie im Roman, im Film oder bei Computerspielen vom Leser/Betrachter/Spieler oftmals als unabänderliche Realität empfunden.

Technische Konventionen

Ein Bruch mit Konventionen wird stets als Auflösung der vierten Wand erfahren, auch wenn diese Konventionen technischer Natur sind. Dies ist der Fall bei jeder Virtuellen Realität: Wenn die starre Fotografie zum „Movie“ wird, wenn Stummfilm zu Tonfilm oder Schwarzweißfilm zu Farbfilm werden, wenn zu den zwei Dimensionen des Bildes die Dimension des Raums hinzutritt, wenn sich ein ungerührt ablaufender Film plötzlich durch den Zuschauer beeinflussen lässt wie beim Computerspiel – immer scheint das Dargestellte durch diese perfektionierte Technik „realistischer“ zu werden, aus dem Rahmen eines bloß Vorgeführten in die Wirklichkeit herauszutreten. Bis man sich wiederum an die neuen Konventionen gewöhnt hat.

Eine immer realistischere Darstellung unter der Voraussetzung, dass alles Täuschung bleibt, ist bereits Ziel der Vanitas-Stillleben des 17. Jahrhunderts. Die Vanitas besteht darin, dass die vierte Wand zwischen Betrachter und Dargestelltem bestehen bleibt. Die zahlreichen Allegorien der fünf Sinne auf den Gemälden jener Zeit haben es an sich, dass man die Musik der gemalten Musikanten geradezu hören kann, den Geruch des gemalten Essens geradezu riechen kann, die Weichheit des gemalten Fells geradezu spüren kann – aber doch bloß geradezu.

Dramaturgische Konventionen

Eine Figur im Roman oder im Film kann ihre Zuschauer nicht persönlich ansehen und ansprechen, wie es Schauspielern auf der Bühne grundsätzlich möglich wäre. Daher ist es in diesen Medien ein besonders wirkungsvoller Effekt, wenn etwa eine Figur aus der Handlung ausbricht und den für sie nicht sichtbaren Zuschauer vor der Leinwand direkt anspricht. Dieser Kunstgriff wird vor allem für komische und für Horror-Effekte eingesetzt. Er kann auch ein Stilmittel von Krimis sein, wenn etwa der Leser oder Zuschauer um Mithilfe bei der Lösung des Falls gebeten wird. Der Soziologe Erving Goffman hat ihn Downkeying genannt (Frame Analysis, 1974).

Ebenfalls ein Bruch mit Konventionen ist es, wenn die fiktiven Personen entdecken, dass sie nur Teil einer fiktiven Welt sind, etwa in Woody Allens The Purple Rose of Cairo oder in Peter Weirs The Truman Show, um sich dann an den Zuschauer zu wenden beziehungsweise aus ihrer Welt auszubrechen. Der Ausbruch aus einer zugemuteten Theaterrolle oder Sozialen Rolle wird als Bruch mit der vierten Wand verstanden (vgl. Emanzipation).

Dem Theater ähnlicher ist der direkte Blick in die Kamera in vielen Seifenopern im Fernsehen, wenn etwa eine Szene mit einem Zwinkern zum Publikum hin beendet wird, zum Beispiel in Der Prinz von Bel Air. Ebenso gibt es die Möglichkeit, statt mit einer erklärenden Off-Stimme die Handlung mit einer erklärenden Zwischenszene voranzubringen, in der der Zuschauer direkt angesprochen wird, wie in Malcolm mittendrin oder Scrubs - Die Anfänger. Beim Fernsehen werden weitere Konzepte zur Zuschauerbeteiligung im Sinne des interaktiven Fernsehens erprobt, die sich mit der Digitalisierung verbreiten sollen. – Die vierte Wand bleibt insofern bestehen, als eine öffentliche Äußerung nur in Grenzen persönlich gemeint sein kann. Die persönliche Mitteilung statt der öffentlichen ist ein gängiger dramaturgischer Trick, um die vierte Wand scheinbar zu durchbrechen: Ein Beispiel ist die Hauptfigur Jamal im Film Slumdog Millionär (2009), die den Telefonjoker im Millionenspiel wählt, um eine private Unterhaltung zu führen. Die Serie Boston Legal durchbrach die vierte Wand regelmäßig. In einer Episode der dritten Staffel nahm eine der Hauptfiguren, Denny Crane, sogar den Namen der Serie in den Mund.

