Verzuiling

Verzuiling

Mit Verzuiling (Versäulung) bezeichnet man vor allem in den Niederlanden einen konfessionell begründeten besonderen Partikularismus. Im „versäulten“ sozio-politischen System lebten religiös, sozial und kulturell definierte Gruppen nebeneinander her und hatten parallele soziale Organisationen (Kirchengemeinden, Bildungsanstalten, Volksbanken, Kammern und andere mehr). In den Niederlanden wird zwischen einer christlich-protestantischen (calvinistischen), einer katholischen, einer sozialistischen und der residualen neutralen oder allgemeinen Säule unterschieden.

Seine Hochzeit hatte das System in der Zeit von 1920 bis 1970, überstand also auch den Zweiten Weltkrieg unbeschadet, trotz der entgegenstrebenden Bemühungen in der Nachkriegszeit. Sie haben in einer Art „freiwilligen Apartheid“ nebeneinander gelebt, um soeverein in eigen kring, „souverän im eigenen Milieu“ (Abraham Kuyper), sein zu können. Die notwendige Zusammenarbeit zwischen den Säulen fand vor allem auf der Ebene der Eliten statt.

Inhaltsverzeichnis

Konfessionelle Wurzeln

Die stark repressive Politik der Habsburger hatte das junge Luthertum aus den Niederlanden ferngehalten, bis in der Folge des Bildersturms (1566) der Calvinismus Fuß fasste und während des Achtzigjährigen Krieges (1568–1648) zur vorherrschenden Konfession wurde. Nach der Vertreibung der Habsburger nahm der „Statthalter“ (also ursprünglich der Vertreter des Monarchen) eine vor allem militärische, aber auch politische Vormachtstellung ein. Die Statthalter aus dem Hause Oranien-Nassau waren wie die Bevölkerungsmehrheit Calvinisten, während die katholischen Gebiete, die den Habsburgern abgerungenen Generalitätslande, wie Kolonien verwaltet wurden. Zudem gab es Strömungen, die sich den Ideen des Humanismus und später der Aufklärung verpflichtet fühlten.

Im 19. Jahrhundert kam es zu einer Spaltung des niederländischen Calvinismus, als sich die Gereformeerde Kerken von der Nederlands-Hervormde Kerk (NH) trennten. Gereformeerd war ursprünglich nur ein anderes Wort für den Niederlandismus hervormd (beides heißt „reformiert“), nun nannten sich so diejenigen, die die NH-Kirche zu wenig streng und rechtgläubig fanden. Innerhalb der quasi staatskirchlichen NH-Kirche blieb der Gereformeerde Bond, der zum Teil strenger als die Gereformeerde Kerken ist, hinzu kommen weitere strenggläubige Gruppen wie die Oud-Gereformeerden. Seit 2004 gibt es die Protestantische Kirche in den Niederlanden, die aber auch nicht alle Gereformeerden zufriedenstellt.

Konfessionelle Parteibildungen

Ein wichtiger Impuls zur Parteienbildung in den Niederlanden war 1878/1879 die Gründung der Anti-Revolutionaire Partij (ARP) des gereformeerden Predigers Abraham Kuyper, der nicht mehr glaubte, dass der Calvinismus weiterhin der ganzen Gesellschaft den Stempel aufdrücken könne. Seine Lösung war eine Abschottung der Rechtgläubigen, um im eigenen Milieu den eigenen Ideen treu zu bleiben. Hiermit fanden sie Zustimmung bei den Katholiken, die sich für sich selbst etwas Ähnliches wünschten. Größter Katalysator dieser verzuiling wurde die Schulfrage, in der 1917 ein Kompromiss zwischen Konfessionellen und Liberalen gefunden wurde. Danach werden die konfessionellen, „besonderen“ Schulen (nicht alle „besonderen“ Schulen sind konfessionell) im gleichen Maße wie staatliche Schulen vom Staat finanziert.

In der Christelijk-Historische Unie (CHU) sammelten sich später diejenigen, die weiterhin versuchten, dem ganzen Staat ein calvinistisches Gesicht zu geben. Es ist schwierig, die beiden Parteien genau von einander abzugrenzen; antirevolutionär und christlich-historisch waren lange Zeit Synonyme. Auch persönliche Konflikte zwischen den politischen Führern spielten eine Rolle, und da der autoritäre Abraham Kuyper viele Intellektuelle und Honoratioren abschreckte, wurde er mit der ARP schließlich zum Fürsprecher der „kleinen Leute“, gereformeerden Handwerkern und Kaufleuten. In den 1960er Jahren hatte die ARP einen starken sozialen Flügel. Die CHU galt lange als wirtschaftlich konservativer und auch von Adligen dominiert; sie war eher mit der NH-Kirche als mit den Gereformeerde Kerken verbunden.