Comic

Eine Seite von Little Sammy Sneeze (1904–1906), einer Serie von Winsor McCay, einem der ersten Comiczeichner, der bewusst mit den Begrenzungen seines Mediums spielte; hier: Durchbrechen der vierten Wand durch Einbeziehung der Panelrahmung in die Handlung

Im Comic kann die vierte Wand in mehrfacher Weise durchbrochen werden:

  • Zum einen können die Charaktere – ähnlich wie im Theater – den Rahmen der Handlung verlassen und sich direkt an den/die Leser/Betrachter wenden.
  • Zum anderen können auch die Elemente des Mediums selbst direkt in die fiktionale Realität eingreifen. Denkbare Beispiele hierfür wären etwa das Durchbrechen der (üblicherweise als imaginäre Schranke zwischen Charakteren und Leser dienenden) Panel bzw. Gutter durch
  • strukturierende Bildelemente,
  • die (gezeichnete) Hand oder Person des Zeichners, oder
  • ins Papier des Comics eingebettete spiegelnde Materialien, durch die sich der Betrachter selbst im Interieur der Handlung wiederfinden kann.
Beispiele
  • Die zusammenbrechende Panel-Begrenzung von Winsor McCays Little Sammy Sneeze (siehe nebenstehendes Bild) fällt auf dessen Protagonisten, nachdem sein Niesen die Trennlinie zwischen Comicfigur und Betrachter, sozusagen die vierte Wand, zum Einsturz gebracht hat.
  • Das Cover zur Ausgabe 31 des Superheldencomics The Sensational She-Hulk vom September 1991 zeigt dessen Autor John Byrne im metafiktionalen Dialog mit der Herausgeberin Renée Witterstaetter, eingebettet in eine fiktive Handlung (Die Comicfigur She-Hulk entführt den lässig über ihre Schulter geworfenen John Byrne). Mit der Grenze zwischen Realität und Fiktion wird hier zugleich im metaphorischen Sinne die vierte Wand aufgehoben.
  • Die Figur Deadpool des Marvel Verlags wendet sich häufig an den Leser und versorgt diesen zum Beispiel mit Hintergrundinformationen. Außerdem erwähnt er häufiger Autoren und Zeichner, beispielsweise wenn diese für den Tod einer Figur verantwortlich sind. Als er einmal von Captain America halluziniert: "Schwindler, den hat Ed(McGuiness) getötet! Zeig den Ausweis!".
  • Die Figur im untenstehenden Comic Strip wendet sich direkt an den Leser/Betrachter und durchbricht so die vierte Wand.

Beispiel für einen Comic-Strip

Einige der Techniken im Comic zum Durchbrechen der vierten Wand lassen sich problemlos auf den Zeichentrickfilm übertragen.

Soziale Bedeutung

Im übertragenen Sinn, über das Theater hinaus, bezeichnet die vierte Wand eine bürgerliche Realitätsvorstellung, die im 19. Jahrhundert aufkam. Sie zeigt sich in Situationen, wo dem planmäßig Ablaufenden eine größere Wirklichkeit zugestanden wird als dem Offensichtlichen: Die bloße Beobachtung von Unfällen oder Gewalttaten in der Öffentlichkeit ohne Einschreiten gibt ihnen etwas ähnlich Fiktives wie Theateraufführungen, Bildern in Zeitungen oder auf Monitoren. Das Offensichtliche, aber Außerplanmäßige wird auf diese Weise ausgegrenzt aus einer Wunschwelt, in der Ordnung herrschen soll und die aufgrund ihrer Unwirklichkeit sehr verletzlich ist (vgl. Hans Christian Andersens Des Kaisers neue Kleider).

Gegen dieses zivilisatorische Verhalten wandte sich etwa Augusto Boal mit seinem „Theater der Unterdrückten“. Die medienwirksamen Aktionen der Medienguerilla sowie des modernen Terrorismus bedienen sich ähnlicher Mittel; letztere allerdings nicht auf aufklärerische, sondern auf zerstörerische Art.

Literatur

  • Walter Benjamin: Versuche über Brecht. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Rudolf Tiedemann. 8. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-10172-2 (Edition Suhrkamp 172).
  • Heinz Geiger, Hermann Haarmann: Aspekte des Dramas. Eine Einführung in die Theatergeschichte und Dramenanalyse. 4. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, ISBN 3-531-22147-7 (WV-Studium 147 Literaturwissenschaft).
  • Erving Goffman: Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-518-27929-8 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 329).
  • Johannes Friedrich Lehmann: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Rombach, Freiburg im Breisgau 2000, ISBN 3-7930-9233-X (Rombach Wissenschaften. Reihe Cultura 12), (Zugleich: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 2000).

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