Die klassischen Säulen

Dem Pluralismus-Forscher Arend Lijphart[1] zufolge kam es nun zu den folgenden Säulen:

  • Der Katholischen Säule gehörten so gut wie ausschließlich die Römisch-Katholischen an. Parteien: KVP, kleinere Splittergruppen wie die KNP.
  • Eine Protestantisch-Christliche Säule vereinte neben den Gereformeerden das orthodoxere Drittel der NH-Kirche. Parteien: Vor allem für die Gereformeerden die ARP, sonst die CHU. Daneben gibt es bis heute kleinere strengreligiöse Parteien wie die SGP (gegründet 1918).
  • In der Allgemeinen oder auch Neutralen Säule fanden sich alle onkerkelijken („Unkirchlichen“) und die liberaleren sowie die wenig kirchengebundenen NH-Anhänger wieder, außerdem die übrigen Gläubigen wie Juden, Lutheraner, Baptisten, Remonstranten und andere. Parteien: Die liberalen Parteien wie VVD und D'66; zum Teil die CHU; sonstige Kleinparteien.
  • Manche Darstellungen gliedern aus der Allgemeinen Säule eine Sozialistische Säule der Arbeiter aus, aus sozialen / politischen Gründen. Parteien: PvdA, früher auch CPN und PSP.

Ein Angehöriger beispielsweise der Katholischen Säule war also ein Niederländer, der KVP wählte, den Katholieke Radio-Omroep hörte (später auch im Fernsehen sah) und eine katholische Zeitung las: etwa De Tijd oder De Maasbode, als Arbeiter wahrscheinlich die Volkskrant. Als letzterer schloss er sich einer katholischen Gewerkschaft im katholischen Dachverband NKV an. Seine Kinder besuchten katholische Schulen und danach die katholische Universität in Nimwegen. Auch Freizeitvereine wurden nach Säulen getrennt organisiert, vom Sportclub bis zur Esperanto-Vereinigung.

Kritik am Säulenmodell und Auflösung der „Versäulung“

Anteile der Religionen an der Gesamtbevölkerung 2006: orange die Konfessionslosen, blau die Katholiken und danach in rot die Protestanten und in gelb die Moslems.

Die maßgebliche Schrift zur Theorie der verzuiling als spezifisch niederländischem Pluralismus stammt von Arend Lijphart (1968), der damals bereits die Auflösung des Systems beschrieb. Mittlerweile gibt es Kritik an seiner Darstellung, beispielsweise von Jan van Putten, der die vierte oder Allgemeine Säule eher für ein ideologisches Konstrukt hält.

Vergleicht man die verzuilung mit dem Partikularismus östlich der Grenze, so findet man in Deutschland ebenfalls katholische und sozialistische Subkulturen bzw. Gegeneliten (vor allem im Kaiserreich und der Weimarer Republik mit der katholischen Zentrumspartei), weniger jedoch eine „protestantische Säule“. Dies ist vielleicht auf das Luthertum zurückzuführen, das nicht so streng wie die Gereformeerden bzw. die Orthodoxen der NH-Kirche war und daher die Liberalen weniger abgestoßen hat.

Das niederländische System der verzuiling gehört großteils der Vergangenheit an, erklärt aber immer noch einige Phänomene des Parteiensystems wie etwa die beiden kleinen religiösen Parteien, die „Blutgruppen“ (Strömungen, also antirevolutionär, katholisch usw.) im CDA und das Gründungsmotiv von PvdA und Democraten 66.

Im Zuge der Erosion der früher fest gefügten sozialen und weltanschaulichen Milieus kam es während der letzten Jahrzehnte jedoch zur Gründung zahlreicher neuer Parteien, darunter auch Ein-Thema-Parteien, Regionalparteien und populistische Bewegungen. Die bisher erfolgreichsten neuen Gruppierungen waren die linksliberalen D’66, die rechtspopulistische LPF und die linke, früher maoistische SP. Da gesellschaftliche Traditionen und Bindungen weiterhin an Kraft verlieren, kommt es zu einer steigenden Zahl von Wechselwählern.

Weitere Länder

In Belgien gibt es keine protestantische Säule, dort gibt oder gab es eine katholische Säule, eine sozialistische Säule und eine liberale Säule, vor allem aber eine flämische und eine wallonische.

Im Libanon hat die sogar verfassungsrechtliche starke Versäulung den Bürgerkrieg nicht verhindern können.

Literatur

  • Arie L. Molendijk: Versäulung in den Niederlanden: Begriff, Theorie, lieu de mémoire, in: Friedrich Wilhlem Graf / Klaus Große Kracht (Hg.): Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert. Bölau: Köln u.a. 2007, 307-327 [= Industrielle Welt 73] ISBN 978-3-412-20030-5.
  • Paul Luyks: Versäulung in den Niederlanden. Eine kritische Betrachtung der neueren Historiographie, in: Zentrum für Niederlande-Studien Jahrbuch 2 (1991), 39-51.
  • Rudolf Steininger: Polarisierung und Integration. Vergleichende Untersuchung der strukturellen Versäulung der Gesellschaft in den Niederlanden und in Österreich. Hain, Meisenheim am Glan 1975, [= Politik und Wähler 14] (= Univ. zu Köln, Phil. Fak., Diss. o.J.) ISBN 3-445-01233-4.
  • Jakob Pieter Kruijt / Walter Goddijn: Versäulung und Entsäulung als soziale Prozesse, in: Joachim Matthes (Hg.): Soziologie und Gesellschaft in den Niederlanden. Luchterhand: Neuwied, Berlin 1965, 115-149.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Siehe: Arend Lijphart, Verzuiling, pacificatie en kentering in de Nederlandse politiek, 9. Auflage, Haarlem 1992.

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